Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Hermann Lotzes kleine Schriften.

Handlung könnte nur eine eingehende Betrachtung erschöpfen: ihre Grundgedanken
knüpfen, nichts gesundes ablehnend, an die Ästhetik Kants, Schellings und
Hegels an, nehmen auch Hcrbarts berechtigte Forderungen auf und runden in
fünf Abschnitten die allgemeinen Fragen über das Wesen des Schönen, seine
Gebiete, seinen allgemeinen und seinen formalen Begriff, die Stufen der
Schönheit und die ästhetischen Weltansichten zu einem scharf umrissenen kleinen
Bilde ab.

Die Aufsätze unsers Bandes fallen in das Jahrzehnt, in dem die Natur-
forschung, besonders die Physiologie, sich mit der Philosophie in Lotzes Zeit und
Neigung teilte, in dem Lotze weiten Kreisen erschien als ein Physiolog mit einigen
Philosophischen Neigungen, die sich verlieren würden. Das Gesamtbild Lotzes,
wie es aus dem vorliegenden Bande hervortritt, ist das eines philosophischen
Naturforschers oder naturforschenden Philosophen. Es ist beileibe kein Doppel¬
bild: von Anfang an tritt das innige Bestreben hervor, beide Wissenschaften
miteinander auszugleichen, sie in sich zu einer zu verbinden. Wie ihm das
geglückt ist, wissen wir alle: dem Doppelwesen, das zu einem einheitlichen zu
machen der Kraft seines Geistes gelang, verdankt er seine ausschlaggebende
Stellung in der heutigen Wissenschaft. Wie fest und sicher er von Anfang an dies
Ziel verfolgte, ist klar aus unserm Bande zu ersehen. Auf Ausgleich ist überall
sein Streben gerichtet: Ausgleich zunächst zwischen den Kenntnissen der empirischen
Naturforschung und den Bedürfnissen der Philosophie. Jene doppelte Buch¬
haltung, zu der später zum Beispiel Friedrich Albert Lange sich bequemte, ist
ihm zuwider; die Wahrheit kann nur eine sein. Gegen die Schellingschc Natur-
Philosophie, welche durch ihre Ohnmacht, von einem Prinzip in Wahrheit auf
auf die einzelne Erscheinung zu kommen, durch die Verflüchtigung des reich-
gegliederten Inhalts unter wenige dürftige Abstraktionen und überhaupt durch
ihr phautasireudes Wesen die Vervollkommnung der physiologischen Lehre auf
lange Zeit verhindert hat, kämpft er an, anderseits aber ist ihm der unüber¬
windliche Haß zuwider, den infolge jener phantastischen Lehren die medizinische
Welt gegen jede metaphysische Spekulation gefaßt hat. Er fürchtet eine ver¬
derbliche Zerstreuung des wissenden Geistes in die Äußerlichkeit zusammenhangs-
loser Einzelheiten, bedauert das Mißtrauen der Naturforscher gegen jede in sich
zusammenhängende Gedankenreihe und beklagt den Übeln Einfluß der Gewohn¬
heit, ohne vorgängige theoretische Überlegung der überhaupt möglichen und denk¬
baren Erklärungsprinzipicn sich den verwickeltsten Erscheinungen ohne weiteres
gegenüberzustellen und abzuwarten, welche ganz zufälligen Hypothesen sich wohl
aus der Assoziation der hierbei angeregten Vorstellungen entwickeln werden.
Die Empirie unsrer Tage hemmt, nach Lotzes Worten, den Fortschritt auf
doppelte Weise; sie ist bei weitem nicht exakt genug, um eine wahre Natur-
Wissenschaft in mechanischem Sinne zu begründen; sie ist aber auch größtenteils
um dieses Mangels willen anderseits nicht exakt genng, um die Grundlage einer


Grenzboten III. 1886. 27
Hermann Lotzes kleine Schriften.

Handlung könnte nur eine eingehende Betrachtung erschöpfen: ihre Grundgedanken
knüpfen, nichts gesundes ablehnend, an die Ästhetik Kants, Schellings und
Hegels an, nehmen auch Hcrbarts berechtigte Forderungen auf und runden in
fünf Abschnitten die allgemeinen Fragen über das Wesen des Schönen, seine
Gebiete, seinen allgemeinen und seinen formalen Begriff, die Stufen der
Schönheit und die ästhetischen Weltansichten zu einem scharf umrissenen kleinen
Bilde ab.

Die Aufsätze unsers Bandes fallen in das Jahrzehnt, in dem die Natur-
forschung, besonders die Physiologie, sich mit der Philosophie in Lotzes Zeit und
Neigung teilte, in dem Lotze weiten Kreisen erschien als ein Physiolog mit einigen
Philosophischen Neigungen, die sich verlieren würden. Das Gesamtbild Lotzes,
wie es aus dem vorliegenden Bande hervortritt, ist das eines philosophischen
Naturforschers oder naturforschenden Philosophen. Es ist beileibe kein Doppel¬
bild: von Anfang an tritt das innige Bestreben hervor, beide Wissenschaften
miteinander auszugleichen, sie in sich zu einer zu verbinden. Wie ihm das
geglückt ist, wissen wir alle: dem Doppelwesen, das zu einem einheitlichen zu
machen der Kraft seines Geistes gelang, verdankt er seine ausschlaggebende
Stellung in der heutigen Wissenschaft. Wie fest und sicher er von Anfang an dies
Ziel verfolgte, ist klar aus unserm Bande zu ersehen. Auf Ausgleich ist überall
sein Streben gerichtet: Ausgleich zunächst zwischen den Kenntnissen der empirischen
Naturforschung und den Bedürfnissen der Philosophie. Jene doppelte Buch¬
haltung, zu der später zum Beispiel Friedrich Albert Lange sich bequemte, ist
ihm zuwider; die Wahrheit kann nur eine sein. Gegen die Schellingschc Natur-
Philosophie, welche durch ihre Ohnmacht, von einem Prinzip in Wahrheit auf
auf die einzelne Erscheinung zu kommen, durch die Verflüchtigung des reich-
gegliederten Inhalts unter wenige dürftige Abstraktionen und überhaupt durch
ihr phautasireudes Wesen die Vervollkommnung der physiologischen Lehre auf
lange Zeit verhindert hat, kämpft er an, anderseits aber ist ihm der unüber¬
windliche Haß zuwider, den infolge jener phantastischen Lehren die medizinische
Welt gegen jede metaphysische Spekulation gefaßt hat. Er fürchtet eine ver¬
derbliche Zerstreuung des wissenden Geistes in die Äußerlichkeit zusammenhangs-
loser Einzelheiten, bedauert das Mißtrauen der Naturforscher gegen jede in sich
zusammenhängende Gedankenreihe und beklagt den Übeln Einfluß der Gewohn¬
heit, ohne vorgängige theoretische Überlegung der überhaupt möglichen und denk¬
baren Erklärungsprinzipicn sich den verwickeltsten Erscheinungen ohne weiteres
gegenüberzustellen und abzuwarten, welche ganz zufälligen Hypothesen sich wohl
aus der Assoziation der hierbei angeregten Vorstellungen entwickeln werden.
Die Empirie unsrer Tage hemmt, nach Lotzes Worten, den Fortschritt auf
doppelte Weise; sie ist bei weitem nicht exakt genug, um eine wahre Natur-
Wissenschaft in mechanischem Sinne zu begründen; sie ist aber auch größtenteils
um dieses Mangels willen anderseits nicht exakt genng, um die Grundlage einer


Grenzboten III. 1886. 27
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198937"/>
          <fw type="header" place="top"> Hermann Lotzes kleine Schriften.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_603" prev="#ID_602"> Handlung könnte nur eine eingehende Betrachtung erschöpfen: ihre Grundgedanken<lb/>
knüpfen, nichts gesundes ablehnend, an die Ästhetik Kants, Schellings und<lb/>
Hegels an, nehmen auch Hcrbarts berechtigte Forderungen auf und runden in<lb/>
fünf Abschnitten die allgemeinen Fragen über das Wesen des Schönen, seine<lb/>
Gebiete, seinen allgemeinen und seinen formalen Begriff, die Stufen der<lb/>
Schönheit und die ästhetischen Weltansichten zu einem scharf umrissenen kleinen<lb/>
Bilde ab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_604" next="#ID_605"> Die Aufsätze unsers Bandes fallen in das Jahrzehnt, in dem die Natur-<lb/>
forschung, besonders die Physiologie, sich mit der Philosophie in Lotzes Zeit und<lb/>
Neigung teilte, in dem Lotze weiten Kreisen erschien als ein Physiolog mit einigen<lb/>
Philosophischen Neigungen, die sich verlieren würden. Das Gesamtbild Lotzes,<lb/>
wie es aus dem vorliegenden Bande hervortritt, ist das eines philosophischen<lb/>
Naturforschers oder naturforschenden Philosophen. Es ist beileibe kein Doppel¬<lb/>
bild: von Anfang an tritt das innige Bestreben hervor, beide Wissenschaften<lb/>
miteinander auszugleichen, sie in sich zu einer zu verbinden. Wie ihm das<lb/>
geglückt ist, wissen wir alle: dem Doppelwesen, das zu einem einheitlichen zu<lb/>
machen der Kraft seines Geistes gelang, verdankt er seine ausschlaggebende<lb/>
Stellung in der heutigen Wissenschaft. Wie fest und sicher er von Anfang an dies<lb/>
Ziel verfolgte, ist klar aus unserm Bande zu ersehen. Auf Ausgleich ist überall<lb/>
sein Streben gerichtet: Ausgleich zunächst zwischen den Kenntnissen der empirischen<lb/>
Naturforschung und den Bedürfnissen der Philosophie. Jene doppelte Buch¬<lb/>
haltung, zu der später zum Beispiel Friedrich Albert Lange sich bequemte, ist<lb/>
ihm zuwider; die Wahrheit kann nur eine sein. Gegen die Schellingschc Natur-<lb/>
Philosophie, welche durch ihre Ohnmacht, von einem Prinzip in Wahrheit auf<lb/>
auf die einzelne Erscheinung zu kommen, durch die Verflüchtigung des reich-<lb/>
gegliederten Inhalts unter wenige dürftige Abstraktionen und überhaupt durch<lb/>
ihr phautasireudes Wesen die Vervollkommnung der physiologischen Lehre auf<lb/>
lange Zeit verhindert hat, kämpft er an, anderseits aber ist ihm der unüber¬<lb/>
windliche Haß zuwider, den infolge jener phantastischen Lehren die medizinische<lb/>
Welt gegen jede metaphysische Spekulation gefaßt hat. Er fürchtet eine ver¬<lb/>
derbliche Zerstreuung des wissenden Geistes in die Äußerlichkeit zusammenhangs-<lb/>
loser Einzelheiten, bedauert das Mißtrauen der Naturforscher gegen jede in sich<lb/>
zusammenhängende Gedankenreihe und beklagt den Übeln Einfluß der Gewohn¬<lb/>
heit, ohne vorgängige theoretische Überlegung der überhaupt möglichen und denk¬<lb/>
baren Erklärungsprinzipicn sich den verwickeltsten Erscheinungen ohne weiteres<lb/>
gegenüberzustellen und abzuwarten, welche ganz zufälligen Hypothesen sich wohl<lb/>
aus der Assoziation der hierbei angeregten Vorstellungen entwickeln werden.<lb/>
Die Empirie unsrer Tage hemmt, nach Lotzes Worten, den Fortschritt auf<lb/>
doppelte Weise; sie ist bei weitem nicht exakt genug, um eine wahre Natur-<lb/>
Wissenschaft in mechanischem Sinne zu begründen; sie ist aber auch größtenteils<lb/>
um dieses Mangels willen anderseits nicht exakt genng, um die Grundlage einer</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1886. 27</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0217] Hermann Lotzes kleine Schriften. Handlung könnte nur eine eingehende Betrachtung erschöpfen: ihre Grundgedanken knüpfen, nichts gesundes ablehnend, an die Ästhetik Kants, Schellings und Hegels an, nehmen auch Hcrbarts berechtigte Forderungen auf und runden in fünf Abschnitten die allgemeinen Fragen über das Wesen des Schönen, seine Gebiete, seinen allgemeinen und seinen formalen Begriff, die Stufen der Schönheit und die ästhetischen Weltansichten zu einem scharf umrissenen kleinen Bilde ab. Die Aufsätze unsers Bandes fallen in das Jahrzehnt, in dem die Natur- forschung, besonders die Physiologie, sich mit der Philosophie in Lotzes Zeit und Neigung teilte, in dem Lotze weiten Kreisen erschien als ein Physiolog mit einigen Philosophischen Neigungen, die sich verlieren würden. Das Gesamtbild Lotzes, wie es aus dem vorliegenden Bande hervortritt, ist das eines philosophischen Naturforschers oder naturforschenden Philosophen. Es ist beileibe kein Doppel¬ bild: von Anfang an tritt das innige Bestreben hervor, beide Wissenschaften miteinander auszugleichen, sie in sich zu einer zu verbinden. Wie ihm das geglückt ist, wissen wir alle: dem Doppelwesen, das zu einem einheitlichen zu machen der Kraft seines Geistes gelang, verdankt er seine ausschlaggebende Stellung in der heutigen Wissenschaft. Wie fest und sicher er von Anfang an dies Ziel verfolgte, ist klar aus unserm Bande zu ersehen. Auf Ausgleich ist überall sein Streben gerichtet: Ausgleich zunächst zwischen den Kenntnissen der empirischen Naturforschung und den Bedürfnissen der Philosophie. Jene doppelte Buch¬ haltung, zu der später zum Beispiel Friedrich Albert Lange sich bequemte, ist ihm zuwider; die Wahrheit kann nur eine sein. Gegen die Schellingschc Natur- Philosophie, welche durch ihre Ohnmacht, von einem Prinzip in Wahrheit auf auf die einzelne Erscheinung zu kommen, durch die Verflüchtigung des reich- gegliederten Inhalts unter wenige dürftige Abstraktionen und überhaupt durch ihr phautasireudes Wesen die Vervollkommnung der physiologischen Lehre auf lange Zeit verhindert hat, kämpft er an, anderseits aber ist ihm der unüber¬ windliche Haß zuwider, den infolge jener phantastischen Lehren die medizinische Welt gegen jede metaphysische Spekulation gefaßt hat. Er fürchtet eine ver¬ derbliche Zerstreuung des wissenden Geistes in die Äußerlichkeit zusammenhangs- loser Einzelheiten, bedauert das Mißtrauen der Naturforscher gegen jede in sich zusammenhängende Gedankenreihe und beklagt den Übeln Einfluß der Gewohn¬ heit, ohne vorgängige theoretische Überlegung der überhaupt möglichen und denk¬ baren Erklärungsprinzipicn sich den verwickeltsten Erscheinungen ohne weiteres gegenüberzustellen und abzuwarten, welche ganz zufälligen Hypothesen sich wohl aus der Assoziation der hierbei angeregten Vorstellungen entwickeln werden. Die Empirie unsrer Tage hemmt, nach Lotzes Worten, den Fortschritt auf doppelte Weise; sie ist bei weitem nicht exakt genug, um eine wahre Natur- Wissenschaft in mechanischem Sinne zu begründen; sie ist aber auch größtenteils um dieses Mangels willen anderseits nicht exakt genng, um die Grundlage einer Grenzboten III. 1886. 27

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/217
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/217>, abgerufen am 22.07.2024.