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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Björnstjerno Björnson.

gewissen Bedingungen sich dadurch in einen erhitzten Zustand versetzen. Auf
diese Weise folgten viele Bekehrungen, namentlich unter den Frauen---- Jetzt
kommen wir zu dem, was für die Frau das Gefährlichste ist. Gewisse Menschen
haben die Gabe, andre, namentlich Frauen, in diesen Zustand zu versetzen, ohne
das übliche mechanische Mittel, ohne daß sie ihnen sehr nahe sind, ohne irgend
welche Berührung, lediglich durch ihren Blick. Sie können die Betreffenden
zwingen, sie anzusehen, und während die Augen aus einander gerichtet sind,
ihren Willen sich unterjochen." Von einer der größten Sängerinnen der Welt
(Nilson?) wird erzählt: "Als sie eines Tages im Eisenbahneoupee stand -- der
Zug hatte gerade auf einer Station Halt gemacht und sie blickte zum Fenster
hinaus -- fühlte sie sich unwohl. Sie mußte sich umwenden, und da bemerkte
sie ein Paar stechender Augen, welche sofort in die ihren hineinstarrten. Sie
eilte sofort hinaus und ließ sich ein andres Coupee anweisen; aber der Mann
kam ihr nach; vermutlich kannte er seine Macht und wollte davon Gebrauch
wachen. Sie fand ihren Impresario und bat ihn, sie von "diesen grünen Augen"
^ befreien. Das geschah. Aber sie versicherte, sonst wäre sie verloren gewesen.
Die Sängerin nun war sich zufällig ihrer Schwäche bewußt "vird aus dieser
zweifelhaften Anekdote jetzt gefolgert). Wie viele aber sind das? Namentlich
wenn die Berührung hinzukommt, sind sie sofort verloren. Ein Mann, der
nicht weiß, was das ist. meint natürlich, die Frau habe die Absicht weiter¬
zugehen, und handelt darnach. Aber dieser Absicht, dieses freien Willens bedarf
es nicht erst. Ich kann versichern, daß manche Frau zu Falle gebracht wird,
die daran so unschuldig ist wie ein unwissendes Kind." (S. 321.)

Und aus diesen Thatsachen zieht Björnson die Folgerung, daß die Frauen
durch nichts besser geschützt, durch nichts mehr sittlich gefördert werden können,
als indem man sie in die Kenntnis derselben methodisch und bei Zeiten ein¬
weiht. Methodisch einweihe! Denn er bleibt bei diesem einzelnen Falle nicht
stehen, sondern er schließt die ganze moderne Art, die Jugend und insbesondre
die weibliche Jugend zu bilden und zu erziehen, in seine Betrachtung ein, die
auf eine tiefgreifende Reform des gesamten Erziehungswesens abzielt. Björnson
betritt damit jeues große Gebiet von Streitfragen, welche augenblicklich die
ganze pädagogische und Laienwelt in Atem halten. Schon sein Landsmann
Kielland, der in seinein Romane "Gift" das Schulwesen, den heimatlichen
Ghmnasialunterricht humoristisch darstellte, ist ihm darin vorangegangen;
"Thomas Nendalen" erscheint fast wie eine beabsichtigte Ergänzung zu Kiellands
Roman. Es ist begreiflich, daß diese pädagogischen Fragen von den ernstesten
Schriftstellern behandelt werden. Unser Jahrhundert hat mit seinen die Welt
umgestaltenden Entdeckungen und Erfindungen auf technologischen und natur¬
wissenschaftlichem Gebiete auch das Ideal der Bildung umgeschaffen, und wer
ist berufener an der neuen Gestaltung desselben mitzuarbeiten als der Dichter?
und vollends der Romanschriftsteller? Jede Periode, welche neues geschaffen hat,


Grenzboten III. 1386. ^
Björnstjerno Björnson.

gewissen Bedingungen sich dadurch in einen erhitzten Zustand versetzen. Auf
diese Weise folgten viele Bekehrungen, namentlich unter den Frauen---- Jetzt
kommen wir zu dem, was für die Frau das Gefährlichste ist. Gewisse Menschen
haben die Gabe, andre, namentlich Frauen, in diesen Zustand zu versetzen, ohne
das übliche mechanische Mittel, ohne daß sie ihnen sehr nahe sind, ohne irgend
welche Berührung, lediglich durch ihren Blick. Sie können die Betreffenden
zwingen, sie anzusehen, und während die Augen aus einander gerichtet sind,
ihren Willen sich unterjochen." Von einer der größten Sängerinnen der Welt
(Nilson?) wird erzählt: „Als sie eines Tages im Eisenbahneoupee stand — der
Zug hatte gerade auf einer Station Halt gemacht und sie blickte zum Fenster
hinaus — fühlte sie sich unwohl. Sie mußte sich umwenden, und da bemerkte
sie ein Paar stechender Augen, welche sofort in die ihren hineinstarrten. Sie
eilte sofort hinaus und ließ sich ein andres Coupee anweisen; aber der Mann
kam ihr nach; vermutlich kannte er seine Macht und wollte davon Gebrauch
wachen. Sie fand ihren Impresario und bat ihn, sie von »diesen grünen Augen«
^ befreien. Das geschah. Aber sie versicherte, sonst wäre sie verloren gewesen.
Die Sängerin nun war sich zufällig ihrer Schwäche bewußt »vird aus dieser
zweifelhaften Anekdote jetzt gefolgert). Wie viele aber sind das? Namentlich
wenn die Berührung hinzukommt, sind sie sofort verloren. Ein Mann, der
nicht weiß, was das ist. meint natürlich, die Frau habe die Absicht weiter¬
zugehen, und handelt darnach. Aber dieser Absicht, dieses freien Willens bedarf
es nicht erst. Ich kann versichern, daß manche Frau zu Falle gebracht wird,
die daran so unschuldig ist wie ein unwissendes Kind." (S. 321.)

Und aus diesen Thatsachen zieht Björnson die Folgerung, daß die Frauen
durch nichts besser geschützt, durch nichts mehr sittlich gefördert werden können,
als indem man sie in die Kenntnis derselben methodisch und bei Zeiten ein¬
weiht. Methodisch einweihe! Denn er bleibt bei diesem einzelnen Falle nicht
stehen, sondern er schließt die ganze moderne Art, die Jugend und insbesondre
die weibliche Jugend zu bilden und zu erziehen, in seine Betrachtung ein, die
auf eine tiefgreifende Reform des gesamten Erziehungswesens abzielt. Björnson
betritt damit jeues große Gebiet von Streitfragen, welche augenblicklich die
ganze pädagogische und Laienwelt in Atem halten. Schon sein Landsmann
Kielland, der in seinein Romane „Gift" das Schulwesen, den heimatlichen
Ghmnasialunterricht humoristisch darstellte, ist ihm darin vorangegangen;
"Thomas Nendalen" erscheint fast wie eine beabsichtigte Ergänzung zu Kiellands
Roman. Es ist begreiflich, daß diese pädagogischen Fragen von den ernstesten
Schriftstellern behandelt werden. Unser Jahrhundert hat mit seinen die Welt
umgestaltenden Entdeckungen und Erfindungen auf technologischen und natur¬
wissenschaftlichem Gebiete auch das Ideal der Bildung umgeschaffen, und wer
ist berufener an der neuen Gestaltung desselben mitzuarbeiten als der Dichter?
und vollends der Romanschriftsteller? Jede Periode, welche neues geschaffen hat,


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[0329] Björnstjerno Björnson. gewissen Bedingungen sich dadurch in einen erhitzten Zustand versetzen. Auf diese Weise folgten viele Bekehrungen, namentlich unter den Frauen---- Jetzt kommen wir zu dem, was für die Frau das Gefährlichste ist. Gewisse Menschen haben die Gabe, andre, namentlich Frauen, in diesen Zustand zu versetzen, ohne das übliche mechanische Mittel, ohne daß sie ihnen sehr nahe sind, ohne irgend welche Berührung, lediglich durch ihren Blick. Sie können die Betreffenden zwingen, sie anzusehen, und während die Augen aus einander gerichtet sind, ihren Willen sich unterjochen." Von einer der größten Sängerinnen der Welt (Nilson?) wird erzählt: „Als sie eines Tages im Eisenbahneoupee stand — der Zug hatte gerade auf einer Station Halt gemacht und sie blickte zum Fenster hinaus — fühlte sie sich unwohl. Sie mußte sich umwenden, und da bemerkte sie ein Paar stechender Augen, welche sofort in die ihren hineinstarrten. Sie eilte sofort hinaus und ließ sich ein andres Coupee anweisen; aber der Mann kam ihr nach; vermutlich kannte er seine Macht und wollte davon Gebrauch wachen. Sie fand ihren Impresario und bat ihn, sie von »diesen grünen Augen« ^ befreien. Das geschah. Aber sie versicherte, sonst wäre sie verloren gewesen. Die Sängerin nun war sich zufällig ihrer Schwäche bewußt »vird aus dieser zweifelhaften Anekdote jetzt gefolgert). Wie viele aber sind das? Namentlich wenn die Berührung hinzukommt, sind sie sofort verloren. Ein Mann, der nicht weiß, was das ist. meint natürlich, die Frau habe die Absicht weiter¬ zugehen, und handelt darnach. Aber dieser Absicht, dieses freien Willens bedarf es nicht erst. Ich kann versichern, daß manche Frau zu Falle gebracht wird, die daran so unschuldig ist wie ein unwissendes Kind." (S. 321.) Und aus diesen Thatsachen zieht Björnson die Folgerung, daß die Frauen durch nichts besser geschützt, durch nichts mehr sittlich gefördert werden können, als indem man sie in die Kenntnis derselben methodisch und bei Zeiten ein¬ weiht. Methodisch einweihe! Denn er bleibt bei diesem einzelnen Falle nicht stehen, sondern er schließt die ganze moderne Art, die Jugend und insbesondre die weibliche Jugend zu bilden und zu erziehen, in seine Betrachtung ein, die auf eine tiefgreifende Reform des gesamten Erziehungswesens abzielt. Björnson betritt damit jeues große Gebiet von Streitfragen, welche augenblicklich die ganze pädagogische und Laienwelt in Atem halten. Schon sein Landsmann Kielland, der in seinein Romane „Gift" das Schulwesen, den heimatlichen Ghmnasialunterricht humoristisch darstellte, ist ihm darin vorangegangen; "Thomas Nendalen" erscheint fast wie eine beabsichtigte Ergänzung zu Kiellands Roman. Es ist begreiflich, daß diese pädagogischen Fragen von den ernstesten Schriftstellern behandelt werden. Unser Jahrhundert hat mit seinen die Welt umgestaltenden Entdeckungen und Erfindungen auf technologischen und natur¬ wissenschaftlichem Gebiete auch das Ideal der Bildung umgeschaffen, und wer ist berufener an der neuen Gestaltung desselben mitzuarbeiten als der Dichter? und vollends der Romanschriftsteller? Jede Periode, welche neues geschaffen hat, Grenzboten III. 1386. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/329>, abgerufen am 22.07.2024.