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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

da der Arbeiter voraussichtlich dabei weniger der Gebende als der Empfangende
sein wird, läßt angeblich zu lange ans sich warten, und endlich wird an dem
ganzen Reformwerk getadelt, daß es nur die kleinen äußern Schäden zu besei¬
tigen suche, die Wurzel des Übels aber gänzlich unberührt lasse; dem Arbeiter¬
stande könne aber dauernd und wirksam nur dann geholfen werden, wenn ihm
eine gegen unverschuldete Not gesicherte Existenz gewährleistet werde.

Obwohl der sozialistische Pferdefuß hier überall hervortritt, so läßt sich
doch kaum leugnen, daß diese Unsicherheit und das Unzulängliche der wirtschaft¬
lichen Lage des Lohnarbeiters in Deutschland wie in den übrigen Industrie¬
ländern den Urquell der sozialistischen Bewegung bildet, zumal da ein ver¬
gleichender Rückblick ans die letzten Jahre zeigt, wie mit dem reißenden Wachstum?
des Sozialismus eine p eriodisch oder dauernd zunehmende Arbeits- und Ver¬
dienstnot parallel geht. In der That läßt sich kaum etwas denken, was mehr
verbittern und einer böswilligen Agitation besser Vorschub leisten könnte, als wenn
jemand, der arbeitsfähig und arbeitslustig ist, trotz des redlichsten Willens und
Bemühens keinen oder nur unzureichenden Verdienst zu finden vermag und sich
mit den Seinen dem Elend preisgegeben sieht. Hier würden also die Hebel an¬
zusetzen sein, um dem Sozialismus seinen eigentlichen Nährboden zu entziehen --
eine Aufgabe, bei der wieder Selbsthilfe und Staatshilfe auf einander ange¬
wiesen sind, wenn Ersprießliches zustande kommen soll.

Während früher der Arbeiter in dem wirtschaftlichen Organismus ein ebenso
nützliches als nötiges Bindeglied gewesen war, hat die Gewerbe- und Koalitions¬
freiheit auf den Arbeiterstand nicht nur desorganisatorisch gewirkt, sondern denselben
gegenüber dem natürlichen Übergewicht der Kapitalisten an Vermögen, Intelli¬
genz und gegenseitiger Verständigung in eine doppelt hilflose Lage versetzt. Es
ergab sich eine soziale Disharmonie, welche die "wirtschaftliche Kriegführung"
zur notwendigen Folge hatte, d. h. die Ära der Massenstreiks heraufbeschwor.
Bei der ohnehin schon zunehmenden wechselseitigen Entfremdung wird aber eine
Verständigung beider Teile hier umso schwieriger, als die Arbeiter bei ihrer
mangelhaften Einsicht die Grenzen des wirtschaftlich Möglichen nicht immer zu
erkennen und bei dem Mangel gesetzlich anerkannter Organisationen die erfor¬
derlichen Bürgschaften für zuverlässige Aufrechterhaltung etwaiger Vereinbarungen
nicht zu bieten vermögen. Auf diese Momente sind z. B. die größern Berliner
Streiks wesentlich zurückzuführen.

neuerdings hat nun diese wirtschaftliche Kriegführung an Ausdehnung und
Charakter sich so bedenklich gestaltet, daß sich der Staat auf diese bloße Zu-
schaucrrolle kaum mehr wird beschränken können; nicht allein daß sie einen immer
gewaltthätigercn Charakter annimmt, sucht sie durch straffe Zentralisation eine
dem Kapital möglichst ebenbürtige Macht zu erreichen, um dieses durch ganze
GeWerke hindurch gleichzeitig ins Feuer zu nehmen. Damit hat aber die Koali¬
tionsfreiheit das bloß privatrechtliche Gebiet, für welches sie ursprünglich zu-


Die moderne Arbeiterbewegung.

da der Arbeiter voraussichtlich dabei weniger der Gebende als der Empfangende
sein wird, läßt angeblich zu lange ans sich warten, und endlich wird an dem
ganzen Reformwerk getadelt, daß es nur die kleinen äußern Schäden zu besei¬
tigen suche, die Wurzel des Übels aber gänzlich unberührt lasse; dem Arbeiter¬
stande könne aber dauernd und wirksam nur dann geholfen werden, wenn ihm
eine gegen unverschuldete Not gesicherte Existenz gewährleistet werde.

Obwohl der sozialistische Pferdefuß hier überall hervortritt, so läßt sich
doch kaum leugnen, daß diese Unsicherheit und das Unzulängliche der wirtschaft¬
lichen Lage des Lohnarbeiters in Deutschland wie in den übrigen Industrie¬
ländern den Urquell der sozialistischen Bewegung bildet, zumal da ein ver¬
gleichender Rückblick ans die letzten Jahre zeigt, wie mit dem reißenden Wachstum?
des Sozialismus eine p eriodisch oder dauernd zunehmende Arbeits- und Ver¬
dienstnot parallel geht. In der That läßt sich kaum etwas denken, was mehr
verbittern und einer böswilligen Agitation besser Vorschub leisten könnte, als wenn
jemand, der arbeitsfähig und arbeitslustig ist, trotz des redlichsten Willens und
Bemühens keinen oder nur unzureichenden Verdienst zu finden vermag und sich
mit den Seinen dem Elend preisgegeben sieht. Hier würden also die Hebel an¬
zusetzen sein, um dem Sozialismus seinen eigentlichen Nährboden zu entziehen —
eine Aufgabe, bei der wieder Selbsthilfe und Staatshilfe auf einander ange¬
wiesen sind, wenn Ersprießliches zustande kommen soll.

Während früher der Arbeiter in dem wirtschaftlichen Organismus ein ebenso
nützliches als nötiges Bindeglied gewesen war, hat die Gewerbe- und Koalitions¬
freiheit auf den Arbeiterstand nicht nur desorganisatorisch gewirkt, sondern denselben
gegenüber dem natürlichen Übergewicht der Kapitalisten an Vermögen, Intelli¬
genz und gegenseitiger Verständigung in eine doppelt hilflose Lage versetzt. Es
ergab sich eine soziale Disharmonie, welche die „wirtschaftliche Kriegführung"
zur notwendigen Folge hatte, d. h. die Ära der Massenstreiks heraufbeschwor.
Bei der ohnehin schon zunehmenden wechselseitigen Entfremdung wird aber eine
Verständigung beider Teile hier umso schwieriger, als die Arbeiter bei ihrer
mangelhaften Einsicht die Grenzen des wirtschaftlich Möglichen nicht immer zu
erkennen und bei dem Mangel gesetzlich anerkannter Organisationen die erfor¬
derlichen Bürgschaften für zuverlässige Aufrechterhaltung etwaiger Vereinbarungen
nicht zu bieten vermögen. Auf diese Momente sind z. B. die größern Berliner
Streiks wesentlich zurückzuführen.

neuerdings hat nun diese wirtschaftliche Kriegführung an Ausdehnung und
Charakter sich so bedenklich gestaltet, daß sich der Staat auf diese bloße Zu-
schaucrrolle kaum mehr wird beschränken können; nicht allein daß sie einen immer
gewaltthätigercn Charakter annimmt, sucht sie durch straffe Zentralisation eine
dem Kapital möglichst ebenbürtige Macht zu erreichen, um dieses durch ganze
GeWerke hindurch gleichzeitig ins Feuer zu nehmen. Damit hat aber die Koali¬
tionsfreiheit das bloß privatrechtliche Gebiet, für welches sie ursprünglich zu-


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[0117] Die moderne Arbeiterbewegung. da der Arbeiter voraussichtlich dabei weniger der Gebende als der Empfangende sein wird, läßt angeblich zu lange ans sich warten, und endlich wird an dem ganzen Reformwerk getadelt, daß es nur die kleinen äußern Schäden zu besei¬ tigen suche, die Wurzel des Übels aber gänzlich unberührt lasse; dem Arbeiter¬ stande könne aber dauernd und wirksam nur dann geholfen werden, wenn ihm eine gegen unverschuldete Not gesicherte Existenz gewährleistet werde. Obwohl der sozialistische Pferdefuß hier überall hervortritt, so läßt sich doch kaum leugnen, daß diese Unsicherheit und das Unzulängliche der wirtschaft¬ lichen Lage des Lohnarbeiters in Deutschland wie in den übrigen Industrie¬ ländern den Urquell der sozialistischen Bewegung bildet, zumal da ein ver¬ gleichender Rückblick ans die letzten Jahre zeigt, wie mit dem reißenden Wachstum? des Sozialismus eine p eriodisch oder dauernd zunehmende Arbeits- und Ver¬ dienstnot parallel geht. In der That läßt sich kaum etwas denken, was mehr verbittern und einer böswilligen Agitation besser Vorschub leisten könnte, als wenn jemand, der arbeitsfähig und arbeitslustig ist, trotz des redlichsten Willens und Bemühens keinen oder nur unzureichenden Verdienst zu finden vermag und sich mit den Seinen dem Elend preisgegeben sieht. Hier würden also die Hebel an¬ zusetzen sein, um dem Sozialismus seinen eigentlichen Nährboden zu entziehen — eine Aufgabe, bei der wieder Selbsthilfe und Staatshilfe auf einander ange¬ wiesen sind, wenn Ersprießliches zustande kommen soll. Während früher der Arbeiter in dem wirtschaftlichen Organismus ein ebenso nützliches als nötiges Bindeglied gewesen war, hat die Gewerbe- und Koalitions¬ freiheit auf den Arbeiterstand nicht nur desorganisatorisch gewirkt, sondern denselben gegenüber dem natürlichen Übergewicht der Kapitalisten an Vermögen, Intelli¬ genz und gegenseitiger Verständigung in eine doppelt hilflose Lage versetzt. Es ergab sich eine soziale Disharmonie, welche die „wirtschaftliche Kriegführung" zur notwendigen Folge hatte, d. h. die Ära der Massenstreiks heraufbeschwor. Bei der ohnehin schon zunehmenden wechselseitigen Entfremdung wird aber eine Verständigung beider Teile hier umso schwieriger, als die Arbeiter bei ihrer mangelhaften Einsicht die Grenzen des wirtschaftlich Möglichen nicht immer zu erkennen und bei dem Mangel gesetzlich anerkannter Organisationen die erfor¬ derlichen Bürgschaften für zuverlässige Aufrechterhaltung etwaiger Vereinbarungen nicht zu bieten vermögen. Auf diese Momente sind z. B. die größern Berliner Streiks wesentlich zurückzuführen. neuerdings hat nun diese wirtschaftliche Kriegführung an Ausdehnung und Charakter sich so bedenklich gestaltet, daß sich der Staat auf diese bloße Zu- schaucrrolle kaum mehr wird beschränken können; nicht allein daß sie einen immer gewaltthätigercn Charakter annimmt, sucht sie durch straffe Zentralisation eine dem Kapital möglichst ebenbürtige Macht zu erreichen, um dieses durch ganze GeWerke hindurch gleichzeitig ins Feuer zu nehmen. Damit hat aber die Koali¬ tionsfreiheit das bloß privatrechtliche Gebiet, für welches sie ursprünglich zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/117>, abgerufen am 28.09.2024.