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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Hermann Rotzes kleine Schriften.

wahrhaft naturphilosophischen Physiologie zu bilden. Doch ist er überzeugt,
daß die notwendige Grundlage aller Physiologie und Pathologie immer natur¬
philosophische Betrachtungen bilden müssen, und im Ernst kommt es ihm daraus
an, der spekulativen Betrachtung das Recht der Entwicklung in Bezug auf den
empirischen Zuhält der biologischen Wissenschaft zu sichern. In der Physiologie
ist er Anhänger und Vorkämpfer der streng mechanistischen Anschauung, deren
unablässiges Grundbestreben es ist, die Erscheinungen des Lebens und seine
Störungen ans das Spiel der Wechselwirkungen mathematisch bestimmbarer
Grundkräfte zurückzuführen, denen sie, da sie nun einmal räumlichen und zeit¬
lichen Bestimmungen der Bewegung folgen, notwendig unterworfen sein müssen.
In diesem Geiste faßt er den körperlichen Organismus als einen physikalischen
Mechanismus auf: Organismus ist ihm nichts andres als eine bestimmte, einem
Naturzweck entsprechende Richtung und Kombination rein mechanischer Vorgänge,
der Körper im Prinzip nicht mehr als eine Maschine, dessen Triebwerk in siebzig
Jahren und darüber abläuft, der allmählichen Aufzehrung und allen Mängeln
derselben ohne willkürliche Abwehr unterworfen ist. Dem Mhstizismus einer
vermeintlichen Lebenskraft, die ihre Vorfechter für so vornehm halten, daß sie
dieselben vor der Gemeinschaft mit allen sonst geltenden Gesetzen der physika¬
lischen Prozesse behüten möchten, macht er dabei in siegreichem Kampfe den
Garaus. Wie weit entfernt die Naturforschung von dem Ziele vollkommener
Durchführung der mechanischen Prinzipien ist, verschleiert er nicht: der Gewinn,
den die Annahme seiner Prinzipien mit sich bringen würde, besteht ihm haupt¬
sächlich in der Anerkennung des ungeheuern Umfanges und der Schwierigkeit
der Aufgaben, in der Erkenntnis von der UnVollkommenheit unsrer naturwissen¬
schaftlichen Erkenntnis, die sich in mancher Beziehung noch in ihrer Kindheit
befindet. Aus dem allen aber, hofft er, werde sich eine umso größere Spannung
des Untersuchungsgeistes entwickeln.

Lotze sieht ferner in den mechanischen Ansichten über das Leben nicht mehr
als den einen Teil der zu einer vollendeten Biologie geforderten Grundlagen.
Mechanismus ist nirgends ein Letztes und Höchstes, uoch besteht er aus eigner
Kraft: die Weisheit Gottes hat ihn geschaffen und ihm, als dem sichersten,
niemals eignem Belieben sich überlassenden Diener die Verwirklichung der Natnr-
ideen aufgetragen. Jede Naturwissenschaft, die sich nicht völlig verkehrt zu der
übrigen Bildung des Geistes stellen will, muß notwendig den Begriff der
Schöpfung voraussetzen. Die Welt ist weder durch Zufall geworden, noch hat
es ein Chaos vor der Ordnung geben können, sondern eine nach göttlichen Ideen
geordnete Welt ist am Anfange geschaffen worden, und uns bleibt mir übrig,
den ununterbrochen gesetzmäßigen Zusammenhang dieses bestehenden Vernünftigen
zu erkennen und zu bewundern. Hier wölbt sich die Brücke zur Versöhnung
des zweiten höhern Gegensatzes: des philosophischen Wissens und Forschens und
des allgemein menschlichen Gefühls, eines Gegensatzes, an dessen Aufhebung


Hermann Rotzes kleine Schriften.

wahrhaft naturphilosophischen Physiologie zu bilden. Doch ist er überzeugt,
daß die notwendige Grundlage aller Physiologie und Pathologie immer natur¬
philosophische Betrachtungen bilden müssen, und im Ernst kommt es ihm daraus
an, der spekulativen Betrachtung das Recht der Entwicklung in Bezug auf den
empirischen Zuhält der biologischen Wissenschaft zu sichern. In der Physiologie
ist er Anhänger und Vorkämpfer der streng mechanistischen Anschauung, deren
unablässiges Grundbestreben es ist, die Erscheinungen des Lebens und seine
Störungen ans das Spiel der Wechselwirkungen mathematisch bestimmbarer
Grundkräfte zurückzuführen, denen sie, da sie nun einmal räumlichen und zeit¬
lichen Bestimmungen der Bewegung folgen, notwendig unterworfen sein müssen.
In diesem Geiste faßt er den körperlichen Organismus als einen physikalischen
Mechanismus auf: Organismus ist ihm nichts andres als eine bestimmte, einem
Naturzweck entsprechende Richtung und Kombination rein mechanischer Vorgänge,
der Körper im Prinzip nicht mehr als eine Maschine, dessen Triebwerk in siebzig
Jahren und darüber abläuft, der allmählichen Aufzehrung und allen Mängeln
derselben ohne willkürliche Abwehr unterworfen ist. Dem Mhstizismus einer
vermeintlichen Lebenskraft, die ihre Vorfechter für so vornehm halten, daß sie
dieselben vor der Gemeinschaft mit allen sonst geltenden Gesetzen der physika¬
lischen Prozesse behüten möchten, macht er dabei in siegreichem Kampfe den
Garaus. Wie weit entfernt die Naturforschung von dem Ziele vollkommener
Durchführung der mechanischen Prinzipien ist, verschleiert er nicht: der Gewinn,
den die Annahme seiner Prinzipien mit sich bringen würde, besteht ihm haupt¬
sächlich in der Anerkennung des ungeheuern Umfanges und der Schwierigkeit
der Aufgaben, in der Erkenntnis von der UnVollkommenheit unsrer naturwissen¬
schaftlichen Erkenntnis, die sich in mancher Beziehung noch in ihrer Kindheit
befindet. Aus dem allen aber, hofft er, werde sich eine umso größere Spannung
des Untersuchungsgeistes entwickeln.

Lotze sieht ferner in den mechanischen Ansichten über das Leben nicht mehr
als den einen Teil der zu einer vollendeten Biologie geforderten Grundlagen.
Mechanismus ist nirgends ein Letztes und Höchstes, uoch besteht er aus eigner
Kraft: die Weisheit Gottes hat ihn geschaffen und ihm, als dem sichersten,
niemals eignem Belieben sich überlassenden Diener die Verwirklichung der Natnr-
ideen aufgetragen. Jede Naturwissenschaft, die sich nicht völlig verkehrt zu der
übrigen Bildung des Geistes stellen will, muß notwendig den Begriff der
Schöpfung voraussetzen. Die Welt ist weder durch Zufall geworden, noch hat
es ein Chaos vor der Ordnung geben können, sondern eine nach göttlichen Ideen
geordnete Welt ist am Anfange geschaffen worden, und uns bleibt mir übrig,
den ununterbrochen gesetzmäßigen Zusammenhang dieses bestehenden Vernünftigen
zu erkennen und zu bewundern. Hier wölbt sich die Brücke zur Versöhnung
des zweiten höhern Gegensatzes: des philosophischen Wissens und Forschens und
des allgemein menschlichen Gefühls, eines Gegensatzes, an dessen Aufhebung


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[0218] Hermann Rotzes kleine Schriften. wahrhaft naturphilosophischen Physiologie zu bilden. Doch ist er überzeugt, daß die notwendige Grundlage aller Physiologie und Pathologie immer natur¬ philosophische Betrachtungen bilden müssen, und im Ernst kommt es ihm daraus an, der spekulativen Betrachtung das Recht der Entwicklung in Bezug auf den empirischen Zuhält der biologischen Wissenschaft zu sichern. In der Physiologie ist er Anhänger und Vorkämpfer der streng mechanistischen Anschauung, deren unablässiges Grundbestreben es ist, die Erscheinungen des Lebens und seine Störungen ans das Spiel der Wechselwirkungen mathematisch bestimmbarer Grundkräfte zurückzuführen, denen sie, da sie nun einmal räumlichen und zeit¬ lichen Bestimmungen der Bewegung folgen, notwendig unterworfen sein müssen. In diesem Geiste faßt er den körperlichen Organismus als einen physikalischen Mechanismus auf: Organismus ist ihm nichts andres als eine bestimmte, einem Naturzweck entsprechende Richtung und Kombination rein mechanischer Vorgänge, der Körper im Prinzip nicht mehr als eine Maschine, dessen Triebwerk in siebzig Jahren und darüber abläuft, der allmählichen Aufzehrung und allen Mängeln derselben ohne willkürliche Abwehr unterworfen ist. Dem Mhstizismus einer vermeintlichen Lebenskraft, die ihre Vorfechter für so vornehm halten, daß sie dieselben vor der Gemeinschaft mit allen sonst geltenden Gesetzen der physika¬ lischen Prozesse behüten möchten, macht er dabei in siegreichem Kampfe den Garaus. Wie weit entfernt die Naturforschung von dem Ziele vollkommener Durchführung der mechanischen Prinzipien ist, verschleiert er nicht: der Gewinn, den die Annahme seiner Prinzipien mit sich bringen würde, besteht ihm haupt¬ sächlich in der Anerkennung des ungeheuern Umfanges und der Schwierigkeit der Aufgaben, in der Erkenntnis von der UnVollkommenheit unsrer naturwissen¬ schaftlichen Erkenntnis, die sich in mancher Beziehung noch in ihrer Kindheit befindet. Aus dem allen aber, hofft er, werde sich eine umso größere Spannung des Untersuchungsgeistes entwickeln. Lotze sieht ferner in den mechanischen Ansichten über das Leben nicht mehr als den einen Teil der zu einer vollendeten Biologie geforderten Grundlagen. Mechanismus ist nirgends ein Letztes und Höchstes, uoch besteht er aus eigner Kraft: die Weisheit Gottes hat ihn geschaffen und ihm, als dem sichersten, niemals eignem Belieben sich überlassenden Diener die Verwirklichung der Natnr- ideen aufgetragen. Jede Naturwissenschaft, die sich nicht völlig verkehrt zu der übrigen Bildung des Geistes stellen will, muß notwendig den Begriff der Schöpfung voraussetzen. Die Welt ist weder durch Zufall geworden, noch hat es ein Chaos vor der Ordnung geben können, sondern eine nach göttlichen Ideen geordnete Welt ist am Anfange geschaffen worden, und uns bleibt mir übrig, den ununterbrochen gesetzmäßigen Zusammenhang dieses bestehenden Vernünftigen zu erkennen und zu bewundern. Hier wölbt sich die Brücke zur Versöhnung des zweiten höhern Gegensatzes: des philosophischen Wissens und Forschens und des allgemein menschlichen Gefühls, eines Gegensatzes, an dessen Aufhebung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/218>, abgerufen am 22.07.2024.