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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Björnstjorne Björnson.

oben erwähnt haben, so hat er den Leser gegen sich, der bis dahin schlechter¬
dings nichts davon gemerkt hat. Auch die Welt im Roman ist durchaus
nicht geneigt, diese Geschichte anders anzusehen, und Björnson geht in seiner
Satire soweit, zu zeigen, wie niederträchtig die Gesellschaft jenes kleinen Nestes
ist. Jener Offizier leugnet durchaus nicht seinen Handel mit dem Mädchen,
aber gleichwohl hält er sich für berechtigt, sie zu verlassen und mit Geld ab¬
zufinden; zu gleicher Zeit wirbt er um eine Schulkameradin der Verführten,
deren reiche Mitgift ihm zu einer Karriere bei Hofe verhelfen soll. Jedermann
kennt die Vergangenheit des Offiziers: die Braut selbst kennt sie, der Pastor
kennt sie, und doch läßt man die Niederträchtigkeit zu, bis im letzten Augen¬
blicke, gerade als die kirchliche Einsegnung stattfinden soll, die verlassene Ver¬
führte, das Kind auf dem Arme, dazwischentritt und den Akt verhindert. Mit
diesem großen dramatischen Effekt schließt der Roman. Das Schicksal der
Schule jedoch erscheint gesichert: der Dichter giebt die Hoffnung nicht auf, das;
seine Grundsätze siegreich sein werden.

Wenn trotz der vielen einzelnen Schönheiten in der reichen Fülle von
heitern und anmutvollen Menschenbildern der Roman als Ganzes keinen recht
befriedigenden Eindruck hinterläßt, so liegt dies zunächst an dem Mangel von
Einheit, der ihm vorgeworfen werden muß. Die ganze, den dritten Teil des
Romans einnehmende Einleitung: die Vor- und Jugendgeschichte Thomas Ren-
dalens und seines Geschlechtes, so meisterhaft sie an sich ist, so bewunderungs-
würdig der Ton der alten Chronik in ihr getroffen ist, steht in gar keinem
innern organischen Zusammenhange weder zum Grundgedanken noch zur Hand¬
lung des Romans. Vielfach überragt der Dichter sowohl durch seine Gestal¬
tungskraft als durch seine naive künstlerische Freude an der einzelnen Figur
den theoretischen Neuerer, der noch vielfach umstrittene Theorien als ausge¬
machte Wahrheiten hinstellt und den Leser verwirrt.

Georg Brandes feiert in seinem Essay Björnson als ein Phänomen unter
den Dichtern: als den Menschen ohne Nerven sozusagen. Brandes schrieb im
Jahre 1881. Inzwischen haben sich auch die Nerven bei dem großen Norweger
geltend gemacht, und seine klassische Kunst leidet darunter.


Moritz Necker.


Björnstjorne Björnson.

oben erwähnt haben, so hat er den Leser gegen sich, der bis dahin schlechter¬
dings nichts davon gemerkt hat. Auch die Welt im Roman ist durchaus
nicht geneigt, diese Geschichte anders anzusehen, und Björnson geht in seiner
Satire soweit, zu zeigen, wie niederträchtig die Gesellschaft jenes kleinen Nestes
ist. Jener Offizier leugnet durchaus nicht seinen Handel mit dem Mädchen,
aber gleichwohl hält er sich für berechtigt, sie zu verlassen und mit Geld ab¬
zufinden; zu gleicher Zeit wirbt er um eine Schulkameradin der Verführten,
deren reiche Mitgift ihm zu einer Karriere bei Hofe verhelfen soll. Jedermann
kennt die Vergangenheit des Offiziers: die Braut selbst kennt sie, der Pastor
kennt sie, und doch läßt man die Niederträchtigkeit zu, bis im letzten Augen¬
blicke, gerade als die kirchliche Einsegnung stattfinden soll, die verlassene Ver¬
führte, das Kind auf dem Arme, dazwischentritt und den Akt verhindert. Mit
diesem großen dramatischen Effekt schließt der Roman. Das Schicksal der
Schule jedoch erscheint gesichert: der Dichter giebt die Hoffnung nicht auf, das;
seine Grundsätze siegreich sein werden.

Wenn trotz der vielen einzelnen Schönheiten in der reichen Fülle von
heitern und anmutvollen Menschenbildern der Roman als Ganzes keinen recht
befriedigenden Eindruck hinterläßt, so liegt dies zunächst an dem Mangel von
Einheit, der ihm vorgeworfen werden muß. Die ganze, den dritten Teil des
Romans einnehmende Einleitung: die Vor- und Jugendgeschichte Thomas Ren-
dalens und seines Geschlechtes, so meisterhaft sie an sich ist, so bewunderungs-
würdig der Ton der alten Chronik in ihr getroffen ist, steht in gar keinem
innern organischen Zusammenhange weder zum Grundgedanken noch zur Hand¬
lung des Romans. Vielfach überragt der Dichter sowohl durch seine Gestal¬
tungskraft als durch seine naive künstlerische Freude an der einzelnen Figur
den theoretischen Neuerer, der noch vielfach umstrittene Theorien als ausge¬
machte Wahrheiten hinstellt und den Leser verwirrt.

Georg Brandes feiert in seinem Essay Björnson als ein Phänomen unter
den Dichtern: als den Menschen ohne Nerven sozusagen. Brandes schrieb im
Jahre 1881. Inzwischen haben sich auch die Nerven bei dem großen Norweger
geltend gemacht, und seine klassische Kunst leidet darunter.


Moritz Necker.


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[0332] Björnstjorne Björnson. oben erwähnt haben, so hat er den Leser gegen sich, der bis dahin schlechter¬ dings nichts davon gemerkt hat. Auch die Welt im Roman ist durchaus nicht geneigt, diese Geschichte anders anzusehen, und Björnson geht in seiner Satire soweit, zu zeigen, wie niederträchtig die Gesellschaft jenes kleinen Nestes ist. Jener Offizier leugnet durchaus nicht seinen Handel mit dem Mädchen, aber gleichwohl hält er sich für berechtigt, sie zu verlassen und mit Geld ab¬ zufinden; zu gleicher Zeit wirbt er um eine Schulkameradin der Verführten, deren reiche Mitgift ihm zu einer Karriere bei Hofe verhelfen soll. Jedermann kennt die Vergangenheit des Offiziers: die Braut selbst kennt sie, der Pastor kennt sie, und doch läßt man die Niederträchtigkeit zu, bis im letzten Augen¬ blicke, gerade als die kirchliche Einsegnung stattfinden soll, die verlassene Ver¬ führte, das Kind auf dem Arme, dazwischentritt und den Akt verhindert. Mit diesem großen dramatischen Effekt schließt der Roman. Das Schicksal der Schule jedoch erscheint gesichert: der Dichter giebt die Hoffnung nicht auf, das; seine Grundsätze siegreich sein werden. Wenn trotz der vielen einzelnen Schönheiten in der reichen Fülle von heitern und anmutvollen Menschenbildern der Roman als Ganzes keinen recht befriedigenden Eindruck hinterläßt, so liegt dies zunächst an dem Mangel von Einheit, der ihm vorgeworfen werden muß. Die ganze, den dritten Teil des Romans einnehmende Einleitung: die Vor- und Jugendgeschichte Thomas Ren- dalens und seines Geschlechtes, so meisterhaft sie an sich ist, so bewunderungs- würdig der Ton der alten Chronik in ihr getroffen ist, steht in gar keinem innern organischen Zusammenhange weder zum Grundgedanken noch zur Hand¬ lung des Romans. Vielfach überragt der Dichter sowohl durch seine Gestal¬ tungskraft als durch seine naive künstlerische Freude an der einzelnen Figur den theoretischen Neuerer, der noch vielfach umstrittene Theorien als ausge¬ machte Wahrheiten hinstellt und den Leser verwirrt. Georg Brandes feiert in seinem Essay Björnson als ein Phänomen unter den Dichtern: als den Menschen ohne Nerven sozusagen. Brandes schrieb im Jahre 1881. Inzwischen haben sich auch die Nerven bei dem großen Norweger geltend gemacht, und seine klassische Kunst leidet darunter. Moritz Necker.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/332>, abgerufen am 03.07.2024.