Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Bulgarien und sein Fürst.

Berliner Kongreß auf Beaconssiclds Andrängen an die Stelle des durch den
Frieden von Sau Stefano geschaffene" Großbulgaricn, dessen Grenzen bis nach
Macedonien hinein und bis an das Ägcischc Meer reichen sollten, das Fürstentum
Bulgarien und die autonome Provinz Ostrumelien setzte, während der Nest im
äußersten Westen der Pforte zurückgegeben wurde. Bulgarien verblieb dem
Namen uach unter der Oberhoheit des Sultans, wurde aber in Wirklichkeit ein
unabhängiger Staat. Ostrumelien behielt die engere Verbindung mit der Türkei
bei, aber fast auch nur auf dem Papier; deun thatsächlich nahm man hier äußerst
wenig Rücksicht auf den Willen und das Interesse der Regierung in Konstantinopel.
Diese Lösung der Frage war leine glückliche. Sie trug den Keim zu den späteren
Wirren in sich; denn sie widersprach einerseits dem Wunsche des Volkes nach
Vereinigung, sie verlieh anderseits diesem halbbarbarischen Volke, welches keinerlei
Bürgschaft bot, daß es sich in Zukunft angemessen regieren werde, beinahe voll¬
ständige Unabhängigkeit, und sie änderte schließlich an dem russischen Plane mit
diesen bisherigen türkischen Provinzen dem Anscheine nach nur insofern, als sie
dessen Ausführung vertagte und verhüllte. Rußland hatte seinem Vorgeben nach
einen Kreuzzug gegen die Unterdrücker der Balkanchristen, einen Befreiungskrieg
für die Bulgaren unternommen; in Wahrheit aber diese für sich befreien wollen:
das Land sollte zu einer Etappe, das Volk zu einer Vorhut für den der-
einstigen Marsch zur Eroberung der Kaiserstadt am Goldner Horn heran¬
gebildet werden. Dieser Gedanke erlitt durch die Mächte des Berliner Kon¬
gresses zunächst keine wesentliche Störung. In den ersten Jahren nach 1878
war in Bulgarien und Ostrumelien der russische Einfluß der allein maßgebende,
und da dieselben gegen Rußlands Willen von einander getrennt und, das eine
mehr, das andre weniger, unter türkischer Oberherrschaft belassen worden waren,
so bemühte sich die russische Politik, einerseits die Trennung möglichst unfühlbar
zu machen, anderseits die Beziehungen zur Pforte möglichst abzuschwächen,
zugleich aber die Geschicke beider Länder so eng mit sich selbst zu verknüpfen, daß
der Zar ihr eigentlicher Gebieter, die Verwaltung die eines russischen General¬
gouvernements, das Heerwesen mehr und mehr eine russische Avantgarde würde,
stets bereit, einen Angriff auf die Pforte zu unterstützen, aber gänzlich unfähig,
der Petersburger Politik Widerstand zu leisten. Wenn diese Bestrebungen
später mißlangen, so hat dies zum großen Teile Rußland selbst verschuldet. Es
war über den Charakter und die Befähigung der Bulgaren nicht wohl unter¬
richtet, es unterschätzte sie, es unterließ, gerechte Ansprüche und Beschwerden
derselben zu berücksichtigen, und es war vor allein in der Wahl seiner politischen
Agenten großenteils recht unglücklich. Nach Beendigung des Krieges wurden
fast alle höheren Stellen in Verwaltung und Heer mit Russen besetzt, was nicht
zu vermeiden war, da es in Bulgarien und Ostrumelien an dazu geeigneten
Leuten fehlte und fast alles umzugestalten oder ganz nen zu schaffen war. Man
hätte nun schon wegen des mißtrauischen Wesens der Bulgaren nur die tüchtigsten


Bulgarien und sein Fürst.

Berliner Kongreß auf Beaconssiclds Andrängen an die Stelle des durch den
Frieden von Sau Stefano geschaffene» Großbulgaricn, dessen Grenzen bis nach
Macedonien hinein und bis an das Ägcischc Meer reichen sollten, das Fürstentum
Bulgarien und die autonome Provinz Ostrumelien setzte, während der Nest im
äußersten Westen der Pforte zurückgegeben wurde. Bulgarien verblieb dem
Namen uach unter der Oberhoheit des Sultans, wurde aber in Wirklichkeit ein
unabhängiger Staat. Ostrumelien behielt die engere Verbindung mit der Türkei
bei, aber fast auch nur auf dem Papier; deun thatsächlich nahm man hier äußerst
wenig Rücksicht auf den Willen und das Interesse der Regierung in Konstantinopel.
Diese Lösung der Frage war leine glückliche. Sie trug den Keim zu den späteren
Wirren in sich; denn sie widersprach einerseits dem Wunsche des Volkes nach
Vereinigung, sie verlieh anderseits diesem halbbarbarischen Volke, welches keinerlei
Bürgschaft bot, daß es sich in Zukunft angemessen regieren werde, beinahe voll¬
ständige Unabhängigkeit, und sie änderte schließlich an dem russischen Plane mit
diesen bisherigen türkischen Provinzen dem Anscheine nach nur insofern, als sie
dessen Ausführung vertagte und verhüllte. Rußland hatte seinem Vorgeben nach
einen Kreuzzug gegen die Unterdrücker der Balkanchristen, einen Befreiungskrieg
für die Bulgaren unternommen; in Wahrheit aber diese für sich befreien wollen:
das Land sollte zu einer Etappe, das Volk zu einer Vorhut für den der-
einstigen Marsch zur Eroberung der Kaiserstadt am Goldner Horn heran¬
gebildet werden. Dieser Gedanke erlitt durch die Mächte des Berliner Kon¬
gresses zunächst keine wesentliche Störung. In den ersten Jahren nach 1878
war in Bulgarien und Ostrumelien der russische Einfluß der allein maßgebende,
und da dieselben gegen Rußlands Willen von einander getrennt und, das eine
mehr, das andre weniger, unter türkischer Oberherrschaft belassen worden waren,
so bemühte sich die russische Politik, einerseits die Trennung möglichst unfühlbar
zu machen, anderseits die Beziehungen zur Pforte möglichst abzuschwächen,
zugleich aber die Geschicke beider Länder so eng mit sich selbst zu verknüpfen, daß
der Zar ihr eigentlicher Gebieter, die Verwaltung die eines russischen General¬
gouvernements, das Heerwesen mehr und mehr eine russische Avantgarde würde,
stets bereit, einen Angriff auf die Pforte zu unterstützen, aber gänzlich unfähig,
der Petersburger Politik Widerstand zu leisten. Wenn diese Bestrebungen
später mißlangen, so hat dies zum großen Teile Rußland selbst verschuldet. Es
war über den Charakter und die Befähigung der Bulgaren nicht wohl unter¬
richtet, es unterschätzte sie, es unterließ, gerechte Ansprüche und Beschwerden
derselben zu berücksichtigen, und es war vor allein in der Wahl seiner politischen
Agenten großenteils recht unglücklich. Nach Beendigung des Krieges wurden
fast alle höheren Stellen in Verwaltung und Heer mit Russen besetzt, was nicht
zu vermeiden war, da es in Bulgarien und Ostrumelien an dazu geeigneten
Leuten fehlte und fast alles umzugestalten oder ganz nen zu schaffen war. Man
hätte nun schon wegen des mißtrauischen Wesens der Bulgaren nur die tüchtigsten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0490" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199210"/>
          <fw type="header" place="top"> Bulgarien und sein Fürst.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1643" prev="#ID_1642" next="#ID_1644"> Berliner Kongreß auf Beaconssiclds Andrängen an die Stelle des durch den<lb/>
Frieden von Sau Stefano geschaffene» Großbulgaricn, dessen Grenzen bis nach<lb/>
Macedonien hinein und bis an das Ägcischc Meer reichen sollten, das Fürstentum<lb/>
Bulgarien und die autonome Provinz Ostrumelien setzte, während der Nest im<lb/>
äußersten Westen der Pforte zurückgegeben wurde. Bulgarien verblieb dem<lb/>
Namen uach unter der Oberhoheit des Sultans, wurde aber in Wirklichkeit ein<lb/>
unabhängiger Staat. Ostrumelien behielt die engere Verbindung mit der Türkei<lb/>
bei, aber fast auch nur auf dem Papier; deun thatsächlich nahm man hier äußerst<lb/>
wenig Rücksicht auf den Willen und das Interesse der Regierung in Konstantinopel.<lb/>
Diese Lösung der Frage war leine glückliche. Sie trug den Keim zu den späteren<lb/>
Wirren in sich; denn sie widersprach einerseits dem Wunsche des Volkes nach<lb/>
Vereinigung, sie verlieh anderseits diesem halbbarbarischen Volke, welches keinerlei<lb/>
Bürgschaft bot, daß es sich in Zukunft angemessen regieren werde, beinahe voll¬<lb/>
ständige Unabhängigkeit, und sie änderte schließlich an dem russischen Plane mit<lb/>
diesen bisherigen türkischen Provinzen dem Anscheine nach nur insofern, als sie<lb/>
dessen Ausführung vertagte und verhüllte. Rußland hatte seinem Vorgeben nach<lb/>
einen Kreuzzug gegen die Unterdrücker der Balkanchristen, einen Befreiungskrieg<lb/>
für die Bulgaren unternommen; in Wahrheit aber diese für sich befreien wollen:<lb/>
das Land sollte zu einer Etappe, das Volk zu einer Vorhut für den der-<lb/>
einstigen Marsch zur Eroberung der Kaiserstadt am Goldner Horn heran¬<lb/>
gebildet werden. Dieser Gedanke erlitt durch die Mächte des Berliner Kon¬<lb/>
gresses zunächst keine wesentliche Störung. In den ersten Jahren nach 1878<lb/>
war in Bulgarien und Ostrumelien der russische Einfluß der allein maßgebende,<lb/>
und da dieselben gegen Rußlands Willen von einander getrennt und, das eine<lb/>
mehr, das andre weniger, unter türkischer Oberherrschaft belassen worden waren,<lb/>
so bemühte sich die russische Politik, einerseits die Trennung möglichst unfühlbar<lb/>
zu machen, anderseits die Beziehungen zur Pforte möglichst abzuschwächen,<lb/>
zugleich aber die Geschicke beider Länder so eng mit sich selbst zu verknüpfen, daß<lb/>
der Zar ihr eigentlicher Gebieter, die Verwaltung die eines russischen General¬<lb/>
gouvernements, das Heerwesen mehr und mehr eine russische Avantgarde würde,<lb/>
stets bereit, einen Angriff auf die Pforte zu unterstützen, aber gänzlich unfähig,<lb/>
der Petersburger Politik Widerstand zu leisten. Wenn diese Bestrebungen<lb/>
später mißlangen, so hat dies zum großen Teile Rußland selbst verschuldet. Es<lb/>
war über den Charakter und die Befähigung der Bulgaren nicht wohl unter¬<lb/>
richtet, es unterschätzte sie, es unterließ, gerechte Ansprüche und Beschwerden<lb/>
derselben zu berücksichtigen, und es war vor allein in der Wahl seiner politischen<lb/>
Agenten großenteils recht unglücklich. Nach Beendigung des Krieges wurden<lb/>
fast alle höheren Stellen in Verwaltung und Heer mit Russen besetzt, was nicht<lb/>
zu vermeiden war, da es in Bulgarien und Ostrumelien an dazu geeigneten<lb/>
Leuten fehlte und fast alles umzugestalten oder ganz nen zu schaffen war. Man<lb/>
hätte nun schon wegen des mißtrauischen Wesens der Bulgaren nur die tüchtigsten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0490] Bulgarien und sein Fürst. Berliner Kongreß auf Beaconssiclds Andrängen an die Stelle des durch den Frieden von Sau Stefano geschaffene» Großbulgaricn, dessen Grenzen bis nach Macedonien hinein und bis an das Ägcischc Meer reichen sollten, das Fürstentum Bulgarien und die autonome Provinz Ostrumelien setzte, während der Nest im äußersten Westen der Pforte zurückgegeben wurde. Bulgarien verblieb dem Namen uach unter der Oberhoheit des Sultans, wurde aber in Wirklichkeit ein unabhängiger Staat. Ostrumelien behielt die engere Verbindung mit der Türkei bei, aber fast auch nur auf dem Papier; deun thatsächlich nahm man hier äußerst wenig Rücksicht auf den Willen und das Interesse der Regierung in Konstantinopel. Diese Lösung der Frage war leine glückliche. Sie trug den Keim zu den späteren Wirren in sich; denn sie widersprach einerseits dem Wunsche des Volkes nach Vereinigung, sie verlieh anderseits diesem halbbarbarischen Volke, welches keinerlei Bürgschaft bot, daß es sich in Zukunft angemessen regieren werde, beinahe voll¬ ständige Unabhängigkeit, und sie änderte schließlich an dem russischen Plane mit diesen bisherigen türkischen Provinzen dem Anscheine nach nur insofern, als sie dessen Ausführung vertagte und verhüllte. Rußland hatte seinem Vorgeben nach einen Kreuzzug gegen die Unterdrücker der Balkanchristen, einen Befreiungskrieg für die Bulgaren unternommen; in Wahrheit aber diese für sich befreien wollen: das Land sollte zu einer Etappe, das Volk zu einer Vorhut für den der- einstigen Marsch zur Eroberung der Kaiserstadt am Goldner Horn heran¬ gebildet werden. Dieser Gedanke erlitt durch die Mächte des Berliner Kon¬ gresses zunächst keine wesentliche Störung. In den ersten Jahren nach 1878 war in Bulgarien und Ostrumelien der russische Einfluß der allein maßgebende, und da dieselben gegen Rußlands Willen von einander getrennt und, das eine mehr, das andre weniger, unter türkischer Oberherrschaft belassen worden waren, so bemühte sich die russische Politik, einerseits die Trennung möglichst unfühlbar zu machen, anderseits die Beziehungen zur Pforte möglichst abzuschwächen, zugleich aber die Geschicke beider Länder so eng mit sich selbst zu verknüpfen, daß der Zar ihr eigentlicher Gebieter, die Verwaltung die eines russischen General¬ gouvernements, das Heerwesen mehr und mehr eine russische Avantgarde würde, stets bereit, einen Angriff auf die Pforte zu unterstützen, aber gänzlich unfähig, der Petersburger Politik Widerstand zu leisten. Wenn diese Bestrebungen später mißlangen, so hat dies zum großen Teile Rußland selbst verschuldet. Es war über den Charakter und die Befähigung der Bulgaren nicht wohl unter¬ richtet, es unterschätzte sie, es unterließ, gerechte Ansprüche und Beschwerden derselben zu berücksichtigen, und es war vor allein in der Wahl seiner politischen Agenten großenteils recht unglücklich. Nach Beendigung des Krieges wurden fast alle höheren Stellen in Verwaltung und Heer mit Russen besetzt, was nicht zu vermeiden war, da es in Bulgarien und Ostrumelien an dazu geeigneten Leuten fehlte und fast alles umzugestalten oder ganz nen zu schaffen war. Man hätte nun schon wegen des mißtrauischen Wesens der Bulgaren nur die tüchtigsten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/490
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/490>, abgerufen am 24.08.2024.