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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzes kleine Schriften.

Lotze arbeitet. Denn der Philosoph muß sich erinnern, daß die Gedanken,
die jedem energisch zuströmen, der mit offenem Herzen und Sinn die Natur
betrachtet, ein unveräußerliches und unantastbares Gut sind, welches nicht
von einem Gewebe spitzfindiger Spekulationen zerstört werden darf, sondern
immer als das Sicherste unsrer Erkenntnis ein wichtiges berichtigendes Gegen¬
gewicht gegen die Verwirrungen des grübelnden Verstandes bildet. Jedes le¬
bendige Gefühl aber empfindet davor ein gerechtes Grauen, daß irgendein Seiendes,
irgendein Gesetz, irgendein kalter Gedanke allein das Letzte und Erste sei,
welches in aller Welt zu Grunde liegt und sich verwirklicht: alles sein, alles,
was Form und Gestalt, Ding und Ereignis heißt, dieser ganze Inbegriff der
Natur kaun so, wie er ist, nur deshalb sein, weil nur so sich in ihm der un¬
endliche Wert des Guten seine Erscheinung gab. So vereint er im höchsten
Sinne die Forderungen des Gemüts mit den Ergebnissen des Wissens, indem
er darin, was sein soll, den Grund dessen sucht, was ist, und mit einem kühnen
Ausdrucke den wahren Anfang der Metaphysik in die Ethik legt.

Das alles ist aus den "Kleinen Schriften" zu lesen, steht aber auch
anderswo. Völlig neu und eigentümlich dagegen wirken die Kritiken dieses Bandes.
Zum erstenmale tritt uns Lotze als Kritiker in voller Gestalt überraschend hell
beleuchtet entgegen. Vielleicht sind die Rezensionen in gewisser Hinsicht der
interessanteste Teil der "Kleinen Schriften." Jede ist ein Muster, und der
Kritiker ein Meister, dessen Bild zu zeichnen in einer Zeit lohnt, die viel
und schlecht rezensirt. Lotze hat nicht viel rezensirt, andauernd nur in den
"Göttingischen Gelehrten Anzeigen": zweiundvierzig Rezensionen in gleichviel
Jahren ist nicht viel. Er rezensirt nur gelegentlich und nur, wenn er wirklich
etwas zu sagen hat. Er sagt aber auch etwas und spricht sich ans; nichts
bricht er übers Knie und huscht nie über Dinge hin, die verweilende Betrachtung
fordern. Sein Verfahren ist umsichtig, breit, sorgsam. Voran schickt er, wo
es not thut, allgemeinere philosophische, psychologische oder historische Betrach¬
tungen, bestimmt, den Gedankengang des Lesers vorbereitend so anzuregen, daß
er zur Aufnahme des Stoffes auf dem richtigen Wege entgegenkommt. Dann
giebt er über die äußere oder innere Veranlassung des Werkes, die Absichten
des Verfassers, den Plan und die Anlage des Buches Aufschlüsse, daneben aber
stellt er dem Leser zur Abschätzung die genaue Bestimmung der wissenschaft¬
lichen Aufgabe, die wirklich zu lösen war, vielleicht aber nicht einmal ganz er¬
faßt, geschweige denn gelöst ist. Dann begleitet er den Verfasser auf seinem
Wege, um zu erforschen, wie die Versprechungen erfüllt, die Aufgaben gelöst
werden. Ohne sich kleinlich an unwichtige Einzelheiten zu klammern, verfolgt
er Schritt vor Schritt deu Gedankengang mit einer meisterhaft geübten, scharf¬
sinnigen Analyse, die in eindringender Betrachtung jeden Fehltritt vermerkt, alle
kleinen und großen Widersprüche aufdeckt, in welche falsche Bahnen den Ver¬
fasser gezwungen haben. Das lehrreichste Beispiel dieser haarscharfen, allseitig


Hermann Lotzes kleine Schriften.

Lotze arbeitet. Denn der Philosoph muß sich erinnern, daß die Gedanken,
die jedem energisch zuströmen, der mit offenem Herzen und Sinn die Natur
betrachtet, ein unveräußerliches und unantastbares Gut sind, welches nicht
von einem Gewebe spitzfindiger Spekulationen zerstört werden darf, sondern
immer als das Sicherste unsrer Erkenntnis ein wichtiges berichtigendes Gegen¬
gewicht gegen die Verwirrungen des grübelnden Verstandes bildet. Jedes le¬
bendige Gefühl aber empfindet davor ein gerechtes Grauen, daß irgendein Seiendes,
irgendein Gesetz, irgendein kalter Gedanke allein das Letzte und Erste sei,
welches in aller Welt zu Grunde liegt und sich verwirklicht: alles sein, alles,
was Form und Gestalt, Ding und Ereignis heißt, dieser ganze Inbegriff der
Natur kaun so, wie er ist, nur deshalb sein, weil nur so sich in ihm der un¬
endliche Wert des Guten seine Erscheinung gab. So vereint er im höchsten
Sinne die Forderungen des Gemüts mit den Ergebnissen des Wissens, indem
er darin, was sein soll, den Grund dessen sucht, was ist, und mit einem kühnen
Ausdrucke den wahren Anfang der Metaphysik in die Ethik legt.

Das alles ist aus den „Kleinen Schriften" zu lesen, steht aber auch
anderswo. Völlig neu und eigentümlich dagegen wirken die Kritiken dieses Bandes.
Zum erstenmale tritt uns Lotze als Kritiker in voller Gestalt überraschend hell
beleuchtet entgegen. Vielleicht sind die Rezensionen in gewisser Hinsicht der
interessanteste Teil der „Kleinen Schriften." Jede ist ein Muster, und der
Kritiker ein Meister, dessen Bild zu zeichnen in einer Zeit lohnt, die viel
und schlecht rezensirt. Lotze hat nicht viel rezensirt, andauernd nur in den
„Göttingischen Gelehrten Anzeigen": zweiundvierzig Rezensionen in gleichviel
Jahren ist nicht viel. Er rezensirt nur gelegentlich und nur, wenn er wirklich
etwas zu sagen hat. Er sagt aber auch etwas und spricht sich ans; nichts
bricht er übers Knie und huscht nie über Dinge hin, die verweilende Betrachtung
fordern. Sein Verfahren ist umsichtig, breit, sorgsam. Voran schickt er, wo
es not thut, allgemeinere philosophische, psychologische oder historische Betrach¬
tungen, bestimmt, den Gedankengang des Lesers vorbereitend so anzuregen, daß
er zur Aufnahme des Stoffes auf dem richtigen Wege entgegenkommt. Dann
giebt er über die äußere oder innere Veranlassung des Werkes, die Absichten
des Verfassers, den Plan und die Anlage des Buches Aufschlüsse, daneben aber
stellt er dem Leser zur Abschätzung die genaue Bestimmung der wissenschaft¬
lichen Aufgabe, die wirklich zu lösen war, vielleicht aber nicht einmal ganz er¬
faßt, geschweige denn gelöst ist. Dann begleitet er den Verfasser auf seinem
Wege, um zu erforschen, wie die Versprechungen erfüllt, die Aufgaben gelöst
werden. Ohne sich kleinlich an unwichtige Einzelheiten zu klammern, verfolgt
er Schritt vor Schritt deu Gedankengang mit einer meisterhaft geübten, scharf¬
sinnigen Analyse, die in eindringender Betrachtung jeden Fehltritt vermerkt, alle
kleinen und großen Widersprüche aufdeckt, in welche falsche Bahnen den Ver¬
fasser gezwungen haben. Das lehrreichste Beispiel dieser haarscharfen, allseitig


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[0219] Hermann Lotzes kleine Schriften. Lotze arbeitet. Denn der Philosoph muß sich erinnern, daß die Gedanken, die jedem energisch zuströmen, der mit offenem Herzen und Sinn die Natur betrachtet, ein unveräußerliches und unantastbares Gut sind, welches nicht von einem Gewebe spitzfindiger Spekulationen zerstört werden darf, sondern immer als das Sicherste unsrer Erkenntnis ein wichtiges berichtigendes Gegen¬ gewicht gegen die Verwirrungen des grübelnden Verstandes bildet. Jedes le¬ bendige Gefühl aber empfindet davor ein gerechtes Grauen, daß irgendein Seiendes, irgendein Gesetz, irgendein kalter Gedanke allein das Letzte und Erste sei, welches in aller Welt zu Grunde liegt und sich verwirklicht: alles sein, alles, was Form und Gestalt, Ding und Ereignis heißt, dieser ganze Inbegriff der Natur kaun so, wie er ist, nur deshalb sein, weil nur so sich in ihm der un¬ endliche Wert des Guten seine Erscheinung gab. So vereint er im höchsten Sinne die Forderungen des Gemüts mit den Ergebnissen des Wissens, indem er darin, was sein soll, den Grund dessen sucht, was ist, und mit einem kühnen Ausdrucke den wahren Anfang der Metaphysik in die Ethik legt. Das alles ist aus den „Kleinen Schriften" zu lesen, steht aber auch anderswo. Völlig neu und eigentümlich dagegen wirken die Kritiken dieses Bandes. Zum erstenmale tritt uns Lotze als Kritiker in voller Gestalt überraschend hell beleuchtet entgegen. Vielleicht sind die Rezensionen in gewisser Hinsicht der interessanteste Teil der „Kleinen Schriften." Jede ist ein Muster, und der Kritiker ein Meister, dessen Bild zu zeichnen in einer Zeit lohnt, die viel und schlecht rezensirt. Lotze hat nicht viel rezensirt, andauernd nur in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen": zweiundvierzig Rezensionen in gleichviel Jahren ist nicht viel. Er rezensirt nur gelegentlich und nur, wenn er wirklich etwas zu sagen hat. Er sagt aber auch etwas und spricht sich ans; nichts bricht er übers Knie und huscht nie über Dinge hin, die verweilende Betrachtung fordern. Sein Verfahren ist umsichtig, breit, sorgsam. Voran schickt er, wo es not thut, allgemeinere philosophische, psychologische oder historische Betrach¬ tungen, bestimmt, den Gedankengang des Lesers vorbereitend so anzuregen, daß er zur Aufnahme des Stoffes auf dem richtigen Wege entgegenkommt. Dann giebt er über die äußere oder innere Veranlassung des Werkes, die Absichten des Verfassers, den Plan und die Anlage des Buches Aufschlüsse, daneben aber stellt er dem Leser zur Abschätzung die genaue Bestimmung der wissenschaft¬ lichen Aufgabe, die wirklich zu lösen war, vielleicht aber nicht einmal ganz er¬ faßt, geschweige denn gelöst ist. Dann begleitet er den Verfasser auf seinem Wege, um zu erforschen, wie die Versprechungen erfüllt, die Aufgaben gelöst werden. Ohne sich kleinlich an unwichtige Einzelheiten zu klammern, verfolgt er Schritt vor Schritt deu Gedankengang mit einer meisterhaft geübten, scharf¬ sinnigen Analyse, die in eindringender Betrachtung jeden Fehltritt vermerkt, alle kleinen und großen Widersprüche aufdeckt, in welche falsche Bahnen den Ver¬ fasser gezwungen haben. Das lehrreichste Beispiel dieser haarscharfen, allseitig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/219>, abgerufen am 22.07.2024.