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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Schiller der Demokrat.

im Eingang angedeutet worden. Für Schillers "demokratische Tendenzen" sprechen
zu bedenklich Epigramme, wie die Dreiheit: "Politische Lehre," "An einen
Weltverbesserer" und besonders das resignirte Kenion NlW8w8 xoxuli:


Majestät der Menschennatur! Dich soll ich beim Haufen
Suchen? Bei wenigen nur hast du von jeher gewohnt.
Einzelne wenige zählen, die übrigen alle sind blinde
nieder; ihr leeres Gewühl hüllet die Treffer nur ein.

Einen fortlaufenden Kommentar zu dieser polarischen Entwicklung bieten die
prosaischen Schriften, in welchen der vom Dichter Schiller bekanntlich oft über¬
raschend verschiedene Mensch Schiller redet. Die bezüglichen Äußerungen aus
der ersten und zweiten Periode sind maßvoller, als man von dem Jüngling
Schiller, den man nur etwa aus seinen Dramen kennt, erwarten sollte. Auch
hier hat er nicht bloß der "spekulativen Schwärmerei," sondern auch der histo¬
rischen und naturwissenschaftlichen Frühfertigkeit und Naseweisheit des Jahr¬
hunderts seine Opfer gebracht, aber stets in einer Fassung und Umgebung, die
den unbefriedigt Ahnenden, den fort und höher Strebenden deutlich kennzeichnen.
Aufsätze von so durchgehender Naivität wie jener "Über die erste Menschen¬
gesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde" mit seinen Rousseauschen
Gedanken über rationalistische Zurechtlegungen der Entstehung von Standcs-
verschiedenheit. Eigentum, Königsgewalt werden in Schach gehalten durch den
um ein Bedeutendes reiferen "Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon."
Die kleine Abhandlung "Über Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter"
mit ihren ersten Ansätzen zur Würdigung des Mittelalters bildet unter den
historischen einen völligen Einschnitt, wie der Aufsatz "Über Anmut und Würde"
unter den philosophischen. Er behandelt zwar auch hier noch Natur "die gute
Mutter," d. h. die Realität, "mit jenen harten Ausdrücken," welche Goethen
"diesen Aufsatz so verhaßt machten." (Zur Naturwissenschaft im allgemeinen.
Einwirkung der neuern Philosophie.) Man sieht, wie schwer es ihm wird,
"das Evangelium der (absolut guten) Freiheit, das er predigte," nicht bloß
mit "den Rechten der Natur," sondern selbst mit dem Kantischen Gesetz in Ein¬
klang zu bringen. Nicht der Imperativ, sondern die Kritik des absoluten Deter¬
minismus und vor allem das Postulat war es, was ihn zuerst zu Kant heranzog.
Rührend klingt das aus Sätzen heraus wie folgender: "Über die Sache selbst
kann nach den von ihm (Kant) geführten Beweisen unter denkenden Köpfen, die
überzeugt sein wollen, kein Streit mehr sein, und ich wüßte kaum, wie man
nicht lieber sein ganzes Menschsein aufgeben, als über diese Angelegenheit ein
andres Resultat von der Vernunft erhalten wollte." Aber vor der "Härte,
mit der die Idee der Pflicht in der Kantischen Moralphilosophie vorgetragen
wird," schreckt er zurück,^ er versucht sie von dem System abzulösen und nur
zu einem Korrektiv des "schlaffen Zeitcharakters" zu machen. Kant "war der
Drako seiner Zeit, weil sie ihm eines Solons noch nicht wert und empfänglich


Schiller der Demokrat.

im Eingang angedeutet worden. Für Schillers „demokratische Tendenzen" sprechen
zu bedenklich Epigramme, wie die Dreiheit: „Politische Lehre," „An einen
Weltverbesserer" und besonders das resignirte Kenion NlW8w8 xoxuli:


Majestät der Menschennatur! Dich soll ich beim Haufen
Suchen? Bei wenigen nur hast du von jeher gewohnt.
Einzelne wenige zählen, die übrigen alle sind blinde
nieder; ihr leeres Gewühl hüllet die Treffer nur ein.

Einen fortlaufenden Kommentar zu dieser polarischen Entwicklung bieten die
prosaischen Schriften, in welchen der vom Dichter Schiller bekanntlich oft über¬
raschend verschiedene Mensch Schiller redet. Die bezüglichen Äußerungen aus
der ersten und zweiten Periode sind maßvoller, als man von dem Jüngling
Schiller, den man nur etwa aus seinen Dramen kennt, erwarten sollte. Auch
hier hat er nicht bloß der „spekulativen Schwärmerei," sondern auch der histo¬
rischen und naturwissenschaftlichen Frühfertigkeit und Naseweisheit des Jahr¬
hunderts seine Opfer gebracht, aber stets in einer Fassung und Umgebung, die
den unbefriedigt Ahnenden, den fort und höher Strebenden deutlich kennzeichnen.
Aufsätze von so durchgehender Naivität wie jener „Über die erste Menschen¬
gesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde" mit seinen Rousseauschen
Gedanken über rationalistische Zurechtlegungen der Entstehung von Standcs-
verschiedenheit. Eigentum, Königsgewalt werden in Schach gehalten durch den
um ein Bedeutendes reiferen „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon."
Die kleine Abhandlung „Über Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter"
mit ihren ersten Ansätzen zur Würdigung des Mittelalters bildet unter den
historischen einen völligen Einschnitt, wie der Aufsatz „Über Anmut und Würde"
unter den philosophischen. Er behandelt zwar auch hier noch Natur „die gute
Mutter," d. h. die Realität, „mit jenen harten Ausdrücken," welche Goethen
„diesen Aufsatz so verhaßt machten." (Zur Naturwissenschaft im allgemeinen.
Einwirkung der neuern Philosophie.) Man sieht, wie schwer es ihm wird,
„das Evangelium der (absolut guten) Freiheit, das er predigte," nicht bloß
mit „den Rechten der Natur," sondern selbst mit dem Kantischen Gesetz in Ein¬
klang zu bringen. Nicht der Imperativ, sondern die Kritik des absoluten Deter¬
minismus und vor allem das Postulat war es, was ihn zuerst zu Kant heranzog.
Rührend klingt das aus Sätzen heraus wie folgender: „Über die Sache selbst
kann nach den von ihm (Kant) geführten Beweisen unter denkenden Köpfen, die
überzeugt sein wollen, kein Streit mehr sein, und ich wüßte kaum, wie man
nicht lieber sein ganzes Menschsein aufgeben, als über diese Angelegenheit ein
andres Resultat von der Vernunft erhalten wollte." Aber vor der „Härte,
mit der die Idee der Pflicht in der Kantischen Moralphilosophie vorgetragen
wird," schreckt er zurück,^ er versucht sie von dem System abzulösen und nur
zu einem Korrektiv des „schlaffen Zeitcharakters" zu machen. Kant „war der
Drako seiner Zeit, weil sie ihm eines Solons noch nicht wert und empfänglich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/157>, abgerufen am 03.07.2024.