Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Marie von Lbner-Lschenbach,

von der abonnentensammelnden Macht einer Marlitt garnicht zu sprechen. Freilich
zu einer epochemachenden Leistung hat es, soweit unsre Kenntnis der Frauen-
literatur reicht, und die ist nicht eben gering, keine der vielen mehr oder weniger
begabten Damen gebracht, und jener misoghnische literarische Skeptizismus dürfte
vielleicht doch Recht behalten, der die Macht der Frauen in unsrer Literatur
nicht ans das originale Genie, sondern auf allgemeine Bildungs- und Kultnr-
zustüudc zurückführt. Diese Literatur, welche mehr in die Breite als in die
Tiefe geht, sich mehr an die Massen der Gebildeten und ihr Unterhaltungs¬
oder Bildungsbedürfnis, als an den Einzelnen und seinen edeln Enthusiasmus
richtet, komme -- so sagen jene Skeptiker -- dem weiblichen Genius entgegen, dessen
Eigenart nicht im originale" Schaffen, sondern im Verarbeiten des Empfangncn
bestehe; reproduziren sei leichter als produziren. Zugegeben. Aber warum
den Frauen gegenüber strenger sein als den Männern? warum dort die höchsten
Maßstäbe ansetzen, die doch wahrhaftig hier nur allzugern in die Rumpel¬
kammer gestellt werden? warum nicht die gleiche Billigkeit für beide Geschlechter?
Und begnügt man sich nicht, einen Mann schon dann anzuerkennen, wenn er
als eine volle, runde, in sich selbst beruhende Individualität erscheint, gleichviel
ob sie mehr oder weniger liebenswürdig ist, ob sie um einen Zoll oder um
Turmeshöhe über die Menge hinausragt? Ja ist nicht schon eine rechte, auf
eignen Füßen stehende Individualität selbst, im Leben wie in der Literatur, ein
interessircnder Anblick? Und der kritische Beobachter der zeitgenössischen Lite¬
ratur wird überhaupt, wenn er sonst gerecht sein will, und wieder durch "die
Macht der Thatsachen" gezwungen, auf diesen Standpunkt der Betrachtung ge¬
leitet ; wir haben eine Fülle einzeln interessanter Individualitäten, jede interessant
in den Grenzen ihrer Begabung, und doch besitzen wir im ganzen keine Blüte
der Literatur.

Solcher merkwürdigen Persönlichkeiten giebt es in der gegenwärtigen Frauen¬
literatur mehrere, jedenfalls mehr als in irgendeiner frühern Periode, und allen
Respekt vor den berühmten Frauen der klassischen Zeit, die selbst die philolo¬
gischsten Germanisten und Literarhistoriker jetzt schon der Besprechung auf den,
akademischen Katheder für würdig halten: die lebenden Frauen stehen jenen
weder an Bildung des Geistes, noch an Güte des Herzens, noch an poetischer
Begabung nach. Da wäre zunächst die tief dichterische, im Verse mehr noch
als in der Prosa der Novelle anmutige, schalkhafte und eruste, nie die Weib¬
lichkeit verleugnende Marie von Olfers zu nennen, deren sehr bemerkenswerte
Dichtung "Simplizitas" die Grenzboten vor zwei Jahren ausführlich gewürdigt
haben; daß von dieser "Simplizitas" nicht öfter die Rede ist, muß auf die all¬
gemeine Scheu des lesenden Publikums vor allen und zumal vor lyrischen
Versen zurückgeführt werden. Ein kräftiges Profil weist ferner die berühmte
Verfasserin der "Memoiren einer Idealistin" auf, Malwida von Meysenbug,
die Freundin Alexander Herzens, Gottfried Kinkels. Mazzinis und Richard


Grenzboton III. 1886. ^
Marie von Lbner-Lschenbach,

von der abonnentensammelnden Macht einer Marlitt garnicht zu sprechen. Freilich
zu einer epochemachenden Leistung hat es, soweit unsre Kenntnis der Frauen-
literatur reicht, und die ist nicht eben gering, keine der vielen mehr oder weniger
begabten Damen gebracht, und jener misoghnische literarische Skeptizismus dürfte
vielleicht doch Recht behalten, der die Macht der Frauen in unsrer Literatur
nicht ans das originale Genie, sondern auf allgemeine Bildungs- und Kultnr-
zustüudc zurückführt. Diese Literatur, welche mehr in die Breite als in die
Tiefe geht, sich mehr an die Massen der Gebildeten und ihr Unterhaltungs¬
oder Bildungsbedürfnis, als an den Einzelnen und seinen edeln Enthusiasmus
richtet, komme — so sagen jene Skeptiker — dem weiblichen Genius entgegen, dessen
Eigenart nicht im originale» Schaffen, sondern im Verarbeiten des Empfangncn
bestehe; reproduziren sei leichter als produziren. Zugegeben. Aber warum
den Frauen gegenüber strenger sein als den Männern? warum dort die höchsten
Maßstäbe ansetzen, die doch wahrhaftig hier nur allzugern in die Rumpel¬
kammer gestellt werden? warum nicht die gleiche Billigkeit für beide Geschlechter?
Und begnügt man sich nicht, einen Mann schon dann anzuerkennen, wenn er
als eine volle, runde, in sich selbst beruhende Individualität erscheint, gleichviel
ob sie mehr oder weniger liebenswürdig ist, ob sie um einen Zoll oder um
Turmeshöhe über die Menge hinausragt? Ja ist nicht schon eine rechte, auf
eignen Füßen stehende Individualität selbst, im Leben wie in der Literatur, ein
interessircnder Anblick? Und der kritische Beobachter der zeitgenössischen Lite¬
ratur wird überhaupt, wenn er sonst gerecht sein will, und wieder durch „die
Macht der Thatsachen" gezwungen, auf diesen Standpunkt der Betrachtung ge¬
leitet ; wir haben eine Fülle einzeln interessanter Individualitäten, jede interessant
in den Grenzen ihrer Begabung, und doch besitzen wir im ganzen keine Blüte
der Literatur.

Solcher merkwürdigen Persönlichkeiten giebt es in der gegenwärtigen Frauen¬
literatur mehrere, jedenfalls mehr als in irgendeiner frühern Periode, und allen
Respekt vor den berühmten Frauen der klassischen Zeit, die selbst die philolo¬
gischsten Germanisten und Literarhistoriker jetzt schon der Besprechung auf den,
akademischen Katheder für würdig halten: die lebenden Frauen stehen jenen
weder an Bildung des Geistes, noch an Güte des Herzens, noch an poetischer
Begabung nach. Da wäre zunächst die tief dichterische, im Verse mehr noch
als in der Prosa der Novelle anmutige, schalkhafte und eruste, nie die Weib¬
lichkeit verleugnende Marie von Olfers zu nennen, deren sehr bemerkenswerte
Dichtung „Simplizitas" die Grenzboten vor zwei Jahren ausführlich gewürdigt
haben; daß von dieser „Simplizitas" nicht öfter die Rede ist, muß auf die all¬
gemeine Scheu des lesenden Publikums vor allen und zumal vor lyrischen
Versen zurückgeführt werden. Ein kräftiges Profil weist ferner die berühmte
Verfasserin der „Memoiren einer Idealistin" auf, Malwida von Meysenbug,
die Freundin Alexander Herzens, Gottfried Kinkels. Mazzinis und Richard


Grenzboton III. 1886. ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0081" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198801"/>
          <fw type="header" place="top"> Marie von Lbner-Lschenbach,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_225" prev="#ID_224"> von der abonnentensammelnden Macht einer Marlitt garnicht zu sprechen. Freilich<lb/>
zu einer epochemachenden Leistung hat es, soweit unsre Kenntnis der Frauen-<lb/>
literatur reicht, und die ist nicht eben gering, keine der vielen mehr oder weniger<lb/>
begabten Damen gebracht, und jener misoghnische literarische Skeptizismus dürfte<lb/>
vielleicht doch Recht behalten, der die Macht der Frauen in unsrer Literatur<lb/>
nicht ans das originale Genie, sondern auf allgemeine Bildungs- und Kultnr-<lb/>
zustüudc zurückführt. Diese Literatur, welche mehr in die Breite als in die<lb/>
Tiefe geht, sich mehr an die Massen der Gebildeten und ihr Unterhaltungs¬<lb/>
oder Bildungsbedürfnis, als an den Einzelnen und seinen edeln Enthusiasmus<lb/>
richtet, komme &#x2014; so sagen jene Skeptiker &#x2014; dem weiblichen Genius entgegen, dessen<lb/>
Eigenart nicht im originale» Schaffen, sondern im Verarbeiten des Empfangncn<lb/>
bestehe; reproduziren sei leichter als produziren. Zugegeben. Aber warum<lb/>
den Frauen gegenüber strenger sein als den Männern? warum dort die höchsten<lb/>
Maßstäbe ansetzen, die doch wahrhaftig hier nur allzugern in die Rumpel¬<lb/>
kammer gestellt werden? warum nicht die gleiche Billigkeit für beide Geschlechter?<lb/>
Und begnügt man sich nicht, einen Mann schon dann anzuerkennen, wenn er<lb/>
als eine volle, runde, in sich selbst beruhende Individualität erscheint, gleichviel<lb/>
ob sie mehr oder weniger liebenswürdig ist, ob sie um einen Zoll oder um<lb/>
Turmeshöhe über die Menge hinausragt? Ja ist nicht schon eine rechte, auf<lb/>
eignen Füßen stehende Individualität selbst, im Leben wie in der Literatur, ein<lb/>
interessircnder Anblick? Und der kritische Beobachter der zeitgenössischen Lite¬<lb/>
ratur wird überhaupt, wenn er sonst gerecht sein will, und wieder durch &#x201E;die<lb/>
Macht der Thatsachen" gezwungen, auf diesen Standpunkt der Betrachtung ge¬<lb/>
leitet ; wir haben eine Fülle einzeln interessanter Individualitäten, jede interessant<lb/>
in den Grenzen ihrer Begabung, und doch besitzen wir im ganzen keine Blüte<lb/>
der Literatur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_226" next="#ID_227"> Solcher merkwürdigen Persönlichkeiten giebt es in der gegenwärtigen Frauen¬<lb/>
literatur mehrere, jedenfalls mehr als in irgendeiner frühern Periode, und allen<lb/>
Respekt vor den berühmten Frauen der klassischen Zeit, die selbst die philolo¬<lb/>
gischsten Germanisten und Literarhistoriker jetzt schon der Besprechung auf den,<lb/>
akademischen Katheder für würdig halten: die lebenden Frauen stehen jenen<lb/>
weder an Bildung des Geistes, noch an Güte des Herzens, noch an poetischer<lb/>
Begabung nach. Da wäre zunächst die tief dichterische, im Verse mehr noch<lb/>
als in der Prosa der Novelle anmutige, schalkhafte und eruste, nie die Weib¬<lb/>
lichkeit verleugnende Marie von Olfers zu nennen, deren sehr bemerkenswerte<lb/>
Dichtung &#x201E;Simplizitas" die Grenzboten vor zwei Jahren ausführlich gewürdigt<lb/>
haben; daß von dieser &#x201E;Simplizitas" nicht öfter die Rede ist, muß auf die all¬<lb/>
gemeine Scheu des lesenden Publikums vor allen und zumal vor lyrischen<lb/>
Versen zurückgeführt werden. Ein kräftiges Profil weist ferner die berühmte<lb/>
Verfasserin der &#x201E;Memoiren einer Idealistin" auf, Malwida von Meysenbug,<lb/>
die Freundin Alexander Herzens, Gottfried Kinkels. Mazzinis und Richard</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboton III. 1886. ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0081] Marie von Lbner-Lschenbach, von der abonnentensammelnden Macht einer Marlitt garnicht zu sprechen. Freilich zu einer epochemachenden Leistung hat es, soweit unsre Kenntnis der Frauen- literatur reicht, und die ist nicht eben gering, keine der vielen mehr oder weniger begabten Damen gebracht, und jener misoghnische literarische Skeptizismus dürfte vielleicht doch Recht behalten, der die Macht der Frauen in unsrer Literatur nicht ans das originale Genie, sondern auf allgemeine Bildungs- und Kultnr- zustüudc zurückführt. Diese Literatur, welche mehr in die Breite als in die Tiefe geht, sich mehr an die Massen der Gebildeten und ihr Unterhaltungs¬ oder Bildungsbedürfnis, als an den Einzelnen und seinen edeln Enthusiasmus richtet, komme — so sagen jene Skeptiker — dem weiblichen Genius entgegen, dessen Eigenart nicht im originale» Schaffen, sondern im Verarbeiten des Empfangncn bestehe; reproduziren sei leichter als produziren. Zugegeben. Aber warum den Frauen gegenüber strenger sein als den Männern? warum dort die höchsten Maßstäbe ansetzen, die doch wahrhaftig hier nur allzugern in die Rumpel¬ kammer gestellt werden? warum nicht die gleiche Billigkeit für beide Geschlechter? Und begnügt man sich nicht, einen Mann schon dann anzuerkennen, wenn er als eine volle, runde, in sich selbst beruhende Individualität erscheint, gleichviel ob sie mehr oder weniger liebenswürdig ist, ob sie um einen Zoll oder um Turmeshöhe über die Menge hinausragt? Ja ist nicht schon eine rechte, auf eignen Füßen stehende Individualität selbst, im Leben wie in der Literatur, ein interessircnder Anblick? Und der kritische Beobachter der zeitgenössischen Lite¬ ratur wird überhaupt, wenn er sonst gerecht sein will, und wieder durch „die Macht der Thatsachen" gezwungen, auf diesen Standpunkt der Betrachtung ge¬ leitet ; wir haben eine Fülle einzeln interessanter Individualitäten, jede interessant in den Grenzen ihrer Begabung, und doch besitzen wir im ganzen keine Blüte der Literatur. Solcher merkwürdigen Persönlichkeiten giebt es in der gegenwärtigen Frauen¬ literatur mehrere, jedenfalls mehr als in irgendeiner frühern Periode, und allen Respekt vor den berühmten Frauen der klassischen Zeit, die selbst die philolo¬ gischsten Germanisten und Literarhistoriker jetzt schon der Besprechung auf den, akademischen Katheder für würdig halten: die lebenden Frauen stehen jenen weder an Bildung des Geistes, noch an Güte des Herzens, noch an poetischer Begabung nach. Da wäre zunächst die tief dichterische, im Verse mehr noch als in der Prosa der Novelle anmutige, schalkhafte und eruste, nie die Weib¬ lichkeit verleugnende Marie von Olfers zu nennen, deren sehr bemerkenswerte Dichtung „Simplizitas" die Grenzboten vor zwei Jahren ausführlich gewürdigt haben; daß von dieser „Simplizitas" nicht öfter die Rede ist, muß auf die all¬ gemeine Scheu des lesenden Publikums vor allen und zumal vor lyrischen Versen zurückgeführt werden. Ein kräftiges Profil weist ferner die berühmte Verfasserin der „Memoiren einer Idealistin" auf, Malwida von Meysenbug, die Freundin Alexander Herzens, Gottfried Kinkels. Mazzinis und Richard Grenzboton III. 1886. ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/81
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/81>, abgerufen am 22.07.2024.