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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzes kleine Schriften.

gleichgiltig sind, von denen aber doch zuletzt die Gestalt des Gegebnen abhängen
soll. Gemeinsam ist der Hcrbartschen und Lotzischen Philosophie von Anfang
an kaum ein Punkt der Lehre, höchstens ist ihnen die naturwissenschaftlich in¬
duktive, allem Konstruircn abgeneigte Methode gemeinsam, die ihrer Philosophie
den Charakter einer naturwissenschaftlichen Lehre erteilt neben den konstruirenden
Philosophien jener Zeit, die wesentlich die Natur einer ästhetischen Auffassungs¬
weise an sich tragen. Gleichwohl hat sich die irrige Ansicht von Lotzes
Herbartiauismus so lange gehalten, daß er noch 1857 in den "Streitschriften"
seiner Einreihung in die Schule Hcrbarts einen förmlichen und entschiednen
Widerspruch entgegensetzen mußte. Seine aufrichtige Hochachtung vor der
geistigen Kraft Herbarts muß er einer unbesieglichen Abneigung abkämpfen, die
ihn gegen die beständige Gespanntheit in den Untersuchungen Herbarts und
gegen die geräuschvolle Friedlosigkeit seiner Darstellungen erfüllt. Daß die Be¬
schäftigung mit Herbart entscheidend für ihn gewesen sei, kann er sonach nicht
einräumen.

Es folgt die berühmte Abhandlung: "Leben, Lebenskraft," die als Ein¬
leitung zu Rudolf Wagners "Handwörterbuch der Physiologie" jenem Miß-
bcgriff der Physiologie endgiltig den Garaus gemacht hat. Sie zu rühmen
ist unnötig, auch bin ich nicht der Mann dazu. Auf die kleinere Abhandlung
vom "Instinkt" folgt dann eine Reihe Rezensionen aus den "Göttingischen
Gelehrten Anzeigen." Die wichtigste, an geistigem Gehalt reichste ist die über
Harteusteins "Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften" (1845), in welcher Lotze
der Hcrbartschen Ethik seine eignen neuen Gedanken entgegenstellt.

Die umfangreichste nach der von der Lebenskraft und die bedeutendste ist
die in den "Göttinger Studien" von 1845 zuerst erschienene Abhandlung: ,,Über
den Begriff der Schönheit." Obwohl sie auch als Einzelheft 1847 erschienen
ist, hat sie die Beachtung nicht gefunden, die sie verdient. Sie will sehr be¬
scheiden nur eine "durchaus elementare Einleitung zu den Knnstbetrachtungeu
sein," die sie in eine lchrbare nud an einfachen, verständlichen Begriffen hin¬
laufende theoretische Betrachtung zu fassen sich vorsetzt. "Bestrebt, die willkürlich
hervorgebrachte Dunkelheit hinwegzuräumen, die aus der Einführung syste¬
matischer Terminologie in dieses Gebiet entsteht," ist sie bestimmt, "durch keinen
undeutschen Ausdruck der Sache eine ihr fremde Schwierigkeit zu machen." Durch
die Schwierigkeit der Sache aber und ihre knappe Fassung wird sie schwierig
genug. Die Vermeidung der herkömmlichen philosophischen Ausdrücke erschwert
das Verständnis mehr, als sie es erleichtert. An Gedanken ist die kleine Ab¬
handlung überreich: im Keime enthält sie, abgesehen von der Kunstlehre, die
ganze Ästhetik Lotzes; neues giebt sie genug und weniger elementares, als das
allzubescheidne Vorwort zugiebt. Umso bedeutsamer ist sie für seine ästhetischen
Anschauungen, da Lotze später dnrch den Tod verhindert wurde, seine Ästhetik
in systematischer Darstellung zusammenzufassen. Den reichen Inhalt der Ab-


Hermann Lotzes kleine Schriften.

gleichgiltig sind, von denen aber doch zuletzt die Gestalt des Gegebnen abhängen
soll. Gemeinsam ist der Hcrbartschen und Lotzischen Philosophie von Anfang
an kaum ein Punkt der Lehre, höchstens ist ihnen die naturwissenschaftlich in¬
duktive, allem Konstruircn abgeneigte Methode gemeinsam, die ihrer Philosophie
den Charakter einer naturwissenschaftlichen Lehre erteilt neben den konstruirenden
Philosophien jener Zeit, die wesentlich die Natur einer ästhetischen Auffassungs¬
weise an sich tragen. Gleichwohl hat sich die irrige Ansicht von Lotzes
Herbartiauismus so lange gehalten, daß er noch 1857 in den „Streitschriften"
seiner Einreihung in die Schule Hcrbarts einen förmlichen und entschiednen
Widerspruch entgegensetzen mußte. Seine aufrichtige Hochachtung vor der
geistigen Kraft Herbarts muß er einer unbesieglichen Abneigung abkämpfen, die
ihn gegen die beständige Gespanntheit in den Untersuchungen Herbarts und
gegen die geräuschvolle Friedlosigkeit seiner Darstellungen erfüllt. Daß die Be¬
schäftigung mit Herbart entscheidend für ihn gewesen sei, kann er sonach nicht
einräumen.

Es folgt die berühmte Abhandlung: „Leben, Lebenskraft," die als Ein¬
leitung zu Rudolf Wagners „Handwörterbuch der Physiologie" jenem Miß-
bcgriff der Physiologie endgiltig den Garaus gemacht hat. Sie zu rühmen
ist unnötig, auch bin ich nicht der Mann dazu. Auf die kleinere Abhandlung
vom „Instinkt" folgt dann eine Reihe Rezensionen aus den „Göttingischen
Gelehrten Anzeigen." Die wichtigste, an geistigem Gehalt reichste ist die über
Harteusteins „Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften" (1845), in welcher Lotze
der Hcrbartschen Ethik seine eignen neuen Gedanken entgegenstellt.

Die umfangreichste nach der von der Lebenskraft und die bedeutendste ist
die in den „Göttinger Studien" von 1845 zuerst erschienene Abhandlung: ,,Über
den Begriff der Schönheit." Obwohl sie auch als Einzelheft 1847 erschienen
ist, hat sie die Beachtung nicht gefunden, die sie verdient. Sie will sehr be¬
scheiden nur eine „durchaus elementare Einleitung zu den Knnstbetrachtungeu
sein," die sie in eine lchrbare nud an einfachen, verständlichen Begriffen hin¬
laufende theoretische Betrachtung zu fassen sich vorsetzt. „Bestrebt, die willkürlich
hervorgebrachte Dunkelheit hinwegzuräumen, die aus der Einführung syste¬
matischer Terminologie in dieses Gebiet entsteht," ist sie bestimmt, „durch keinen
undeutschen Ausdruck der Sache eine ihr fremde Schwierigkeit zu machen." Durch
die Schwierigkeit der Sache aber und ihre knappe Fassung wird sie schwierig
genug. Die Vermeidung der herkömmlichen philosophischen Ausdrücke erschwert
das Verständnis mehr, als sie es erleichtert. An Gedanken ist die kleine Ab¬
handlung überreich: im Keime enthält sie, abgesehen von der Kunstlehre, die
ganze Ästhetik Lotzes; neues giebt sie genug und weniger elementares, als das
allzubescheidne Vorwort zugiebt. Umso bedeutsamer ist sie für seine ästhetischen
Anschauungen, da Lotze später dnrch den Tod verhindert wurde, seine Ästhetik
in systematischer Darstellung zusammenzufassen. Den reichen Inhalt der Ab-


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[0216] Hermann Lotzes kleine Schriften. gleichgiltig sind, von denen aber doch zuletzt die Gestalt des Gegebnen abhängen soll. Gemeinsam ist der Hcrbartschen und Lotzischen Philosophie von Anfang an kaum ein Punkt der Lehre, höchstens ist ihnen die naturwissenschaftlich in¬ duktive, allem Konstruircn abgeneigte Methode gemeinsam, die ihrer Philosophie den Charakter einer naturwissenschaftlichen Lehre erteilt neben den konstruirenden Philosophien jener Zeit, die wesentlich die Natur einer ästhetischen Auffassungs¬ weise an sich tragen. Gleichwohl hat sich die irrige Ansicht von Lotzes Herbartiauismus so lange gehalten, daß er noch 1857 in den „Streitschriften" seiner Einreihung in die Schule Hcrbarts einen förmlichen und entschiednen Widerspruch entgegensetzen mußte. Seine aufrichtige Hochachtung vor der geistigen Kraft Herbarts muß er einer unbesieglichen Abneigung abkämpfen, die ihn gegen die beständige Gespanntheit in den Untersuchungen Herbarts und gegen die geräuschvolle Friedlosigkeit seiner Darstellungen erfüllt. Daß die Be¬ schäftigung mit Herbart entscheidend für ihn gewesen sei, kann er sonach nicht einräumen. Es folgt die berühmte Abhandlung: „Leben, Lebenskraft," die als Ein¬ leitung zu Rudolf Wagners „Handwörterbuch der Physiologie" jenem Miß- bcgriff der Physiologie endgiltig den Garaus gemacht hat. Sie zu rühmen ist unnötig, auch bin ich nicht der Mann dazu. Auf die kleinere Abhandlung vom „Instinkt" folgt dann eine Reihe Rezensionen aus den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen." Die wichtigste, an geistigem Gehalt reichste ist die über Harteusteins „Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften" (1845), in welcher Lotze der Hcrbartschen Ethik seine eignen neuen Gedanken entgegenstellt. Die umfangreichste nach der von der Lebenskraft und die bedeutendste ist die in den „Göttinger Studien" von 1845 zuerst erschienene Abhandlung: ,,Über den Begriff der Schönheit." Obwohl sie auch als Einzelheft 1847 erschienen ist, hat sie die Beachtung nicht gefunden, die sie verdient. Sie will sehr be¬ scheiden nur eine „durchaus elementare Einleitung zu den Knnstbetrachtungeu sein," die sie in eine lchrbare nud an einfachen, verständlichen Begriffen hin¬ laufende theoretische Betrachtung zu fassen sich vorsetzt. „Bestrebt, die willkürlich hervorgebrachte Dunkelheit hinwegzuräumen, die aus der Einführung syste¬ matischer Terminologie in dieses Gebiet entsteht," ist sie bestimmt, „durch keinen undeutschen Ausdruck der Sache eine ihr fremde Schwierigkeit zu machen." Durch die Schwierigkeit der Sache aber und ihre knappe Fassung wird sie schwierig genug. Die Vermeidung der herkömmlichen philosophischen Ausdrücke erschwert das Verständnis mehr, als sie es erleichtert. An Gedanken ist die kleine Ab¬ handlung überreich: im Keime enthält sie, abgesehen von der Kunstlehre, die ganze Ästhetik Lotzes; neues giebt sie genug und weniger elementares, als das allzubescheidne Vorwort zugiebt. Umso bedeutsamer ist sie für seine ästhetischen Anschauungen, da Lotze später dnrch den Tod verhindert wurde, seine Ästhetik in systematischer Darstellung zusammenzufassen. Den reichen Inhalt der Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/216>, abgerufen am 22.07.2024.