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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Lin zukünftiger Kriegsschauplatz.

zu bedienen." Hiernach darf mit Bestimmtheit erwartet werden, daß die ersten
großen Entscheidungen auf dem Gebiete des ehemaligen Großherzogtums Warschau,
voraussichtlich nicht sehr weit von der Westgrenze, an der Weichsel und am
Njcmen erfolgen werden. Ist deren Ausgang den Heeren der beiden Ver¬
bündeten günstig, so tritt an die Feldherren der letzteren die fernere Aufgabe
heran, ganz Polen rasch zu besetzen, sich zunächst eine Linie zu sichern, in
welcher man sich mit geringeren Kräften zu halten imstande ist, und dann zur
Belagerung der wichtigsten festen Plätze des Landes, d. h. Warschau-Praga,
Kowno, Jwangorod und Brest-Litowsk, zu schreiten. Man muß sich den Rücken
frei machen, sich die Verbindungen mit der Heimat sichern, die Verwaltung der
westlichen Gouvernements in die Hand nehmen, die zerstörten Eisenbahnen,
Straßen, Brücken und Fähren wiederherstellen und die Verpflegung des Heeres
aus den Hilfsquelle" des Landes ordnen. Diese Sammlung der Kräfte vor
jedem weiteren Vorrücken nach Osten ist auch in dem Falle unerläßlich, daß
die ersten Erfolge sehr bedeutend gewesen sind. Der östliche Kriegsschauplatz
verlangt ein Operiren in langsamerem Tempo als andre Gegenden, die besser
kultivirt sind. Die Entfernungen sind groß, die Räume dünn bevölkert, die
Ortschaften meist unansehnlich. Jeder Rückschlag muß also vermieden werden,
die Fürsorge für die Ernährung und Ergänzung der Truppen erfordert doppelt
so große Anstrengung als vorher. Zur Fortsetzung der Operationen über die
Linie Brest-Wilna und später über die zweite Kjerv-Smolensk hinaus gehört
eine nach allen Richtungen hin solid eingerichtete Basis. Zur Herstellung einer
solchen muß vor allen Dingen der Betrieb der Eisenbahnen wohl geordnet sein,
und um über diese frei verfügen zu können, muß man die Weichsel- und die
Njemcnfestungen in seinen Besitz bringen. Die Schienenwege bilden den wesent¬
lichen Unterschied zwischen der heutigen Kriegführung und der im Anfang dieses
Jahrhunderts. Der Zug nach Moskau war ein unerhörtes Wagnis zur Zeit
Napoleons, heutzutage ist er zwar kein leichtes, aber immerhin ein solches Unter¬
nehmen, das sich berechnen und in seiner Ausführung sehr wohl absehen läßt.

Drei Eisenbahnen bieten sich als Etappenlinien für ebensoviele Armeen:
Lemberg-Nadziwilowo-Kjew, Warschau-Brest-Smolensk, Kvwnv-Wilna-Minsk.
Die zweite würde einigermaßen entlastet sein, sobald die im Bau begriffene
vierte, Schabinka-Briansk, fertig wäre. Die dritte würde allerdings wohl nicht
völlig genügen. Die seitliche Sicherung dieser Linien würde im Norden durch
Besetzung des Laufes der Düua, im Süden durch das weitausgreifende Ost-
galizien und dessen Machtsphäre erleichtert sein. Der Vormarsch in das Innere
Rußlands wäre somit durchführbar. Das Endziel der Operationen sollte nicht
Petersburg, sondern Moskau sein. Jenes ist eine künstliche Schöpfung und
nur Residenz-, nicht Hauptstadt, es liegt nicht im Zentrum, sondern an der
Peripherie, und der Weg dahin geht durch die sehr armen Gouvernements
Pskow, Nowgorod und Petersburg. Der Sieger Hütte endlich hier Nußland


Lin zukünftiger Kriegsschauplatz.

zu bedienen." Hiernach darf mit Bestimmtheit erwartet werden, daß die ersten
großen Entscheidungen auf dem Gebiete des ehemaligen Großherzogtums Warschau,
voraussichtlich nicht sehr weit von der Westgrenze, an der Weichsel und am
Njcmen erfolgen werden. Ist deren Ausgang den Heeren der beiden Ver¬
bündeten günstig, so tritt an die Feldherren der letzteren die fernere Aufgabe
heran, ganz Polen rasch zu besetzen, sich zunächst eine Linie zu sichern, in
welcher man sich mit geringeren Kräften zu halten imstande ist, und dann zur
Belagerung der wichtigsten festen Plätze des Landes, d. h. Warschau-Praga,
Kowno, Jwangorod und Brest-Litowsk, zu schreiten. Man muß sich den Rücken
frei machen, sich die Verbindungen mit der Heimat sichern, die Verwaltung der
westlichen Gouvernements in die Hand nehmen, die zerstörten Eisenbahnen,
Straßen, Brücken und Fähren wiederherstellen und die Verpflegung des Heeres
aus den Hilfsquelle« des Landes ordnen. Diese Sammlung der Kräfte vor
jedem weiteren Vorrücken nach Osten ist auch in dem Falle unerläßlich, daß
die ersten Erfolge sehr bedeutend gewesen sind. Der östliche Kriegsschauplatz
verlangt ein Operiren in langsamerem Tempo als andre Gegenden, die besser
kultivirt sind. Die Entfernungen sind groß, die Räume dünn bevölkert, die
Ortschaften meist unansehnlich. Jeder Rückschlag muß also vermieden werden,
die Fürsorge für die Ernährung und Ergänzung der Truppen erfordert doppelt
so große Anstrengung als vorher. Zur Fortsetzung der Operationen über die
Linie Brest-Wilna und später über die zweite Kjerv-Smolensk hinaus gehört
eine nach allen Richtungen hin solid eingerichtete Basis. Zur Herstellung einer
solchen muß vor allen Dingen der Betrieb der Eisenbahnen wohl geordnet sein,
und um über diese frei verfügen zu können, muß man die Weichsel- und die
Njemcnfestungen in seinen Besitz bringen. Die Schienenwege bilden den wesent¬
lichen Unterschied zwischen der heutigen Kriegführung und der im Anfang dieses
Jahrhunderts. Der Zug nach Moskau war ein unerhörtes Wagnis zur Zeit
Napoleons, heutzutage ist er zwar kein leichtes, aber immerhin ein solches Unter¬
nehmen, das sich berechnen und in seiner Ausführung sehr wohl absehen läßt.

Drei Eisenbahnen bieten sich als Etappenlinien für ebensoviele Armeen:
Lemberg-Nadziwilowo-Kjew, Warschau-Brest-Smolensk, Kvwnv-Wilna-Minsk.
Die zweite würde einigermaßen entlastet sein, sobald die im Bau begriffene
vierte, Schabinka-Briansk, fertig wäre. Die dritte würde allerdings wohl nicht
völlig genügen. Die seitliche Sicherung dieser Linien würde im Norden durch
Besetzung des Laufes der Düua, im Süden durch das weitausgreifende Ost-
galizien und dessen Machtsphäre erleichtert sein. Der Vormarsch in das Innere
Rußlands wäre somit durchführbar. Das Endziel der Operationen sollte nicht
Petersburg, sondern Moskau sein. Jenes ist eine künstliche Schöpfung und
nur Residenz-, nicht Hauptstadt, es liegt nicht im Zentrum, sondern an der
Peripherie, und der Weg dahin geht durch die sehr armen Gouvernements
Pskow, Nowgorod und Petersburg. Der Sieger Hütte endlich hier Nußland


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[0447] Lin zukünftiger Kriegsschauplatz. zu bedienen." Hiernach darf mit Bestimmtheit erwartet werden, daß die ersten großen Entscheidungen auf dem Gebiete des ehemaligen Großherzogtums Warschau, voraussichtlich nicht sehr weit von der Westgrenze, an der Weichsel und am Njcmen erfolgen werden. Ist deren Ausgang den Heeren der beiden Ver¬ bündeten günstig, so tritt an die Feldherren der letzteren die fernere Aufgabe heran, ganz Polen rasch zu besetzen, sich zunächst eine Linie zu sichern, in welcher man sich mit geringeren Kräften zu halten imstande ist, und dann zur Belagerung der wichtigsten festen Plätze des Landes, d. h. Warschau-Praga, Kowno, Jwangorod und Brest-Litowsk, zu schreiten. Man muß sich den Rücken frei machen, sich die Verbindungen mit der Heimat sichern, die Verwaltung der westlichen Gouvernements in die Hand nehmen, die zerstörten Eisenbahnen, Straßen, Brücken und Fähren wiederherstellen und die Verpflegung des Heeres aus den Hilfsquelle« des Landes ordnen. Diese Sammlung der Kräfte vor jedem weiteren Vorrücken nach Osten ist auch in dem Falle unerläßlich, daß die ersten Erfolge sehr bedeutend gewesen sind. Der östliche Kriegsschauplatz verlangt ein Operiren in langsamerem Tempo als andre Gegenden, die besser kultivirt sind. Die Entfernungen sind groß, die Räume dünn bevölkert, die Ortschaften meist unansehnlich. Jeder Rückschlag muß also vermieden werden, die Fürsorge für die Ernährung und Ergänzung der Truppen erfordert doppelt so große Anstrengung als vorher. Zur Fortsetzung der Operationen über die Linie Brest-Wilna und später über die zweite Kjerv-Smolensk hinaus gehört eine nach allen Richtungen hin solid eingerichtete Basis. Zur Herstellung einer solchen muß vor allen Dingen der Betrieb der Eisenbahnen wohl geordnet sein, und um über diese frei verfügen zu können, muß man die Weichsel- und die Njemcnfestungen in seinen Besitz bringen. Die Schienenwege bilden den wesent¬ lichen Unterschied zwischen der heutigen Kriegführung und der im Anfang dieses Jahrhunderts. Der Zug nach Moskau war ein unerhörtes Wagnis zur Zeit Napoleons, heutzutage ist er zwar kein leichtes, aber immerhin ein solches Unter¬ nehmen, das sich berechnen und in seiner Ausführung sehr wohl absehen läßt. Drei Eisenbahnen bieten sich als Etappenlinien für ebensoviele Armeen: Lemberg-Nadziwilowo-Kjew, Warschau-Brest-Smolensk, Kvwnv-Wilna-Minsk. Die zweite würde einigermaßen entlastet sein, sobald die im Bau begriffene vierte, Schabinka-Briansk, fertig wäre. Die dritte würde allerdings wohl nicht völlig genügen. Die seitliche Sicherung dieser Linien würde im Norden durch Besetzung des Laufes der Düua, im Süden durch das weitausgreifende Ost- galizien und dessen Machtsphäre erleichtert sein. Der Vormarsch in das Innere Rußlands wäre somit durchführbar. Das Endziel der Operationen sollte nicht Petersburg, sondern Moskau sein. Jenes ist eine künstliche Schöpfung und nur Residenz-, nicht Hauptstadt, es liegt nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie, und der Weg dahin geht durch die sehr armen Gouvernements Pskow, Nowgorod und Petersburg. Der Sieger Hütte endlich hier Nußland

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/447>, abgerufen am 22.07.2024.