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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Margarethe von Ncwarrci.

Savoyen. Nach des Vaters frühzeitigem Tode wurde Ludwig von Orleans,
der spätere König Ludwig XII,, ihr Vormund; weil dieser letztere ohne männ¬
liche Erben war, rechnete die Gräfin Louise seit langen Jahren darauf, daß
ihr Sohn Franz, "ihr Herr und Cäsar," welcher von ihr und ihrer Tochter
fast vergöttert wurde, einst den Thron besteigen würde. Da die vornehmen
Frauen der Renaissance in Italien und in Frankreich genau denselben litera-
rischen, ja selbst philologische" Unterricht genossen wie die Männer, so ward
mich Margarethens Erziehung darnach gestaltet; unter Leitung des Abbes Jnrcmlt
lernte sie Lateinisch und Griechisch, Italienisch und Spanisch. Aber auch
die Muttersprache ward darüber nicht vernachlässigt; noch in späten Jahren
hat sie mit ihrem Bruder darin poetische Episteln und Lieder gewechselt.

Kaum dem Kindesalter entwachsen, wurde sie 1509 mit dem Herzoge Karl
von Alm"?on verheiratet. Politische Gründe gaben dazu die Veranlassung, beide
empfanden keine Neigung für einander. Margarethe gab sich von nun ab umso
eifriger den Studien, in erster Linie den theologischen hin. Wenige Jahre
später, 1515, kam Franz zur Regierung; mit ihm gelangte der Geist der Re¬
naissance in Frankreich zur uubcschrciukten Herrschaft, der Hof wurde der Sammel¬
punkt hervorragender Künstler, eine Stätte heitersten Lebensgenusses, aber auch
der tiefsten Sittenlosigkeit.

Der König zog die Schwester häufig in seine Nähe, auf seinen Reisen war
sie meist seine Begleiterin und die einzige, welche nach dem einstimmigen Urteil
der Zeitgenossen einen günstigen Einfluß auf ihn ausübte. So scharfblickende
Beobachter wie die Gesandten der Republik Venedig rühmen von ihr, daß
sie dnrch ihren Verstand nicht allein die Frauen, sondern auch alle Männer
übertreffe; über die religiösen Fragen wisse sie wie wenige Bescheid. Kinderlos,
an der Seite eines ungeliebten Gemahls, wandte die Herzogin von Ulm^on
ihre ganze Zärtlichkeit dem Bruder zu, dessen Persönlichkeit ganz dazu geschaffen
war, Bewunderung und Zuneigung zu erwecken. Man kann sich kaum einen
innigere" Verkehr denken, als wie er zwischen dem Könige, seiner Mutter und
seiner Schwester bestand. Die Möglichkeit, aus diesem Dreibund als die letzte
übrig zu bleiben, betrachtete Margarethe, wie sie ihrem Bruder einmal schrieb,
als das höchste Unglück, welches Gott über sie verhängen könnte. "Wir sind
ein Herz, heißt es in einem ihm übersandten Rondeau, und ich füge meinen
Willen nach dem deinen. So gedenke auch du daran: wir sind ein Herz."
Nur jemand, der die Ausdrucksweise des sechzehnten Jahrhunderts nicht kennt,
hat aus diesem und andern von ihren Gedichten auf eine unerlaubte Liebe
der Schwester zu dem Bruder schließen können.

Noch in Margarethens Kindheit füllen die ersten Versuche der Franzosen,
Italien ihrem Einflüsse dauernd zu unterwerfen; König Franz verfolgte die
Pläne seiner Vorfahren weiter. Seine Gefangennahme in der unglücklichen
Schlacht bei Pavia zog auch seine Schwester mit in den Kreis der Politik.


Grenzboten III. 1886. 21
Margarethe von Ncwarrci.

Savoyen. Nach des Vaters frühzeitigem Tode wurde Ludwig von Orleans,
der spätere König Ludwig XII,, ihr Vormund; weil dieser letztere ohne männ¬
liche Erben war, rechnete die Gräfin Louise seit langen Jahren darauf, daß
ihr Sohn Franz, „ihr Herr und Cäsar," welcher von ihr und ihrer Tochter
fast vergöttert wurde, einst den Thron besteigen würde. Da die vornehmen
Frauen der Renaissance in Italien und in Frankreich genau denselben litera-
rischen, ja selbst philologische» Unterricht genossen wie die Männer, so ward
mich Margarethens Erziehung darnach gestaltet; unter Leitung des Abbes Jnrcmlt
lernte sie Lateinisch und Griechisch, Italienisch und Spanisch. Aber auch
die Muttersprache ward darüber nicht vernachlässigt; noch in späten Jahren
hat sie mit ihrem Bruder darin poetische Episteln und Lieder gewechselt.

Kaum dem Kindesalter entwachsen, wurde sie 1509 mit dem Herzoge Karl
von Alm«?on verheiratet. Politische Gründe gaben dazu die Veranlassung, beide
empfanden keine Neigung für einander. Margarethe gab sich von nun ab umso
eifriger den Studien, in erster Linie den theologischen hin. Wenige Jahre
später, 1515, kam Franz zur Regierung; mit ihm gelangte der Geist der Re¬
naissance in Frankreich zur uubcschrciukten Herrschaft, der Hof wurde der Sammel¬
punkt hervorragender Künstler, eine Stätte heitersten Lebensgenusses, aber auch
der tiefsten Sittenlosigkeit.

Der König zog die Schwester häufig in seine Nähe, auf seinen Reisen war
sie meist seine Begleiterin und die einzige, welche nach dem einstimmigen Urteil
der Zeitgenossen einen günstigen Einfluß auf ihn ausübte. So scharfblickende
Beobachter wie die Gesandten der Republik Venedig rühmen von ihr, daß
sie dnrch ihren Verstand nicht allein die Frauen, sondern auch alle Männer
übertreffe; über die religiösen Fragen wisse sie wie wenige Bescheid. Kinderlos,
an der Seite eines ungeliebten Gemahls, wandte die Herzogin von Ulm^on
ihre ganze Zärtlichkeit dem Bruder zu, dessen Persönlichkeit ganz dazu geschaffen
war, Bewunderung und Zuneigung zu erwecken. Man kann sich kaum einen
innigere» Verkehr denken, als wie er zwischen dem Könige, seiner Mutter und
seiner Schwester bestand. Die Möglichkeit, aus diesem Dreibund als die letzte
übrig zu bleiben, betrachtete Margarethe, wie sie ihrem Bruder einmal schrieb,
als das höchste Unglück, welches Gott über sie verhängen könnte. „Wir sind
ein Herz, heißt es in einem ihm übersandten Rondeau, und ich füge meinen
Willen nach dem deinen. So gedenke auch du daran: wir sind ein Herz."
Nur jemand, der die Ausdrucksweise des sechzehnten Jahrhunderts nicht kennt,
hat aus diesem und andern von ihren Gedichten auf eine unerlaubte Liebe
der Schwester zu dem Bruder schließen können.

Noch in Margarethens Kindheit füllen die ersten Versuche der Franzosen,
Italien ihrem Einflüsse dauernd zu unterwerfen; König Franz verfolgte die
Pläne seiner Vorfahren weiter. Seine Gefangennahme in der unglücklichen
Schlacht bei Pavia zog auch seine Schwester mit in den Kreis der Politik.


Grenzboten III. 1886. 21
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[0169] Margarethe von Ncwarrci. Savoyen. Nach des Vaters frühzeitigem Tode wurde Ludwig von Orleans, der spätere König Ludwig XII,, ihr Vormund; weil dieser letztere ohne männ¬ liche Erben war, rechnete die Gräfin Louise seit langen Jahren darauf, daß ihr Sohn Franz, „ihr Herr und Cäsar," welcher von ihr und ihrer Tochter fast vergöttert wurde, einst den Thron besteigen würde. Da die vornehmen Frauen der Renaissance in Italien und in Frankreich genau denselben litera- rischen, ja selbst philologische» Unterricht genossen wie die Männer, so ward mich Margarethens Erziehung darnach gestaltet; unter Leitung des Abbes Jnrcmlt lernte sie Lateinisch und Griechisch, Italienisch und Spanisch. Aber auch die Muttersprache ward darüber nicht vernachlässigt; noch in späten Jahren hat sie mit ihrem Bruder darin poetische Episteln und Lieder gewechselt. Kaum dem Kindesalter entwachsen, wurde sie 1509 mit dem Herzoge Karl von Alm«?on verheiratet. Politische Gründe gaben dazu die Veranlassung, beide empfanden keine Neigung für einander. Margarethe gab sich von nun ab umso eifriger den Studien, in erster Linie den theologischen hin. Wenige Jahre später, 1515, kam Franz zur Regierung; mit ihm gelangte der Geist der Re¬ naissance in Frankreich zur uubcschrciukten Herrschaft, der Hof wurde der Sammel¬ punkt hervorragender Künstler, eine Stätte heitersten Lebensgenusses, aber auch der tiefsten Sittenlosigkeit. Der König zog die Schwester häufig in seine Nähe, auf seinen Reisen war sie meist seine Begleiterin und die einzige, welche nach dem einstimmigen Urteil der Zeitgenossen einen günstigen Einfluß auf ihn ausübte. So scharfblickende Beobachter wie die Gesandten der Republik Venedig rühmen von ihr, daß sie dnrch ihren Verstand nicht allein die Frauen, sondern auch alle Männer übertreffe; über die religiösen Fragen wisse sie wie wenige Bescheid. Kinderlos, an der Seite eines ungeliebten Gemahls, wandte die Herzogin von Ulm^on ihre ganze Zärtlichkeit dem Bruder zu, dessen Persönlichkeit ganz dazu geschaffen war, Bewunderung und Zuneigung zu erwecken. Man kann sich kaum einen innigere» Verkehr denken, als wie er zwischen dem Könige, seiner Mutter und seiner Schwester bestand. Die Möglichkeit, aus diesem Dreibund als die letzte übrig zu bleiben, betrachtete Margarethe, wie sie ihrem Bruder einmal schrieb, als das höchste Unglück, welches Gott über sie verhängen könnte. „Wir sind ein Herz, heißt es in einem ihm übersandten Rondeau, und ich füge meinen Willen nach dem deinen. So gedenke auch du daran: wir sind ein Herz." Nur jemand, der die Ausdrucksweise des sechzehnten Jahrhunderts nicht kennt, hat aus diesem und andern von ihren Gedichten auf eine unerlaubte Liebe der Schwester zu dem Bruder schließen können. Noch in Margarethens Kindheit füllen die ersten Versuche der Franzosen, Italien ihrem Einflüsse dauernd zu unterwerfen; König Franz verfolgte die Pläne seiner Vorfahren weiter. Seine Gefangennahme in der unglücklichen Schlacht bei Pavia zog auch seine Schwester mit in den Kreis der Politik. Grenzboten III. 1886. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/169>, abgerufen am 03.07.2024.