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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Gin zukünftiger Kriegsschauplatz.

in nichts Herz getroffen, sondern nur ein äußeres Glied desselben berührt, und
der übrige Körper könnte weiter funktioniren. Je weiter dagegen der Zug nach
dem eigentlichen Mittelpunkte des Reiches ginge, desto günstiger würden die
Aussichten sich für die Jnvasionsarmee gestalten. Er führte jetzt durch die
volkreichsten und fruchtbarsten Gouvernements. Vom oberen und mittleren
Dujepr aufbrechend, würden die Heere der Verbündeten in und um Moskau
sich vereinigen und die Linie von da bis Kursk besetzen. Ob man in einem
einzigen Feldzugsjahre soweit kommen könnte, ist fraglich und wird von der
Jahreszeit und der größeren oder geringeren Zähigkeit des Widerstandes ab¬
hängen, dem man Vonseiten der Russen begegnen wird. Viele scheuen vor dem
Gedanken an einen Feldzug in Rußland, der freilich ungewöhnliche Dimensionen
annehmen würde, deshalb zurück, weil sie kein Ende desselben absehen. Die
Katastrophe von 1812 wirkt noch in unsre Tage nach. Man behauptet, daß
wie damals selbst in Moskau kein Friedensschluß zu erzwingen sein würde, da
die großen Räume zwischen dieser Stadt und Petersburg einerseits und nach
der Wolga hin anderseits allein schon genügten, den Russen ein Ausweichen ohne
Aufhören und eine Überwindung der Gegner durch Zeit und Raum zu ermög¬
lichen. Indes trifft der Vergleich zwischen 1812 und jetzt nicht mehr zu. Die
Hauptschwierigkeit, mit der Napoleon damals zu kämpfen hatte und die in
der schlechten Verbindung seiner Armee mit ihrer Operationslinie lag, ist jetzt
durch Eisenbahnen wesentlich verringert worden. Die Ausrüstung unsrer Heere
ist weit besser als die der "großen Armee," auch wird sich bei ihnen die Manns¬
zucht nicht so leicht verlieren als bei Napoleons meist französischen Soldaten.
Die Russen aber werden schwerlich wie ihre Väter ihre Städte verlassen und
zerstören; denn dieses Mittel würde zu ihrem, nicht zu des Gegners Nachteil
ausschlagen: die Jnvasionsarmee würde, gut basirt und verpflegt, Moskau
niederbrennen sehen, ohne deshalb Schaden befürchten zu müssen, die russische
dagegen würde dadurch nichts erreichen als schwere Verluste für die Nation und
Versiegen ihrer eignen Hilfsquellen.

Wir haben durchaus keinen Grund, einen Krieg mit Nußland herbeizu¬
wünschen, da er selbst siegreich sür uns ein schweres, lange nachwirkendes Übel sein
würde. Würde er uns aber durch Überwiegen der panslawistischen und chauvi¬
nistischen Schwärmer über die verständigen und uns wohlwollenden Männer
in den Rcgiernngssphciren einmal aufgezwungen, so könnten wir den Fehdehand¬
schuh mit guter Zuversicht aufnehmen.




Gin zukünftiger Kriegsschauplatz.

in nichts Herz getroffen, sondern nur ein äußeres Glied desselben berührt, und
der übrige Körper könnte weiter funktioniren. Je weiter dagegen der Zug nach
dem eigentlichen Mittelpunkte des Reiches ginge, desto günstiger würden die
Aussichten sich für die Jnvasionsarmee gestalten. Er führte jetzt durch die
volkreichsten und fruchtbarsten Gouvernements. Vom oberen und mittleren
Dujepr aufbrechend, würden die Heere der Verbündeten in und um Moskau
sich vereinigen und die Linie von da bis Kursk besetzen. Ob man in einem
einzigen Feldzugsjahre soweit kommen könnte, ist fraglich und wird von der
Jahreszeit und der größeren oder geringeren Zähigkeit des Widerstandes ab¬
hängen, dem man Vonseiten der Russen begegnen wird. Viele scheuen vor dem
Gedanken an einen Feldzug in Rußland, der freilich ungewöhnliche Dimensionen
annehmen würde, deshalb zurück, weil sie kein Ende desselben absehen. Die
Katastrophe von 1812 wirkt noch in unsre Tage nach. Man behauptet, daß
wie damals selbst in Moskau kein Friedensschluß zu erzwingen sein würde, da
die großen Räume zwischen dieser Stadt und Petersburg einerseits und nach
der Wolga hin anderseits allein schon genügten, den Russen ein Ausweichen ohne
Aufhören und eine Überwindung der Gegner durch Zeit und Raum zu ermög¬
lichen. Indes trifft der Vergleich zwischen 1812 und jetzt nicht mehr zu. Die
Hauptschwierigkeit, mit der Napoleon damals zu kämpfen hatte und die in
der schlechten Verbindung seiner Armee mit ihrer Operationslinie lag, ist jetzt
durch Eisenbahnen wesentlich verringert worden. Die Ausrüstung unsrer Heere
ist weit besser als die der „großen Armee," auch wird sich bei ihnen die Manns¬
zucht nicht so leicht verlieren als bei Napoleons meist französischen Soldaten.
Die Russen aber werden schwerlich wie ihre Väter ihre Städte verlassen und
zerstören; denn dieses Mittel würde zu ihrem, nicht zu des Gegners Nachteil
ausschlagen: die Jnvasionsarmee würde, gut basirt und verpflegt, Moskau
niederbrennen sehen, ohne deshalb Schaden befürchten zu müssen, die russische
dagegen würde dadurch nichts erreichen als schwere Verluste für die Nation und
Versiegen ihrer eignen Hilfsquellen.

Wir haben durchaus keinen Grund, einen Krieg mit Nußland herbeizu¬
wünschen, da er selbst siegreich sür uns ein schweres, lange nachwirkendes Übel sein
würde. Würde er uns aber durch Überwiegen der panslawistischen und chauvi¬
nistischen Schwärmer über die verständigen und uns wohlwollenden Männer
in den Rcgiernngssphciren einmal aufgezwungen, so könnten wir den Fehdehand¬
schuh mit guter Zuversicht aufnehmen.




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[0448] Gin zukünftiger Kriegsschauplatz. in nichts Herz getroffen, sondern nur ein äußeres Glied desselben berührt, und der übrige Körper könnte weiter funktioniren. Je weiter dagegen der Zug nach dem eigentlichen Mittelpunkte des Reiches ginge, desto günstiger würden die Aussichten sich für die Jnvasionsarmee gestalten. Er führte jetzt durch die volkreichsten und fruchtbarsten Gouvernements. Vom oberen und mittleren Dujepr aufbrechend, würden die Heere der Verbündeten in und um Moskau sich vereinigen und die Linie von da bis Kursk besetzen. Ob man in einem einzigen Feldzugsjahre soweit kommen könnte, ist fraglich und wird von der Jahreszeit und der größeren oder geringeren Zähigkeit des Widerstandes ab¬ hängen, dem man Vonseiten der Russen begegnen wird. Viele scheuen vor dem Gedanken an einen Feldzug in Rußland, der freilich ungewöhnliche Dimensionen annehmen würde, deshalb zurück, weil sie kein Ende desselben absehen. Die Katastrophe von 1812 wirkt noch in unsre Tage nach. Man behauptet, daß wie damals selbst in Moskau kein Friedensschluß zu erzwingen sein würde, da die großen Räume zwischen dieser Stadt und Petersburg einerseits und nach der Wolga hin anderseits allein schon genügten, den Russen ein Ausweichen ohne Aufhören und eine Überwindung der Gegner durch Zeit und Raum zu ermög¬ lichen. Indes trifft der Vergleich zwischen 1812 und jetzt nicht mehr zu. Die Hauptschwierigkeit, mit der Napoleon damals zu kämpfen hatte und die in der schlechten Verbindung seiner Armee mit ihrer Operationslinie lag, ist jetzt durch Eisenbahnen wesentlich verringert worden. Die Ausrüstung unsrer Heere ist weit besser als die der „großen Armee," auch wird sich bei ihnen die Manns¬ zucht nicht so leicht verlieren als bei Napoleons meist französischen Soldaten. Die Russen aber werden schwerlich wie ihre Väter ihre Städte verlassen und zerstören; denn dieses Mittel würde zu ihrem, nicht zu des Gegners Nachteil ausschlagen: die Jnvasionsarmee würde, gut basirt und verpflegt, Moskau niederbrennen sehen, ohne deshalb Schaden befürchten zu müssen, die russische dagegen würde dadurch nichts erreichen als schwere Verluste für die Nation und Versiegen ihrer eignen Hilfsquellen. Wir haben durchaus keinen Grund, einen Krieg mit Nußland herbeizu¬ wünschen, da er selbst siegreich sür uns ein schweres, lange nachwirkendes Übel sein würde. Würde er uns aber durch Überwiegen der panslawistischen und chauvi¬ nistischen Schwärmer über die verständigen und uns wohlwollenden Männer in den Rcgiernngssphciren einmal aufgezwungen, so könnten wir den Fehdehand¬ schuh mit guter Zuversicht aufnehmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/448>, abgerufen am 22.07.2024.