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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Bjönistjerne Björnson.

einem Kollegium von jungen Männern und Frauen Vorlesungen über Ana¬
tomie hält.

Wie mau sich nun auch zu diesem dogmatische" Gehalte von Björnsons
Roman stellen mag, so wird man doch nicht umhin können, die große Kunst
zu bewundern, mit der er geschriebell ist. "Thomas Nendalen" ist weit ent¬
fernt davon, ein pädagogischer Roman nach dem Muster des "Emil" von
I- I. Rousseau oder des "Wilhelm Meister" von Goethe zu sein. Björnsons
Realismus fiel es nicht ein, ein immerhin mit Willkür geschaffenes Ideal zu
konstruiren, welches gleichsam die Nechenprobe seiner Grundsätze sein sollte; er
stellt nicht die Folgen seiner neuen Pädagogik dar, sondern ist sich in seinem
großen künstlerischen Sinne bewußt, daß derartige theoretische Tendenzen über¬
haupt sich nicht in Poesie auflösen lassen. Nichts in der Welt ist poetisch,
wenn es nicht in Beziehung zu einem Streben des Menschen kommt, Liebe und
Haß allein machen die Dinge dichterisch wertvoll und verwendbar. Darum hat
Björnson seine ganze Pädagogik in einer nackt prosaischen Rede seines Helden,
eines genialen Schulmannes, hingestellt, und die Handlung des Romans ent¬
wickelt sich an den Folgen, welche diese Rede und die Art ihres Vortrages vor
ewem geladenen Publikum einer kleinen norwegischen Hafenstadt nach sich zieht:
das ist das dramatische Leben. Thomas Nendalen wird als der Abkömmling
"nes alten, ursprünglich von einem deutschen Abenteurer des dreißigjährigen
Krieges abstammenden Geschlechtes von meistens wilden, leidenschaftlichen, rück¬
sichtslos selbstsüchtigen Männern dargestellt. Seine edle Mutter, die vor ihrer
Heirat Lehrerin war und nach dem Tode ihres rohen Gatten, des John Kurt,
sich eine Mädchenschule errichtet, hat ihm den pädagogischen Beruf nahe gelegt.
Nach einer gründlichen eignen Bildung und nach genauem Studium der Schul¬
einrichtungen in Dentschland, Frankreich, England und Amerika heimgekehrt,
trügt Thomas Nendalen (er führt den Namen der Mutter) mit ererbter Rück¬
sichtslosigkeit seine revolutionären Ideen den Mitbürgern vor und ruft bei
diesen, da er ihnen ihre Heuchelei und ihre Prüderie, ihre geheimen Sünden
und ihren wucherischer Geschäftssinn auf deu Kopf zugesagt hat, einen
Sturm von Entrüstung hervor, der dann zu einem heftigen Zeitungskriegc
führt. Diese Schilderungen der Aufregung in der Stadt nach jener Rede sind
vo" sprühendem Humor. Dann werden wir in das Leben der jungen Pen-
sionsmcidche" eingeführt; die Bilder, welche Björnson hier von seinen lieblichen
Backfischen entwirft, sind wahrhaft entzückend. Natürlich ist die Stadt gegen die
Schule und ihren reformatorischen Leiter aufgebracht: jeden äußern Zufall
schneidet man ihm aufs Kerbholz. Und in der That geschieht ein Unglück, wie
es alle Tage vorkommt. Ein Mädchen wird von einem leichtfertigen Offizier
verführt. Mit der ganzen vollendeten Kunst des Meisters hat Björnson diese
Liebesgeschichte dargestellt, allein wenn er zum Schlüsse die Macht des
Verführers auf das Mädchen auf jene magischen Mächte zurückführt, die wir


Bjönistjerne Björnson.

einem Kollegium von jungen Männern und Frauen Vorlesungen über Ana¬
tomie hält.

Wie mau sich nun auch zu diesem dogmatische» Gehalte von Björnsons
Roman stellen mag, so wird man doch nicht umhin können, die große Kunst
zu bewundern, mit der er geschriebell ist. „Thomas Nendalen" ist weit ent¬
fernt davon, ein pädagogischer Roman nach dem Muster des „Emil" von
I- I. Rousseau oder des „Wilhelm Meister" von Goethe zu sein. Björnsons
Realismus fiel es nicht ein, ein immerhin mit Willkür geschaffenes Ideal zu
konstruiren, welches gleichsam die Nechenprobe seiner Grundsätze sein sollte; er
stellt nicht die Folgen seiner neuen Pädagogik dar, sondern ist sich in seinem
großen künstlerischen Sinne bewußt, daß derartige theoretische Tendenzen über¬
haupt sich nicht in Poesie auflösen lassen. Nichts in der Welt ist poetisch,
wenn es nicht in Beziehung zu einem Streben des Menschen kommt, Liebe und
Haß allein machen die Dinge dichterisch wertvoll und verwendbar. Darum hat
Björnson seine ganze Pädagogik in einer nackt prosaischen Rede seines Helden,
eines genialen Schulmannes, hingestellt, und die Handlung des Romans ent¬
wickelt sich an den Folgen, welche diese Rede und die Art ihres Vortrages vor
ewem geladenen Publikum einer kleinen norwegischen Hafenstadt nach sich zieht:
das ist das dramatische Leben. Thomas Nendalen wird als der Abkömmling
"nes alten, ursprünglich von einem deutschen Abenteurer des dreißigjährigen
Krieges abstammenden Geschlechtes von meistens wilden, leidenschaftlichen, rück¬
sichtslos selbstsüchtigen Männern dargestellt. Seine edle Mutter, die vor ihrer
Heirat Lehrerin war und nach dem Tode ihres rohen Gatten, des John Kurt,
sich eine Mädchenschule errichtet, hat ihm den pädagogischen Beruf nahe gelegt.
Nach einer gründlichen eignen Bildung und nach genauem Studium der Schul¬
einrichtungen in Dentschland, Frankreich, England und Amerika heimgekehrt,
trügt Thomas Nendalen (er führt den Namen der Mutter) mit ererbter Rück¬
sichtslosigkeit seine revolutionären Ideen den Mitbürgern vor und ruft bei
diesen, da er ihnen ihre Heuchelei und ihre Prüderie, ihre geheimen Sünden
und ihren wucherischer Geschäftssinn auf deu Kopf zugesagt hat, einen
Sturm von Entrüstung hervor, der dann zu einem heftigen Zeitungskriegc
führt. Diese Schilderungen der Aufregung in der Stadt nach jener Rede sind
vo» sprühendem Humor. Dann werden wir in das Leben der jungen Pen-
sionsmcidche» eingeführt; die Bilder, welche Björnson hier von seinen lieblichen
Backfischen entwirft, sind wahrhaft entzückend. Natürlich ist die Stadt gegen die
Schule und ihren reformatorischen Leiter aufgebracht: jeden äußern Zufall
schneidet man ihm aufs Kerbholz. Und in der That geschieht ein Unglück, wie
es alle Tage vorkommt. Ein Mädchen wird von einem leichtfertigen Offizier
verführt. Mit der ganzen vollendeten Kunst des Meisters hat Björnson diese
Liebesgeschichte dargestellt, allein wenn er zum Schlüsse die Macht des
Verführers auf das Mädchen auf jene magischen Mächte zurückführt, die wir


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[0331] Bjönistjerne Björnson. einem Kollegium von jungen Männern und Frauen Vorlesungen über Ana¬ tomie hält. Wie mau sich nun auch zu diesem dogmatische» Gehalte von Björnsons Roman stellen mag, so wird man doch nicht umhin können, die große Kunst zu bewundern, mit der er geschriebell ist. „Thomas Nendalen" ist weit ent¬ fernt davon, ein pädagogischer Roman nach dem Muster des „Emil" von I- I. Rousseau oder des „Wilhelm Meister" von Goethe zu sein. Björnsons Realismus fiel es nicht ein, ein immerhin mit Willkür geschaffenes Ideal zu konstruiren, welches gleichsam die Nechenprobe seiner Grundsätze sein sollte; er stellt nicht die Folgen seiner neuen Pädagogik dar, sondern ist sich in seinem großen künstlerischen Sinne bewußt, daß derartige theoretische Tendenzen über¬ haupt sich nicht in Poesie auflösen lassen. Nichts in der Welt ist poetisch, wenn es nicht in Beziehung zu einem Streben des Menschen kommt, Liebe und Haß allein machen die Dinge dichterisch wertvoll und verwendbar. Darum hat Björnson seine ganze Pädagogik in einer nackt prosaischen Rede seines Helden, eines genialen Schulmannes, hingestellt, und die Handlung des Romans ent¬ wickelt sich an den Folgen, welche diese Rede und die Art ihres Vortrages vor ewem geladenen Publikum einer kleinen norwegischen Hafenstadt nach sich zieht: das ist das dramatische Leben. Thomas Nendalen wird als der Abkömmling "nes alten, ursprünglich von einem deutschen Abenteurer des dreißigjährigen Krieges abstammenden Geschlechtes von meistens wilden, leidenschaftlichen, rück¬ sichtslos selbstsüchtigen Männern dargestellt. Seine edle Mutter, die vor ihrer Heirat Lehrerin war und nach dem Tode ihres rohen Gatten, des John Kurt, sich eine Mädchenschule errichtet, hat ihm den pädagogischen Beruf nahe gelegt. Nach einer gründlichen eignen Bildung und nach genauem Studium der Schul¬ einrichtungen in Dentschland, Frankreich, England und Amerika heimgekehrt, trügt Thomas Nendalen (er führt den Namen der Mutter) mit ererbter Rück¬ sichtslosigkeit seine revolutionären Ideen den Mitbürgern vor und ruft bei diesen, da er ihnen ihre Heuchelei und ihre Prüderie, ihre geheimen Sünden und ihren wucherischer Geschäftssinn auf deu Kopf zugesagt hat, einen Sturm von Entrüstung hervor, der dann zu einem heftigen Zeitungskriegc führt. Diese Schilderungen der Aufregung in der Stadt nach jener Rede sind vo» sprühendem Humor. Dann werden wir in das Leben der jungen Pen- sionsmcidche» eingeführt; die Bilder, welche Björnson hier von seinen lieblichen Backfischen entwirft, sind wahrhaft entzückend. Natürlich ist die Stadt gegen die Schule und ihren reformatorischen Leiter aufgebracht: jeden äußern Zufall schneidet man ihm aufs Kerbholz. Und in der That geschieht ein Unglück, wie es alle Tage vorkommt. Ein Mädchen wird von einem leichtfertigen Offizier verführt. Mit der ganzen vollendeten Kunst des Meisters hat Björnson diese Liebesgeschichte dargestellt, allein wenn er zum Schlüsse die Macht des Verführers auf das Mädchen auf jene magischen Mächte zurückführt, die wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/331>, abgerufen am 22.07.2024.