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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

Ständigkeit halber hier noch kurze Erwähnung finden mag. Sie ist kaum ein
Jahr alt und nahm anfänglich ihren Ausgang von den bekannten Reform-
bestrebungen der Frau Guillaume-Schack; unter steigender Einwirkung von sozial¬
demokratischer Seite trat sie aber vollständig ans das politische, insbesondre
sozialpolitische Gebiet über und drohte zu einem neuen gefährlichen Faktor der
sozialdemokratischen Bewegung zu werden. So gelang es ihr schon in kurzem,
in einer Reihe größerer Städte, wie München, Nürnberg, Stuttgart, Dresden,
Chemnitz, Hamburg, Bremen, Stettin, Danzig u. a. O., festen Fuß zu fassen,
wenn auch viele der betreffende" Vereine auf Grund der vcreiusgesetzlicheu Be¬
stimmungen alsbald wieder aufgelöst oder schou im Keime unterdrückt wurden.
Aus dem lebhaften Eintreten der Sozialdemokratie, insbesondre auch einzelner
Reichstagsabgeordneten. wie Singer und Kayser, für diese Bewegung muß mau
aber die Überzeugung gewinnen, daß diese Partei in der Verbreitung ihrer
Ideen unter den Frauenkreisen -- übrigens nur die Ausführung eines Pro¬
grammpunktes des Kopenhagener Kongresses -- ein besonders geeignetes Mittel
erblickt, die Opferfreudigkeit ihrer Anhänger durch häusliche Rücksichten weniger
gehemmt, vielmehr wesentlich gefördert zu sehen. Die gemeingefährliche Be-
deutuug dieser Bewegung, welche seit Neujahr in dem von der Fran Guillaume-
Schack herausgegebene", inzwischen nach Z 11 des Sozialisteugesctzes verbotenen
Wochenblatt "Die Staatsbürgerin" einen festen Mittelpunkt gewonnen hatte,
äußert sich vornehmlich in einer systematischen Verhetzung der Arbeiterinueutreise
durch tendenziöse Hinweisung auf ihre wirtschaftlich wie politisch unselbständige
und geknechtete Lage. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Hauptaufwiegler
bekannte sozialdemokratische Agitatoren oder, wie in Berlin, zum Teil auch Frauen
sind, welche schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes in der sozialdemokratischen
Bewegung eine Rolle gespielt haben. Da der politisch-sozialistische Charakter
der Berliner Arbeiterinucnvereiue unter der Einwirkung solcher Elemente ganz
offenbar geworden war und die starke Erregung der Arbeiterinnenkreise zu zahl¬
reichen Versammlungsanflvsnngcn auf Grund des Sozialisteugesctzes oder wegen
Tumultes führte, so konnte die vorläufige Schließung dieser Vereine nach Z 8
des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 nicht weiter überraschen. Bei dem gleich¬
artigen Charakter, den diese Bewegung allerorten zur Schau trägt, dürfte eine
solche Abwehr umsomehr geboten sein, als von der notorische" Unreife und An
selbstäudigkcii der sogenannten Führerinnen, welche insgesamt am sozialdemo¬
kratischen Gängelbande sind, eine irgendwie ersprießliche Forderung der Arbei-
terinneninteressen am allerwenigsten zu erwarten ist.

Über die anarchistische Bewegung endlich, welche die der Sozialdemokratie
dnrch das Neichsgesetz vom 21. Oktober 1878 aufgezwungene Reserve zur äußern
Erscheinung gebracht hat, lassen sich bei der grundsätzlichen Wahrung des strengsten
Geheimnisses und der völlig individuellen Propaganda ihrer Anhänger irgend ^
wie zuverlässige oder gar statistische Nachweise ihrer Ausbreitung und Wirt-


Die moderne Arbeiterbewegung.

Ständigkeit halber hier noch kurze Erwähnung finden mag. Sie ist kaum ein
Jahr alt und nahm anfänglich ihren Ausgang von den bekannten Reform-
bestrebungen der Frau Guillaume-Schack; unter steigender Einwirkung von sozial¬
demokratischer Seite trat sie aber vollständig ans das politische, insbesondre
sozialpolitische Gebiet über und drohte zu einem neuen gefährlichen Faktor der
sozialdemokratischen Bewegung zu werden. So gelang es ihr schon in kurzem,
in einer Reihe größerer Städte, wie München, Nürnberg, Stuttgart, Dresden,
Chemnitz, Hamburg, Bremen, Stettin, Danzig u. a. O., festen Fuß zu fassen,
wenn auch viele der betreffende« Vereine auf Grund der vcreiusgesetzlicheu Be¬
stimmungen alsbald wieder aufgelöst oder schou im Keime unterdrückt wurden.
Aus dem lebhaften Eintreten der Sozialdemokratie, insbesondre auch einzelner
Reichstagsabgeordneten. wie Singer und Kayser, für diese Bewegung muß mau
aber die Überzeugung gewinnen, daß diese Partei in der Verbreitung ihrer
Ideen unter den Frauenkreisen — übrigens nur die Ausführung eines Pro¬
grammpunktes des Kopenhagener Kongresses — ein besonders geeignetes Mittel
erblickt, die Opferfreudigkeit ihrer Anhänger durch häusliche Rücksichten weniger
gehemmt, vielmehr wesentlich gefördert zu sehen. Die gemeingefährliche Be-
deutuug dieser Bewegung, welche seit Neujahr in dem von der Fran Guillaume-
Schack herausgegebene», inzwischen nach Z 11 des Sozialisteugesctzes verbotenen
Wochenblatt „Die Staatsbürgerin" einen festen Mittelpunkt gewonnen hatte,
äußert sich vornehmlich in einer systematischen Verhetzung der Arbeiterinueutreise
durch tendenziöse Hinweisung auf ihre wirtschaftlich wie politisch unselbständige
und geknechtete Lage. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Hauptaufwiegler
bekannte sozialdemokratische Agitatoren oder, wie in Berlin, zum Teil auch Frauen
sind, welche schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes in der sozialdemokratischen
Bewegung eine Rolle gespielt haben. Da der politisch-sozialistische Charakter
der Berliner Arbeiterinucnvereiue unter der Einwirkung solcher Elemente ganz
offenbar geworden war und die starke Erregung der Arbeiterinnenkreise zu zahl¬
reichen Versammlungsanflvsnngcn auf Grund des Sozialisteugesctzes oder wegen
Tumultes führte, so konnte die vorläufige Schließung dieser Vereine nach Z 8
des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 nicht weiter überraschen. Bei dem gleich¬
artigen Charakter, den diese Bewegung allerorten zur Schau trägt, dürfte eine
solche Abwehr umsomehr geboten sein, als von der notorische» Unreife und An
selbstäudigkcii der sogenannten Führerinnen, welche insgesamt am sozialdemo¬
kratischen Gängelbande sind, eine irgendwie ersprießliche Forderung der Arbei-
terinneninteressen am allerwenigsten zu erwarten ist.

Über die anarchistische Bewegung endlich, welche die der Sozialdemokratie
dnrch das Neichsgesetz vom 21. Oktober 1878 aufgezwungene Reserve zur äußern
Erscheinung gebracht hat, lassen sich bei der grundsätzlichen Wahrung des strengsten
Geheimnisses und der völlig individuellen Propaganda ihrer Anhänger irgend ^
wie zuverlässige oder gar statistische Nachweise ihrer Ausbreitung und Wirt-


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[0115] Die moderne Arbeiterbewegung. Ständigkeit halber hier noch kurze Erwähnung finden mag. Sie ist kaum ein Jahr alt und nahm anfänglich ihren Ausgang von den bekannten Reform- bestrebungen der Frau Guillaume-Schack; unter steigender Einwirkung von sozial¬ demokratischer Seite trat sie aber vollständig ans das politische, insbesondre sozialpolitische Gebiet über und drohte zu einem neuen gefährlichen Faktor der sozialdemokratischen Bewegung zu werden. So gelang es ihr schon in kurzem, in einer Reihe größerer Städte, wie München, Nürnberg, Stuttgart, Dresden, Chemnitz, Hamburg, Bremen, Stettin, Danzig u. a. O., festen Fuß zu fassen, wenn auch viele der betreffende« Vereine auf Grund der vcreiusgesetzlicheu Be¬ stimmungen alsbald wieder aufgelöst oder schou im Keime unterdrückt wurden. Aus dem lebhaften Eintreten der Sozialdemokratie, insbesondre auch einzelner Reichstagsabgeordneten. wie Singer und Kayser, für diese Bewegung muß mau aber die Überzeugung gewinnen, daß diese Partei in der Verbreitung ihrer Ideen unter den Frauenkreisen — übrigens nur die Ausführung eines Pro¬ grammpunktes des Kopenhagener Kongresses — ein besonders geeignetes Mittel erblickt, die Opferfreudigkeit ihrer Anhänger durch häusliche Rücksichten weniger gehemmt, vielmehr wesentlich gefördert zu sehen. Die gemeingefährliche Be- deutuug dieser Bewegung, welche seit Neujahr in dem von der Fran Guillaume- Schack herausgegebene», inzwischen nach Z 11 des Sozialisteugesctzes verbotenen Wochenblatt „Die Staatsbürgerin" einen festen Mittelpunkt gewonnen hatte, äußert sich vornehmlich in einer systematischen Verhetzung der Arbeiterinueutreise durch tendenziöse Hinweisung auf ihre wirtschaftlich wie politisch unselbständige und geknechtete Lage. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Hauptaufwiegler bekannte sozialdemokratische Agitatoren oder, wie in Berlin, zum Teil auch Frauen sind, welche schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes in der sozialdemokratischen Bewegung eine Rolle gespielt haben. Da der politisch-sozialistische Charakter der Berliner Arbeiterinucnvereiue unter der Einwirkung solcher Elemente ganz offenbar geworden war und die starke Erregung der Arbeiterinnenkreise zu zahl¬ reichen Versammlungsanflvsnngcn auf Grund des Sozialisteugesctzes oder wegen Tumultes führte, so konnte die vorläufige Schließung dieser Vereine nach Z 8 des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 nicht weiter überraschen. Bei dem gleich¬ artigen Charakter, den diese Bewegung allerorten zur Schau trägt, dürfte eine solche Abwehr umsomehr geboten sein, als von der notorische» Unreife und An selbstäudigkcii der sogenannten Führerinnen, welche insgesamt am sozialdemo¬ kratischen Gängelbande sind, eine irgendwie ersprießliche Forderung der Arbei- terinneninteressen am allerwenigsten zu erwarten ist. Über die anarchistische Bewegung endlich, welche die der Sozialdemokratie dnrch das Neichsgesetz vom 21. Oktober 1878 aufgezwungene Reserve zur äußern Erscheinung gebracht hat, lassen sich bei der grundsätzlichen Wahrung des strengsten Geheimnisses und der völlig individuellen Propaganda ihrer Anhänger irgend ^ wie zuverlässige oder gar statistische Nachweise ihrer Ausbreitung und Wirt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/115>, abgerufen am 27.09.2024.