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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Björnstjerne Björnson.

Volte seine überirdische Begabung bezeugen will, bricht ihm sein Weib nach
ihrer letzten Kraftanstrengung unter dem Einflüsse seines Willens tot in den
Armen zusammen. Das verblüfft ihn, blitzartig durchschauert ihn der erste
Zweifel, den sein Weib schon längst gehegt hat, der ihn aber auch wie ein
Blitz niederschlägt, sodaß er tot neben der Geliebten zusammenbricht.

Diese Tragödie führte uns Björnson mit der ganzen Kunst des einstigen
Thcatcrdircktors und der Anschaulichkeit des Dichters vor. Den- großen Volks¬
szenen mit der dazwischen schallenden, der himmelstürmenden Kirchenglocke ver¬
meinte mal?, hingerissen von der Leidenschaft des Sprechers, selbst beizuwohnen.
Man bewunderte die einfache Größe der Erfindung, aber -- man konnte
schließlich doch nicht umhin, sich zu gestehen, daß dieses kühnste aller frcigeistigen
Werke auf sehr vagen Prämisse" aufgebaut war, baß diese idealistische Patho¬
logie im Drama wenig angebracht sei, da die natürlichen Thatsachen und Kräfte,
die es voraussetzt, noch keineswegs weder allgemein bekannt, noch auch nur un¬
bestritten von der Wissenschaft sind. Der Zuschauer würde eher geneigt sein,
der Liebe jene Heilkraft zuzuschreiben, da er nun einmal in dieser Anschauung
von der Allgewalt des Eros aufgewachsen, aber dem Hypnotismus? dem Mag¬
netismus? Die Bühne würde sich ihm uuter der Hand aus dem Schauplatze
sittlicher Vorgänge bestenfalls zu einem physiologischen Hörsaale verwandeln.
Bewunderungswürdig war es jedenfalls, wie Björnson seinen Gedanken poetisch
verkörperte.

Mit diesem geteilten Gefühle schieden wir von ihm, und ich hätte keinen
Anlaß zu diesen Erinnerungen gehabt, wenn mich nicht der neue Roman
Björnsons auf sie zurückgeführt hätte. Denn offenbar gaben ihm zu diesem
Roman jene neuen Forschungen und Theorien, die er in seinem sanguinischen
Optimismus -- übrigens der liebenswertesten Eigenschaft eines Dichters --
für gesicherter hält, als sie sind, deu ersten Anstoß. Allerdings wußte er diese
Anregungen prinzipiell zu vertiefen und so den Blick auszuweiden auf die Be¬
trachtung von modernen Zustanden von einschneidender Wichtigkeit, und damit ein
Werk von vielleicht zweifelhaftem künstlerischen Werte und bestreitbaren sittlichen
Tendenzen zu schaffen, jedenfalls aber eines, das nicht verfehlen wird, weite Kreise
in Norwegen wie in Deutschland zu beschäftigen. Denn überall giebt es Mütter
und Väter, welche Anlaß haben, über die Frage nachzudenken: Wie erziehen
wir unsre Töchter? Und diese Frage wirft Björnson im "Thomas Nendalen" auf.

Wir wollen zuvor das oben abgebrochene Zitat beschließen. "In diesen
abnormen Zustand öder WillcnsvhnmacW aber -- fo heißt es weiter -- könne
der Einzelne auch sich selbst versetzen, die einen dnrch schwere Anstrengung, andre
schon durch den bloßen Wille". Das geschehe dadurch, daß sie unverwandt auf
irgend einen Gegenstand hinstarrten, entweder in Gedanken oder mit leiblichen
Angen. Die meisten von uns seien einigermaßen mit der Wirkung bekannt,
welche dadurch hervorgerufen werde; aber nur Nervenschwache könnten unter


Björnstjerne Björnson.

Volte seine überirdische Begabung bezeugen will, bricht ihm sein Weib nach
ihrer letzten Kraftanstrengung unter dem Einflüsse seines Willens tot in den
Armen zusammen. Das verblüfft ihn, blitzartig durchschauert ihn der erste
Zweifel, den sein Weib schon längst gehegt hat, der ihn aber auch wie ein
Blitz niederschlägt, sodaß er tot neben der Geliebten zusammenbricht.

Diese Tragödie führte uns Björnson mit der ganzen Kunst des einstigen
Thcatcrdircktors und der Anschaulichkeit des Dichters vor. Den- großen Volks¬
szenen mit der dazwischen schallenden, der himmelstürmenden Kirchenglocke ver¬
meinte mal?, hingerissen von der Leidenschaft des Sprechers, selbst beizuwohnen.
Man bewunderte die einfache Größe der Erfindung, aber — man konnte
schließlich doch nicht umhin, sich zu gestehen, daß dieses kühnste aller frcigeistigen
Werke auf sehr vagen Prämisse» aufgebaut war, baß diese idealistische Patho¬
logie im Drama wenig angebracht sei, da die natürlichen Thatsachen und Kräfte,
die es voraussetzt, noch keineswegs weder allgemein bekannt, noch auch nur un¬
bestritten von der Wissenschaft sind. Der Zuschauer würde eher geneigt sein,
der Liebe jene Heilkraft zuzuschreiben, da er nun einmal in dieser Anschauung
von der Allgewalt des Eros aufgewachsen, aber dem Hypnotismus? dem Mag¬
netismus? Die Bühne würde sich ihm uuter der Hand aus dem Schauplatze
sittlicher Vorgänge bestenfalls zu einem physiologischen Hörsaale verwandeln.
Bewunderungswürdig war es jedenfalls, wie Björnson seinen Gedanken poetisch
verkörperte.

Mit diesem geteilten Gefühle schieden wir von ihm, und ich hätte keinen
Anlaß zu diesen Erinnerungen gehabt, wenn mich nicht der neue Roman
Björnsons auf sie zurückgeführt hätte. Denn offenbar gaben ihm zu diesem
Roman jene neuen Forschungen und Theorien, die er in seinem sanguinischen
Optimismus — übrigens der liebenswertesten Eigenschaft eines Dichters —
für gesicherter hält, als sie sind, deu ersten Anstoß. Allerdings wußte er diese
Anregungen prinzipiell zu vertiefen und so den Blick auszuweiden auf die Be¬
trachtung von modernen Zustanden von einschneidender Wichtigkeit, und damit ein
Werk von vielleicht zweifelhaftem künstlerischen Werte und bestreitbaren sittlichen
Tendenzen zu schaffen, jedenfalls aber eines, das nicht verfehlen wird, weite Kreise
in Norwegen wie in Deutschland zu beschäftigen. Denn überall giebt es Mütter
und Väter, welche Anlaß haben, über die Frage nachzudenken: Wie erziehen
wir unsre Töchter? Und diese Frage wirft Björnson im „Thomas Nendalen" auf.

Wir wollen zuvor das oben abgebrochene Zitat beschließen. „In diesen
abnormen Zustand öder WillcnsvhnmacW aber — fo heißt es weiter — könne
der Einzelne auch sich selbst versetzen, die einen dnrch schwere Anstrengung, andre
schon durch den bloßen Wille». Das geschehe dadurch, daß sie unverwandt auf
irgend einen Gegenstand hinstarrten, entweder in Gedanken oder mit leiblichen
Angen. Die meisten von uns seien einigermaßen mit der Wirkung bekannt,
welche dadurch hervorgerufen werde; aber nur Nervenschwache könnten unter


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[0328] Björnstjerne Björnson. Volte seine überirdische Begabung bezeugen will, bricht ihm sein Weib nach ihrer letzten Kraftanstrengung unter dem Einflüsse seines Willens tot in den Armen zusammen. Das verblüfft ihn, blitzartig durchschauert ihn der erste Zweifel, den sein Weib schon längst gehegt hat, der ihn aber auch wie ein Blitz niederschlägt, sodaß er tot neben der Geliebten zusammenbricht. Diese Tragödie führte uns Björnson mit der ganzen Kunst des einstigen Thcatcrdircktors und der Anschaulichkeit des Dichters vor. Den- großen Volks¬ szenen mit der dazwischen schallenden, der himmelstürmenden Kirchenglocke ver¬ meinte mal?, hingerissen von der Leidenschaft des Sprechers, selbst beizuwohnen. Man bewunderte die einfache Größe der Erfindung, aber — man konnte schließlich doch nicht umhin, sich zu gestehen, daß dieses kühnste aller frcigeistigen Werke auf sehr vagen Prämisse» aufgebaut war, baß diese idealistische Patho¬ logie im Drama wenig angebracht sei, da die natürlichen Thatsachen und Kräfte, die es voraussetzt, noch keineswegs weder allgemein bekannt, noch auch nur un¬ bestritten von der Wissenschaft sind. Der Zuschauer würde eher geneigt sein, der Liebe jene Heilkraft zuzuschreiben, da er nun einmal in dieser Anschauung von der Allgewalt des Eros aufgewachsen, aber dem Hypnotismus? dem Mag¬ netismus? Die Bühne würde sich ihm uuter der Hand aus dem Schauplatze sittlicher Vorgänge bestenfalls zu einem physiologischen Hörsaale verwandeln. Bewunderungswürdig war es jedenfalls, wie Björnson seinen Gedanken poetisch verkörperte. Mit diesem geteilten Gefühle schieden wir von ihm, und ich hätte keinen Anlaß zu diesen Erinnerungen gehabt, wenn mich nicht der neue Roman Björnsons auf sie zurückgeführt hätte. Denn offenbar gaben ihm zu diesem Roman jene neuen Forschungen und Theorien, die er in seinem sanguinischen Optimismus — übrigens der liebenswertesten Eigenschaft eines Dichters — für gesicherter hält, als sie sind, deu ersten Anstoß. Allerdings wußte er diese Anregungen prinzipiell zu vertiefen und so den Blick auszuweiden auf die Be¬ trachtung von modernen Zustanden von einschneidender Wichtigkeit, und damit ein Werk von vielleicht zweifelhaftem künstlerischen Werte und bestreitbaren sittlichen Tendenzen zu schaffen, jedenfalls aber eines, das nicht verfehlen wird, weite Kreise in Norwegen wie in Deutschland zu beschäftigen. Denn überall giebt es Mütter und Väter, welche Anlaß haben, über die Frage nachzudenken: Wie erziehen wir unsre Töchter? Und diese Frage wirft Björnson im „Thomas Nendalen" auf. Wir wollen zuvor das oben abgebrochene Zitat beschließen. „In diesen abnormen Zustand öder WillcnsvhnmacW aber — fo heißt es weiter — könne der Einzelne auch sich selbst versetzen, die einen dnrch schwere Anstrengung, andre schon durch den bloßen Wille». Das geschehe dadurch, daß sie unverwandt auf irgend einen Gegenstand hinstarrten, entweder in Gedanken oder mit leiblichen Angen. Die meisten von uns seien einigermaßen mit der Wirkung bekannt, welche dadurch hervorgerufen werde; aber nur Nervenschwache könnten unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/328>, abgerufen am 22.07.2024.