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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Chauvinisten und Regierung in Rußland.

Unterstützung dieses Treibens auf, und es wurde ihm in einer Weise, die nicht
mißverstanden werden konnte, Einhalt gethan. Nowikoff, der russische Bot¬
schafter in Wien, wurde abberufen, und Giers trat seine erste Reise nach
Fricdrichsruhe an, wo er Aufklärungen gab und eine Verständigung erzielte, die
später in der Zusammenkunft in Skiernewice ihren Ausdruck vor Europa fand.

In die Tage kurz vor diesem Umschwunge der Dinge fällt nun eine Reihe
von Aufsätzen über die Aussichten und Pläne der chauvinistischen Aktionspartei,
welche in der zu Moskau erscheinenden Zeitschrift "Rußkaja Myßl" veröffentlicht
wurde, und auf die in unsrer Betrachtung mit der Bemerkung hingewiesen
wird, sie bezeichne eine weitere Entwicklungsstufe des russischen Chauvinismus,
während wir die Sache richtiger aufzufassen glauben, wenn wir annehmen, sie
stelle nur die Ansicht eines oder einiger, vielleicht vieler Mitglieder dieser Ge¬
nossenschaft dar. Der Verfasser ist sehr wahrscheinlich ein in Ruhestand versetzter
Diplomat, welcher früher in Wien im Sinne der Slawophilen thätig gewesen
ist und jetzt aus doppeltem Grunde verdrießlich in die Welt hinausblickt. Er
kennt die diplomatischen Verhältnisse in der Großstadt an der Donau genau,
er ist mit Brauch und Methode der Diplomatie Wohl vertraut, er teilt Ge¬
heimnisse mit, die kaum aus einer andern Quelle als dem Archiv der russischen
Botschaft um Hofe des Kaisers von Österreich geschöpft sein können. Er grollt
ferner der gegenwärtigen Leitung der russischen Diplomatie und hält sie für
unfähig. Er ist endlich tief verstimmt über die bisherigen Mißerfolge der Politik
der slawophilen und chauvinistischen Partei in auswärtigen Fragen. Sehr
lehrreich sind in letzterer Beziehung die Bekenntnisse, zu denen er sich herbei¬
läßt, und die Andeutungen, welche er über die Bahnen giebt, welche seine
politischen Freunde seiner Überzeugwng zufolge in Zukunft einzuschlagen haben.
Nach seiner Ansicht hat die russische Politik nach dem letzten Kriege bei den
"Slawenbrüdern" im Süden Bankerott gemacht: dieselben haben sich von
Nußland abgewendet und siud in das Lager der österreichisch-ungarischen Mon¬
archie übergegangen. Gleichzeitig sind auch die Sympathien der Russen für
sie verschwunden, die Idee der religiösen Propaganda, der Auffrischung des
"verfaulten Westens" durch den Geist der allein noch jugendkräftigen orthodoxen
Welt hat ihre Zugkraft eingebüßt, Rußland hat keine Ideale mehr, selbst mit
der "byzantinischen Erbschaft" ist beim dortigen Publikum kein Geschäft mehr
zu machen, und doch bedarf die Politik des Zarenreiches dringend eines Ideals,
eines Simulakrums, eines Köders zum Einfangen, eines Zündstoffes zum Ent¬
flammen der südlichen und westlichen Slawen. Ohne diese vermag sie nichts,
sie muß imstande sein, sie als "Kugelfang" vor sich herzuschieben, sie werden
sich aber dazu nicht gebrauchen lassen, wenn es nicht gelingt, sie mit einem
Scheinidcale wieder zu gewinnen und gefügig zu macheu. Der verbitterte und
an der Gegenwart verzweifelnde diplomatische Chauvinist hat nun ein solches
gefunden. Er meint, der Slawe sei eigentlich nicht sozialistisch angelegt (was,


Chauvinisten und Regierung in Rußland.

Unterstützung dieses Treibens auf, und es wurde ihm in einer Weise, die nicht
mißverstanden werden konnte, Einhalt gethan. Nowikoff, der russische Bot¬
schafter in Wien, wurde abberufen, und Giers trat seine erste Reise nach
Fricdrichsruhe an, wo er Aufklärungen gab und eine Verständigung erzielte, die
später in der Zusammenkunft in Skiernewice ihren Ausdruck vor Europa fand.

In die Tage kurz vor diesem Umschwunge der Dinge fällt nun eine Reihe
von Aufsätzen über die Aussichten und Pläne der chauvinistischen Aktionspartei,
welche in der zu Moskau erscheinenden Zeitschrift „Rußkaja Myßl" veröffentlicht
wurde, und auf die in unsrer Betrachtung mit der Bemerkung hingewiesen
wird, sie bezeichne eine weitere Entwicklungsstufe des russischen Chauvinismus,
während wir die Sache richtiger aufzufassen glauben, wenn wir annehmen, sie
stelle nur die Ansicht eines oder einiger, vielleicht vieler Mitglieder dieser Ge¬
nossenschaft dar. Der Verfasser ist sehr wahrscheinlich ein in Ruhestand versetzter
Diplomat, welcher früher in Wien im Sinne der Slawophilen thätig gewesen
ist und jetzt aus doppeltem Grunde verdrießlich in die Welt hinausblickt. Er
kennt die diplomatischen Verhältnisse in der Großstadt an der Donau genau,
er ist mit Brauch und Methode der Diplomatie Wohl vertraut, er teilt Ge¬
heimnisse mit, die kaum aus einer andern Quelle als dem Archiv der russischen
Botschaft um Hofe des Kaisers von Österreich geschöpft sein können. Er grollt
ferner der gegenwärtigen Leitung der russischen Diplomatie und hält sie für
unfähig. Er ist endlich tief verstimmt über die bisherigen Mißerfolge der Politik
der slawophilen und chauvinistischen Partei in auswärtigen Fragen. Sehr
lehrreich sind in letzterer Beziehung die Bekenntnisse, zu denen er sich herbei¬
läßt, und die Andeutungen, welche er über die Bahnen giebt, welche seine
politischen Freunde seiner Überzeugwng zufolge in Zukunft einzuschlagen haben.
Nach seiner Ansicht hat die russische Politik nach dem letzten Kriege bei den
„Slawenbrüdern" im Süden Bankerott gemacht: dieselben haben sich von
Nußland abgewendet und siud in das Lager der österreichisch-ungarischen Mon¬
archie übergegangen. Gleichzeitig sind auch die Sympathien der Russen für
sie verschwunden, die Idee der religiösen Propaganda, der Auffrischung des
„verfaulten Westens" durch den Geist der allein noch jugendkräftigen orthodoxen
Welt hat ihre Zugkraft eingebüßt, Rußland hat keine Ideale mehr, selbst mit
der „byzantinischen Erbschaft" ist beim dortigen Publikum kein Geschäft mehr
zu machen, und doch bedarf die Politik des Zarenreiches dringend eines Ideals,
eines Simulakrums, eines Köders zum Einfangen, eines Zündstoffes zum Ent¬
flammen der südlichen und westlichen Slawen. Ohne diese vermag sie nichts,
sie muß imstande sein, sie als „Kugelfang" vor sich herzuschieben, sie werden
sich aber dazu nicht gebrauchen lassen, wenn es nicht gelingt, sie mit einem
Scheinidcale wieder zu gewinnen und gefügig zu macheu. Der verbitterte und
an der Gegenwart verzweifelnde diplomatische Chauvinist hat nun ein solches
gefunden. Er meint, der Slawe sei eigentlich nicht sozialistisch angelegt (was,


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[0349] Chauvinisten und Regierung in Rußland. Unterstützung dieses Treibens auf, und es wurde ihm in einer Weise, die nicht mißverstanden werden konnte, Einhalt gethan. Nowikoff, der russische Bot¬ schafter in Wien, wurde abberufen, und Giers trat seine erste Reise nach Fricdrichsruhe an, wo er Aufklärungen gab und eine Verständigung erzielte, die später in der Zusammenkunft in Skiernewice ihren Ausdruck vor Europa fand. In die Tage kurz vor diesem Umschwunge der Dinge fällt nun eine Reihe von Aufsätzen über die Aussichten und Pläne der chauvinistischen Aktionspartei, welche in der zu Moskau erscheinenden Zeitschrift „Rußkaja Myßl" veröffentlicht wurde, und auf die in unsrer Betrachtung mit der Bemerkung hingewiesen wird, sie bezeichne eine weitere Entwicklungsstufe des russischen Chauvinismus, während wir die Sache richtiger aufzufassen glauben, wenn wir annehmen, sie stelle nur die Ansicht eines oder einiger, vielleicht vieler Mitglieder dieser Ge¬ nossenschaft dar. Der Verfasser ist sehr wahrscheinlich ein in Ruhestand versetzter Diplomat, welcher früher in Wien im Sinne der Slawophilen thätig gewesen ist und jetzt aus doppeltem Grunde verdrießlich in die Welt hinausblickt. Er kennt die diplomatischen Verhältnisse in der Großstadt an der Donau genau, er ist mit Brauch und Methode der Diplomatie Wohl vertraut, er teilt Ge¬ heimnisse mit, die kaum aus einer andern Quelle als dem Archiv der russischen Botschaft um Hofe des Kaisers von Österreich geschöpft sein können. Er grollt ferner der gegenwärtigen Leitung der russischen Diplomatie und hält sie für unfähig. Er ist endlich tief verstimmt über die bisherigen Mißerfolge der Politik der slawophilen und chauvinistischen Partei in auswärtigen Fragen. Sehr lehrreich sind in letzterer Beziehung die Bekenntnisse, zu denen er sich herbei¬ läßt, und die Andeutungen, welche er über die Bahnen giebt, welche seine politischen Freunde seiner Überzeugwng zufolge in Zukunft einzuschlagen haben. Nach seiner Ansicht hat die russische Politik nach dem letzten Kriege bei den „Slawenbrüdern" im Süden Bankerott gemacht: dieselben haben sich von Nußland abgewendet und siud in das Lager der österreichisch-ungarischen Mon¬ archie übergegangen. Gleichzeitig sind auch die Sympathien der Russen für sie verschwunden, die Idee der religiösen Propaganda, der Auffrischung des „verfaulten Westens" durch den Geist der allein noch jugendkräftigen orthodoxen Welt hat ihre Zugkraft eingebüßt, Rußland hat keine Ideale mehr, selbst mit der „byzantinischen Erbschaft" ist beim dortigen Publikum kein Geschäft mehr zu machen, und doch bedarf die Politik des Zarenreiches dringend eines Ideals, eines Simulakrums, eines Köders zum Einfangen, eines Zündstoffes zum Ent¬ flammen der südlichen und westlichen Slawen. Ohne diese vermag sie nichts, sie muß imstande sein, sie als „Kugelfang" vor sich herzuschieben, sie werden sich aber dazu nicht gebrauchen lassen, wenn es nicht gelingt, sie mit einem Scheinidcale wieder zu gewinnen und gefügig zu macheu. Der verbitterte und an der Gegenwart verzweifelnde diplomatische Chauvinist hat nun ein solches gefunden. Er meint, der Slawe sei eigentlich nicht sozialistisch angelegt (was,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/349>, abgerufen am 03.07.2024.