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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

sanken kaum erbringen, vielmehr nur aus äußern Anzeichen, wie sie u, a> in
den verschiednen Leipziger Hochverratsprozessen zu Tage getreten sind, ent¬
sprechende Rückschlüsse machen. Darnach dürften vornehmlich die größern In¬
dustriezentren und einzelne Großstädte einen empfänglichen Boden für diese
Richtung der Arbeiterbewegung bieten, wenngleich sich Spuren davon auch
anderswo bemerkbar machen. Im großen und ganzen aber vermag der deutsche
Volkscharakter dem Anarchismus keine Sympathien abzugewinnen, und hierfür
dürfte u. a. eine Bestätigung darin zu finden sein, daß größere Arbeitsein¬
stellungen in Deutschland bisher noch nie zu solche" Gewaltthätigkeiten wie in
Frankreich, Belgien und Nordamerika geführt haben; freilich kommt hierbei auch
in Betracht, daß Deutschland als einer der jüngsten Industriestaaten mit den ver¬
hältnismäßig niedrigsten Produktionskosten, also auch von Anfang an mit niedrigen
Löhne" in den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf eintreten mußte, während die
ältern Industrieländer allmählich ihre Produktionskosten und damit den früher
verhältnismäßig höhern 8wnäg.ra ok Mo ihres Arbeiterstandes hembzudrückeu ge¬
zwungen waren. Daher die größere Verbitterung der dortigen Arbeiter, ihr
Haß gegen die deutschen Rivalen und die Vorliebe der Arbeitgeber für diese.

Es wäre aber völlig verkehrt, in der geringen Ausbreitung des Anarchismus
einen Maßstab sür die Abschätzung der anarchistischen Gefahr erblicken zu wollen,
denn die hohe Gemeingefährlichkeit dieses Elements ist weit weniger in der Zahl
der Anhängerschaft als vielmehr in dem verbrecherischen Fanatismus der Ein¬
zelnen zu finden, wofür die typischen Erscheinungen eines Reinsdorf, Stell¬
macher, Kammerer, Lichte und Konsorten die besten Belege bieten. Gegen solche
Elemente vermögen sich daher Staat und Gesellschaft kaum anders zu schützen,
als durch strengste Überwachung und drakonische Strafen.

Aus dem Vorausgeschickten ergiebt sich, daß die bloßen Repressivmittel gegen¬
über dem steten Wachstum der Sozialdemokratie nach den bisherigen Erfahrungen
durchschlagende Erfolge weder aufzuweisen noch in Aussicht zu stellen vermögen.
Leider läßt sich von den bisherigen positiven Maßnahmen zu Gunsten des Arbeiter¬
standes "ach der Stimmung in den beteiligten Kreisen kaum das Gegenteil be¬
haupten. Wenn auch von unbefangener Seite die zu Grunde liegende wohlwollende
Absicht nicht verkannt wird, so scheinen doch die Art und Weise der Ausführung
und der bisherige Fortgang der Sozialreform immerhin eine gewisse Enttäuschung
gebracht zu haben. So wird es als eine bittere Zurücksetzung des Arbeiter¬
standes empfunden, daß bei der Unfallversicherung den Arbeitgebern die Berufs¬
organisation gewährt ist, welche bei der Krankenversicherung den Arbeitern ver¬
sagt worden ist; ferner glaubt man sich durch die Abwälzung der Unfälle während
der Karenzzeit auf die Krankenkassen, obwohl solche lediglich der Industrie,
d. h. den Arbeitgebern zur Last fielen, erheblich geschädigt und vermag in den
technischen Zweckmäßigkeitsgründen keinen ausreichenden Grund hierfür zu er¬
blicken. Die Invalidenversicherung wieder, von der man noch das meiste hofft,


Die moderne Arbeiterbewegung.

sanken kaum erbringen, vielmehr nur aus äußern Anzeichen, wie sie u, a> in
den verschiednen Leipziger Hochverratsprozessen zu Tage getreten sind, ent¬
sprechende Rückschlüsse machen. Darnach dürften vornehmlich die größern In¬
dustriezentren und einzelne Großstädte einen empfänglichen Boden für diese
Richtung der Arbeiterbewegung bieten, wenngleich sich Spuren davon auch
anderswo bemerkbar machen. Im großen und ganzen aber vermag der deutsche
Volkscharakter dem Anarchismus keine Sympathien abzugewinnen, und hierfür
dürfte u. a. eine Bestätigung darin zu finden sein, daß größere Arbeitsein¬
stellungen in Deutschland bisher noch nie zu solche» Gewaltthätigkeiten wie in
Frankreich, Belgien und Nordamerika geführt haben; freilich kommt hierbei auch
in Betracht, daß Deutschland als einer der jüngsten Industriestaaten mit den ver¬
hältnismäßig niedrigsten Produktionskosten, also auch von Anfang an mit niedrigen
Löhne» in den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf eintreten mußte, während die
ältern Industrieländer allmählich ihre Produktionskosten und damit den früher
verhältnismäßig höhern 8wnäg.ra ok Mo ihres Arbeiterstandes hembzudrückeu ge¬
zwungen waren. Daher die größere Verbitterung der dortigen Arbeiter, ihr
Haß gegen die deutschen Rivalen und die Vorliebe der Arbeitgeber für diese.

Es wäre aber völlig verkehrt, in der geringen Ausbreitung des Anarchismus
einen Maßstab sür die Abschätzung der anarchistischen Gefahr erblicken zu wollen,
denn die hohe Gemeingefährlichkeit dieses Elements ist weit weniger in der Zahl
der Anhängerschaft als vielmehr in dem verbrecherischen Fanatismus der Ein¬
zelnen zu finden, wofür die typischen Erscheinungen eines Reinsdorf, Stell¬
macher, Kammerer, Lichte und Konsorten die besten Belege bieten. Gegen solche
Elemente vermögen sich daher Staat und Gesellschaft kaum anders zu schützen,
als durch strengste Überwachung und drakonische Strafen.

Aus dem Vorausgeschickten ergiebt sich, daß die bloßen Repressivmittel gegen¬
über dem steten Wachstum der Sozialdemokratie nach den bisherigen Erfahrungen
durchschlagende Erfolge weder aufzuweisen noch in Aussicht zu stellen vermögen.
Leider läßt sich von den bisherigen positiven Maßnahmen zu Gunsten des Arbeiter¬
standes »ach der Stimmung in den beteiligten Kreisen kaum das Gegenteil be¬
haupten. Wenn auch von unbefangener Seite die zu Grunde liegende wohlwollende
Absicht nicht verkannt wird, so scheinen doch die Art und Weise der Ausführung
und der bisherige Fortgang der Sozialreform immerhin eine gewisse Enttäuschung
gebracht zu haben. So wird es als eine bittere Zurücksetzung des Arbeiter¬
standes empfunden, daß bei der Unfallversicherung den Arbeitgebern die Berufs¬
organisation gewährt ist, welche bei der Krankenversicherung den Arbeitern ver¬
sagt worden ist; ferner glaubt man sich durch die Abwälzung der Unfälle während
der Karenzzeit auf die Krankenkassen, obwohl solche lediglich der Industrie,
d. h. den Arbeitgebern zur Last fielen, erheblich geschädigt und vermag in den
technischen Zweckmäßigkeitsgründen keinen ausreichenden Grund hierfür zu er¬
blicken. Die Invalidenversicherung wieder, von der man noch das meiste hofft,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/116>, abgerufen am 28.09.2024.