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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Hermann Totzes kleine Schriften.

dankenswerte Ergänzungen und Erläuterungen. Wir sehen den angehenden
Forscher in den beiden Dissertationen seine Kräfte regen. Die medizinische: of
knwras Liolog'me ?rmoixüs xdi1v8oMois, enthält in einem, fast möchte ich sagen,
persönlichen Latein geschrieben, im Keime die Grundgedanken der spätern Physio¬
logie Lotzes: das Bestreben, aus empirischen Kenntnissen durch Zurückführung
auf allgemeine Grundsätze philosophisches Wissen zu gewinnen, ferner die
Polemik gegen die Lebenskraft und andre mystische Begriffe, welche sich gegen
die strenge Durchführung mechanistischer Ansichten in der Physiologie sträuben.
Die Grundzüge seiner Pathologie zeichnet in polemischer Begründung die sehr
ausführliche Rezension von Starks "Allgemeiner Pathologie" (1839 in den
"Hallischen Jahrbüchern" erschienen). Für Laien unverständlich, handelt die
mathematische Dissertation vom Jahre 1840 Ho 8umiui8 oontiuuorunr. Die
weiteren Aufsätze zeigen, wie Lotze sich Schritt sür Schritt freier auf eigne Füße
stellt. Die "Bemerkungen über den Begriff des Raumes" setzen sich in einem
Sendschreiben mit Christian Hermann Weiße auseinander, Lotzes verehrten
Lehrer, dessen Unterricht er, nach seinem eignen Geständnisse, nicht nur der An¬
regungen auf weiteren Gebieten gar viele, sondern auch deu positiverer Gewinn
verdankt, über einen engern Kreis von Gedanken so belehrt und in ihm gefestigt
worden zu sein, daß er diesen wieder aufzugeben weder eine Veranlassung außer
sich noch einen Trieb in sich gefühlt hat. Jenes Sendschreiben, sachlich bedeutsam
dadurch, daß Lotze in der Begründung seines Naumbegrisfcs auf Kant zurück¬
geht, enthält zugleich eine runde Absage an die verschwimmende Unbestimmtheit
der 5)egclschcn Dialektik, die, "weit entfernt, eine philosophische Methode der
Entwicklung sein zu können, in Wahrheit nnr ein Hilfsmittel ist, bereits erkannte
Gruppirungen von Begriffen scheinbar auseinander herzuleiten." Gegen den ent¬
schiedensten Gegner Hegels, gegen Herbart, zu dessen Schule man Lotze anfänglich
seltsamerweise, vielleicht deshalb zählte, weil er in Göttingen sein Nachfolger
war, kämpft die Abhandlung über "Herbarts Ontologie" (1842). So sehr Lotze
in dem System .Herbarts die richtige Ergänzung findet, die zu jeder ideal kon-
struircndcn Philosophie hinzukommen muß, die Ncichweisuug der Ursachen nämlich
und ihrer Wirkungsgesetzc, durch welche der Zweck der Idee verwirklicht wird, so
fühlt er sich doch von vornherein durch die Prinzipien der Herbartschen Lehre
abgestoßen. Im Grunde weiß sich Lotze auf Seiten der Idealisten, die einen
Zusammenhang der Erscheinungen nach einer immanenten Idee, allerdings auf
falsch kvnstruirende Weise, verfolgen, gegen die Lehre Herbarts, dem sich die
Kausaluntcrsuchuugen von den Untersuchungen des Zweckes ablösen, für den es
keinen Widerspruch enthält, daß eine Welt ohne Zweck schlechthin vorhanden sei.
Dein entgegen stellt Lotze die ihm mit unwiderleglicher Gewißheit sich aufdrängende
Forderung, Metaphysik nie ohne Rücksicht auf das, was im allgemeinsten Sinne
Ethik heißen kann, zu bearbeiten, und ein unerträglich herber Widerspruch liegt
für ihn darin, daß ein Seiendes schlechthin dasei, in Beziehungen, die ihm ganz


Hermann Totzes kleine Schriften.

dankenswerte Ergänzungen und Erläuterungen. Wir sehen den angehenden
Forscher in den beiden Dissertationen seine Kräfte regen. Die medizinische: of
knwras Liolog'me ?rmoixüs xdi1v8oMois, enthält in einem, fast möchte ich sagen,
persönlichen Latein geschrieben, im Keime die Grundgedanken der spätern Physio¬
logie Lotzes: das Bestreben, aus empirischen Kenntnissen durch Zurückführung
auf allgemeine Grundsätze philosophisches Wissen zu gewinnen, ferner die
Polemik gegen die Lebenskraft und andre mystische Begriffe, welche sich gegen
die strenge Durchführung mechanistischer Ansichten in der Physiologie sträuben.
Die Grundzüge seiner Pathologie zeichnet in polemischer Begründung die sehr
ausführliche Rezension von Starks „Allgemeiner Pathologie" (1839 in den
„Hallischen Jahrbüchern" erschienen). Für Laien unverständlich, handelt die
mathematische Dissertation vom Jahre 1840 Ho 8umiui8 oontiuuorunr. Die
weiteren Aufsätze zeigen, wie Lotze sich Schritt sür Schritt freier auf eigne Füße
stellt. Die „Bemerkungen über den Begriff des Raumes" setzen sich in einem
Sendschreiben mit Christian Hermann Weiße auseinander, Lotzes verehrten
Lehrer, dessen Unterricht er, nach seinem eignen Geständnisse, nicht nur der An¬
regungen auf weiteren Gebieten gar viele, sondern auch deu positiverer Gewinn
verdankt, über einen engern Kreis von Gedanken so belehrt und in ihm gefestigt
worden zu sein, daß er diesen wieder aufzugeben weder eine Veranlassung außer
sich noch einen Trieb in sich gefühlt hat. Jenes Sendschreiben, sachlich bedeutsam
dadurch, daß Lotze in der Begründung seines Naumbegrisfcs auf Kant zurück¬
geht, enthält zugleich eine runde Absage an die verschwimmende Unbestimmtheit
der 5)egclschcn Dialektik, die, „weit entfernt, eine philosophische Methode der
Entwicklung sein zu können, in Wahrheit nnr ein Hilfsmittel ist, bereits erkannte
Gruppirungen von Begriffen scheinbar auseinander herzuleiten." Gegen den ent¬
schiedensten Gegner Hegels, gegen Herbart, zu dessen Schule man Lotze anfänglich
seltsamerweise, vielleicht deshalb zählte, weil er in Göttingen sein Nachfolger
war, kämpft die Abhandlung über „Herbarts Ontologie" (1842). So sehr Lotze
in dem System .Herbarts die richtige Ergänzung findet, die zu jeder ideal kon-
struircndcn Philosophie hinzukommen muß, die Ncichweisuug der Ursachen nämlich
und ihrer Wirkungsgesetzc, durch welche der Zweck der Idee verwirklicht wird, so
fühlt er sich doch von vornherein durch die Prinzipien der Herbartschen Lehre
abgestoßen. Im Grunde weiß sich Lotze auf Seiten der Idealisten, die einen
Zusammenhang der Erscheinungen nach einer immanenten Idee, allerdings auf
falsch kvnstruirende Weise, verfolgen, gegen die Lehre Herbarts, dem sich die
Kausaluntcrsuchuugen von den Untersuchungen des Zweckes ablösen, für den es
keinen Widerspruch enthält, daß eine Welt ohne Zweck schlechthin vorhanden sei.
Dein entgegen stellt Lotze die ihm mit unwiderleglicher Gewißheit sich aufdrängende
Forderung, Metaphysik nie ohne Rücksicht auf das, was im allgemeinsten Sinne
Ethik heißen kann, zu bearbeiten, und ein unerträglich herber Widerspruch liegt
für ihn darin, daß ein Seiendes schlechthin dasei, in Beziehungen, die ihm ganz


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[0215] Hermann Totzes kleine Schriften. dankenswerte Ergänzungen und Erläuterungen. Wir sehen den angehenden Forscher in den beiden Dissertationen seine Kräfte regen. Die medizinische: of knwras Liolog'me ?rmoixüs xdi1v8oMois, enthält in einem, fast möchte ich sagen, persönlichen Latein geschrieben, im Keime die Grundgedanken der spätern Physio¬ logie Lotzes: das Bestreben, aus empirischen Kenntnissen durch Zurückführung auf allgemeine Grundsätze philosophisches Wissen zu gewinnen, ferner die Polemik gegen die Lebenskraft und andre mystische Begriffe, welche sich gegen die strenge Durchführung mechanistischer Ansichten in der Physiologie sträuben. Die Grundzüge seiner Pathologie zeichnet in polemischer Begründung die sehr ausführliche Rezension von Starks „Allgemeiner Pathologie" (1839 in den „Hallischen Jahrbüchern" erschienen). Für Laien unverständlich, handelt die mathematische Dissertation vom Jahre 1840 Ho 8umiui8 oontiuuorunr. Die weiteren Aufsätze zeigen, wie Lotze sich Schritt sür Schritt freier auf eigne Füße stellt. Die „Bemerkungen über den Begriff des Raumes" setzen sich in einem Sendschreiben mit Christian Hermann Weiße auseinander, Lotzes verehrten Lehrer, dessen Unterricht er, nach seinem eignen Geständnisse, nicht nur der An¬ regungen auf weiteren Gebieten gar viele, sondern auch deu positiverer Gewinn verdankt, über einen engern Kreis von Gedanken so belehrt und in ihm gefestigt worden zu sein, daß er diesen wieder aufzugeben weder eine Veranlassung außer sich noch einen Trieb in sich gefühlt hat. Jenes Sendschreiben, sachlich bedeutsam dadurch, daß Lotze in der Begründung seines Naumbegrisfcs auf Kant zurück¬ geht, enthält zugleich eine runde Absage an die verschwimmende Unbestimmtheit der 5)egclschcn Dialektik, die, „weit entfernt, eine philosophische Methode der Entwicklung sein zu können, in Wahrheit nnr ein Hilfsmittel ist, bereits erkannte Gruppirungen von Begriffen scheinbar auseinander herzuleiten." Gegen den ent¬ schiedensten Gegner Hegels, gegen Herbart, zu dessen Schule man Lotze anfänglich seltsamerweise, vielleicht deshalb zählte, weil er in Göttingen sein Nachfolger war, kämpft die Abhandlung über „Herbarts Ontologie" (1842). So sehr Lotze in dem System .Herbarts die richtige Ergänzung findet, die zu jeder ideal kon- struircndcn Philosophie hinzukommen muß, die Ncichweisuug der Ursachen nämlich und ihrer Wirkungsgesetzc, durch welche der Zweck der Idee verwirklicht wird, so fühlt er sich doch von vornherein durch die Prinzipien der Herbartschen Lehre abgestoßen. Im Grunde weiß sich Lotze auf Seiten der Idealisten, die einen Zusammenhang der Erscheinungen nach einer immanenten Idee, allerdings auf falsch kvnstruirende Weise, verfolgen, gegen die Lehre Herbarts, dem sich die Kausaluntcrsuchuugen von den Untersuchungen des Zweckes ablösen, für den es keinen Widerspruch enthält, daß eine Welt ohne Zweck schlechthin vorhanden sei. Dein entgegen stellt Lotze die ihm mit unwiderleglicher Gewißheit sich aufdrängende Forderung, Metaphysik nie ohne Rücksicht auf das, was im allgemeinsten Sinne Ethik heißen kann, zu bearbeiten, und ein unerträglich herber Widerspruch liegt für ihn darin, daß ein Seiendes schlechthin dasei, in Beziehungen, die ihm ganz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/215>, abgerufen am 25.08.2024.