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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Björnstjerne Björnson.

weist auch pädagogische Romane auf; das Ideal der Erziehung ist ebensowenig
stabil, als irgend ein andres Menschenideal.

Vjörnson sagt also (S. 146 ff.): "In der jüngsten Zeit hat man ange¬
fangen, die Welt- und Literaturgeschichte zum Range von charakterbildenden
Fächern zu erheben. Wenn diese Wissensgebiete besser für den Schnlgebmnch
bearbeitet sein werden, als sie es jetzt sind -- dann mag ihnen eine größere
Bedeutung in dieser Hinsicht eingeräumt werden. Veredelnd wirkt es natürlich
immer auf das junge Gemüt, wenn ihm große, edle Beispiele vor Augen ge¬
führt, wenn ihm erhabene Gedanken mitgeteilt werden, und es einen Überblick
gewinnt über den Lebensgang der Menschheit sowohl wie eines einzelnen Volkes,
eines einzelnen großen Mannes. Aber die Hauptsache darf ihm niemals das
werden, was ihm von andern erzählt wird. Das wichtigste für den Menschen
ist, daß er über sich selbst wachen, ans sich selbst achten lernt. . . . Diese Worte
des Herbert Spencer werden bald das Programm der ganzen Welt werden.
Vevvr sie nicht anch für die Schule das wichtigste werdeu, erhalten anch die
übrigen Fächer nicht ihren richtigen Platz im Erziehungswesen. Aber auf sich
und seine Kinder achten lernen -- das ist in sittlicher Beziehung von der höchsten
Bedeutung; hierauf kommt alles an. Erfahre ich schon in früher Jugend, aus
welchen Elementen mein Körper besteht und wie er arbeitet; weiß ich, wie ich
ihm schaden oder nützen kann -- ja nicht bloß mir selbst, sondern auch denen,
welchen ich dereinst das Leben gebe und die von mir abhängig werden --, so
ist dieses mein Wissen nicht nur mein zuverlässigster Wächter, es verleiht mir in
der Regel auch den Willen, ihm Folge zu leisten. Nichts weckt stärker das
Gefühl der Verantwortlichkeit, als die Einsicht in die Natur der Dinge. Aber
das Wissen darf nicht zu spät kommen. Ich brauche wohl nicht erst auszu-
führen, daß die gewöhnliche Schule in dieser Hinsicht gar zu wenig leistet ^
und dieses wenige nicht in der richtigen Weise. Ich muß wissen, warum mich
dies oder jenes gelehrt wird. Man muß offenherzig gegen mich sein; mir
nichts verheimlichen; gerade das aber, was jetzt verheimlicht wird, ist das
wichtigste."

Von diesen Grundsätzen aus fordert Björnson in großen Zügen eine Um¬
gestaltung des jetzigen Unterrichts. Das Schwergewicht fällt natürlich auf die
Naturwissenschaften, in denen der Zögling ja durch das augenscheinliche Experiment
von jeder aufgestellten Behauptung überzeugt werden kann und nicht bloß zu
glauben braucht, was andre erzählen. Und die zweite Forderung ist, daß an
jeder Schule zugleich auch ein Arzt am Unterrichte mitwirke. Auf die Ein¬
wendung: "Kinder dürfen nicht alles erfahren," giebt er zur Antwort: Die
Bauernerfcchrnug lehre das Gegenteil. "Auf dem Lande wüßten die Kinder
von früh auf alles; und wenn auch auf dem Lande die Unsittlichkeit groß sei,
so rühre das nicht davon her, sondern von etwas ganz anderm." (S. 163.)
Es wird enthusiastisch von einer Schule in Boston erzählt, wo eine junge Dame


Björnstjerne Björnson.

weist auch pädagogische Romane auf; das Ideal der Erziehung ist ebensowenig
stabil, als irgend ein andres Menschenideal.

Vjörnson sagt also (S. 146 ff.): „In der jüngsten Zeit hat man ange¬
fangen, die Welt- und Literaturgeschichte zum Range von charakterbildenden
Fächern zu erheben. Wenn diese Wissensgebiete besser für den Schnlgebmnch
bearbeitet sein werden, als sie es jetzt sind — dann mag ihnen eine größere
Bedeutung in dieser Hinsicht eingeräumt werden. Veredelnd wirkt es natürlich
immer auf das junge Gemüt, wenn ihm große, edle Beispiele vor Augen ge¬
führt, wenn ihm erhabene Gedanken mitgeteilt werden, und es einen Überblick
gewinnt über den Lebensgang der Menschheit sowohl wie eines einzelnen Volkes,
eines einzelnen großen Mannes. Aber die Hauptsache darf ihm niemals das
werden, was ihm von andern erzählt wird. Das wichtigste für den Menschen
ist, daß er über sich selbst wachen, ans sich selbst achten lernt. . . . Diese Worte
des Herbert Spencer werden bald das Programm der ganzen Welt werden.
Vevvr sie nicht anch für die Schule das wichtigste werdeu, erhalten anch die
übrigen Fächer nicht ihren richtigen Platz im Erziehungswesen. Aber auf sich
und seine Kinder achten lernen — das ist in sittlicher Beziehung von der höchsten
Bedeutung; hierauf kommt alles an. Erfahre ich schon in früher Jugend, aus
welchen Elementen mein Körper besteht und wie er arbeitet; weiß ich, wie ich
ihm schaden oder nützen kann — ja nicht bloß mir selbst, sondern auch denen,
welchen ich dereinst das Leben gebe und die von mir abhängig werden —, so
ist dieses mein Wissen nicht nur mein zuverlässigster Wächter, es verleiht mir in
der Regel auch den Willen, ihm Folge zu leisten. Nichts weckt stärker das
Gefühl der Verantwortlichkeit, als die Einsicht in die Natur der Dinge. Aber
das Wissen darf nicht zu spät kommen. Ich brauche wohl nicht erst auszu-
führen, daß die gewöhnliche Schule in dieser Hinsicht gar zu wenig leistet ^
und dieses wenige nicht in der richtigen Weise. Ich muß wissen, warum mich
dies oder jenes gelehrt wird. Man muß offenherzig gegen mich sein; mir
nichts verheimlichen; gerade das aber, was jetzt verheimlicht wird, ist das
wichtigste."

Von diesen Grundsätzen aus fordert Björnson in großen Zügen eine Um¬
gestaltung des jetzigen Unterrichts. Das Schwergewicht fällt natürlich auf die
Naturwissenschaften, in denen der Zögling ja durch das augenscheinliche Experiment
von jeder aufgestellten Behauptung überzeugt werden kann und nicht bloß zu
glauben braucht, was andre erzählen. Und die zweite Forderung ist, daß an
jeder Schule zugleich auch ein Arzt am Unterrichte mitwirke. Auf die Ein¬
wendung: „Kinder dürfen nicht alles erfahren," giebt er zur Antwort: Die
Bauernerfcchrnug lehre das Gegenteil. „Auf dem Lande wüßten die Kinder
von früh auf alles; und wenn auch auf dem Lande die Unsittlichkeit groß sei,
so rühre das nicht davon her, sondern von etwas ganz anderm." (S. 163.)
Es wird enthusiastisch von einer Schule in Boston erzählt, wo eine junge Dame


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[0330] Björnstjerne Björnson. weist auch pädagogische Romane auf; das Ideal der Erziehung ist ebensowenig stabil, als irgend ein andres Menschenideal. Vjörnson sagt also (S. 146 ff.): „In der jüngsten Zeit hat man ange¬ fangen, die Welt- und Literaturgeschichte zum Range von charakterbildenden Fächern zu erheben. Wenn diese Wissensgebiete besser für den Schnlgebmnch bearbeitet sein werden, als sie es jetzt sind — dann mag ihnen eine größere Bedeutung in dieser Hinsicht eingeräumt werden. Veredelnd wirkt es natürlich immer auf das junge Gemüt, wenn ihm große, edle Beispiele vor Augen ge¬ führt, wenn ihm erhabene Gedanken mitgeteilt werden, und es einen Überblick gewinnt über den Lebensgang der Menschheit sowohl wie eines einzelnen Volkes, eines einzelnen großen Mannes. Aber die Hauptsache darf ihm niemals das werden, was ihm von andern erzählt wird. Das wichtigste für den Menschen ist, daß er über sich selbst wachen, ans sich selbst achten lernt. . . . Diese Worte des Herbert Spencer werden bald das Programm der ganzen Welt werden. Vevvr sie nicht anch für die Schule das wichtigste werdeu, erhalten anch die übrigen Fächer nicht ihren richtigen Platz im Erziehungswesen. Aber auf sich und seine Kinder achten lernen — das ist in sittlicher Beziehung von der höchsten Bedeutung; hierauf kommt alles an. Erfahre ich schon in früher Jugend, aus welchen Elementen mein Körper besteht und wie er arbeitet; weiß ich, wie ich ihm schaden oder nützen kann — ja nicht bloß mir selbst, sondern auch denen, welchen ich dereinst das Leben gebe und die von mir abhängig werden —, so ist dieses mein Wissen nicht nur mein zuverlässigster Wächter, es verleiht mir in der Regel auch den Willen, ihm Folge zu leisten. Nichts weckt stärker das Gefühl der Verantwortlichkeit, als die Einsicht in die Natur der Dinge. Aber das Wissen darf nicht zu spät kommen. Ich brauche wohl nicht erst auszu- führen, daß die gewöhnliche Schule in dieser Hinsicht gar zu wenig leistet ^ und dieses wenige nicht in der richtigen Weise. Ich muß wissen, warum mich dies oder jenes gelehrt wird. Man muß offenherzig gegen mich sein; mir nichts verheimlichen; gerade das aber, was jetzt verheimlicht wird, ist das wichtigste." Von diesen Grundsätzen aus fordert Björnson in großen Zügen eine Um¬ gestaltung des jetzigen Unterrichts. Das Schwergewicht fällt natürlich auf die Naturwissenschaften, in denen der Zögling ja durch das augenscheinliche Experiment von jeder aufgestellten Behauptung überzeugt werden kann und nicht bloß zu glauben braucht, was andre erzählen. Und die zweite Forderung ist, daß an jeder Schule zugleich auch ein Arzt am Unterrichte mitwirke. Auf die Ein¬ wendung: „Kinder dürfen nicht alles erfahren," giebt er zur Antwort: Die Bauernerfcchrnug lehre das Gegenteil. „Auf dem Lande wüßten die Kinder von früh auf alles; und wenn auch auf dem Lande die Unsittlichkeit groß sei, so rühre das nicht davon her, sondern von etwas ganz anderm." (S. 163.) Es wird enthusiastisch von einer Schule in Boston erzählt, wo eine junge Dame

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/330>, abgerufen am 22.07.2024.