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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

höchste poetische Vermögen zusprechen, das ist eine der zahllosen Sinnwidrigkeiten,
welche die jüngste literarische Bewegung zu Tage gefördert hat und voraussichtlich
noch weiter zu Tage fordern wird. Wir vermögen angesichts der naturalistische,!
"Umwälzung" der Literatur bis jetzt mir drei Momente zu entdecken, die eine
schwache Ähnlichkeit mit gewissen Erscheinungen (nicht den Hanpterscheiuungen)
der Sturm- und Drangperiode haben. Erstens die besondre Bevorzugung von
Problemen und Vorkommnissen des geschlechtlichen Lebens. Zweitens die un¬
reife Lust an einer Polemik, die so weit über die Ziele hinausschießt, daß sie
die zum Tode bestimmten ungefähr in gleicher Weise vernichtet, wie der Obcron-
dichter durch die Tiraden der Göttinger Haiubündlcr oder Lessing durch Lenz
vernichtet worden ist. Drittens das bedenkliche Auftreten jenes Größenwahu-
sinns, dem in der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts Lenz,
Wezel, I. Chr. Fr. Schulz und andre zum Opfer fielen. Diese "Ähnlich¬
keiten" räumen wir ein, andre nicht. Und alles in allem, hat die ganze jüngste
Schule der Literatur eine durchaus unerfreuliche, nichtsdestoweniger sehr nahe
Verwandtschaft mit der jungdeutschen Bewegung. Dieselbe abenteuerliche Über¬
schätzung des wirklichen und vermeint Neuen, derselbe Köhlerglaube an den Zeit¬
geist, dieselbe Verwechslung von Großmannssucht und Größe, dieselbe hochmütige
Verachtung der bleibenden und ewigen Elemente in Leben und Kunst, dieselbe
demonstrativ lärmende Nvrdriugtichkeit der Wortführer, dieselbe Unfähigkeit, auch
nur von fern zu verstehen, daß und warum andersgeartete Naturen Welt- und
Menschendasein mit andern Augen anschauen und in anderen Lichte darstellen
müssen als die Herren selbst, es erinnert alles an die schönen Tage, in denen
Heinrich Laube die Losung ausgab: "Was nicht vou selbst sterben will, muß
totgeschlagen werden" und Theodor Munde die alleinseligmachende moderne
Prosa als eine Heilige apostrophirte.

Doch wie sehr immer die jüngste deutsche naturalistische "Schule" an die
jungdeutsche erinnern und wie sehr sie mit dieser in ihren bedenklichsten Aus-
schreitungen wetteifern möge, die Kritik wird gut thun, sich dadurch nicht zu
hochmütigem Totschweigen der wunderlichen Bewegung verleiten zu lassen und
sowohl das ganze Prinzip, um das es sich hier handelt, als die einzelnen Ta¬
lente oder Nichttalcnte, die unter dessen Panier treten, etwas näher ins
Ruge zu fassen. Auch in den dreißiger Jahren Hütte man besser gethan, nicht
mit ein paar Schlagwörtern wie "Emanzipation des Fleisches" und "Politisch
Lied ein garstig Lied" über die Moderne" hinwegzugehen, sondern von vorn¬
herein den ganzen Umfang der geistigen Ansprüche, welche erhoben, die Trag¬
weite der Ziele, welche erstrebt wurden, ruhig zu ermessen. Würde man damit
auch schwerlich die Verwirrung und Verwilderung der Empfindung, die Ver¬
wüstung des Stilgefühls abgewendet haben, welche unmittelbare und mittelbare
Folgen der jungdeutschen Literaturrcfvrm waren, so hätte man mindestens dem
kleinen denkenden Teile des Publikums, welcher für klaren Nachweis der Eigen-


Die naturalistische Schule in Deutschland.

höchste poetische Vermögen zusprechen, das ist eine der zahllosen Sinnwidrigkeiten,
welche die jüngste literarische Bewegung zu Tage gefördert hat und voraussichtlich
noch weiter zu Tage fordern wird. Wir vermögen angesichts der naturalistische,!
„Umwälzung" der Literatur bis jetzt mir drei Momente zu entdecken, die eine
schwache Ähnlichkeit mit gewissen Erscheinungen (nicht den Hanpterscheiuungen)
der Sturm- und Drangperiode haben. Erstens die besondre Bevorzugung von
Problemen und Vorkommnissen des geschlechtlichen Lebens. Zweitens die un¬
reife Lust an einer Polemik, die so weit über die Ziele hinausschießt, daß sie
die zum Tode bestimmten ungefähr in gleicher Weise vernichtet, wie der Obcron-
dichter durch die Tiraden der Göttinger Haiubündlcr oder Lessing durch Lenz
vernichtet worden ist. Drittens das bedenkliche Auftreten jenes Größenwahu-
sinns, dem in der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts Lenz,
Wezel, I. Chr. Fr. Schulz und andre zum Opfer fielen. Diese „Ähnlich¬
keiten" räumen wir ein, andre nicht. Und alles in allem, hat die ganze jüngste
Schule der Literatur eine durchaus unerfreuliche, nichtsdestoweniger sehr nahe
Verwandtschaft mit der jungdeutschen Bewegung. Dieselbe abenteuerliche Über¬
schätzung des wirklichen und vermeint Neuen, derselbe Köhlerglaube an den Zeit¬
geist, dieselbe Verwechslung von Großmannssucht und Größe, dieselbe hochmütige
Verachtung der bleibenden und ewigen Elemente in Leben und Kunst, dieselbe
demonstrativ lärmende Nvrdriugtichkeit der Wortführer, dieselbe Unfähigkeit, auch
nur von fern zu verstehen, daß und warum andersgeartete Naturen Welt- und
Menschendasein mit andern Augen anschauen und in anderen Lichte darstellen
müssen als die Herren selbst, es erinnert alles an die schönen Tage, in denen
Heinrich Laube die Losung ausgab: „Was nicht vou selbst sterben will, muß
totgeschlagen werden" und Theodor Munde die alleinseligmachende moderne
Prosa als eine Heilige apostrophirte.

Doch wie sehr immer die jüngste deutsche naturalistische „Schule" an die
jungdeutsche erinnern und wie sehr sie mit dieser in ihren bedenklichsten Aus-
schreitungen wetteifern möge, die Kritik wird gut thun, sich dadurch nicht zu
hochmütigem Totschweigen der wunderlichen Bewegung verleiten zu lassen und
sowohl das ganze Prinzip, um das es sich hier handelt, als die einzelnen Ta¬
lente oder Nichttalcnte, die unter dessen Panier treten, etwas näher ins
Ruge zu fassen. Auch in den dreißiger Jahren Hütte man besser gethan, nicht
mit ein paar Schlagwörtern wie „Emanzipation des Fleisches" und „Politisch
Lied ein garstig Lied" über die Moderne» hinwegzugehen, sondern von vorn¬
herein den ganzen Umfang der geistigen Ansprüche, welche erhoben, die Trag¬
weite der Ziele, welche erstrebt wurden, ruhig zu ermessen. Würde man damit
auch schwerlich die Verwirrung und Verwilderung der Empfindung, die Ver¬
wüstung des Stilgefühls abgewendet haben, welche unmittelbare und mittelbare
Folgen der jungdeutschen Literaturrcfvrm waren, so hätte man mindestens dem
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/78>, abgerufen am 04.01.2025.