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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

schalsten einer literarischen Richtung empfänglich bleibt und im Fieber für das
Neue nicht ganz die Frage nach dem Wert und Unwert des Neuen vergißt,
viel unnütze Zweifel, Kämpfe und Irrtümer ersparen können. Der Augenblick
legt Betrachtungen gleicher Art nahe genug. Die naturalistische Schule fordert
die Zukunft der Literatur für sich, und kauu sie natürlich gar nicht allein für sich
fordern, ohne die ganze Vergangenheit eben dieser Literatur für eine unzuläng¬
liche, armselige zu erklären. Da ist es denn an der Zeit, das Recht der neueste"
Reformer und die Wirkung klar zu machen, die sie auf unsre literarischen Zu¬
stände ausüben und möglicherweise ausüben werden.

Von vornherein befindet sich jeder Vertreter einer lebensvollen und charak¬
teristischen Poesie dem Naturalismus gegenüber in der Übeln Lage des braven
Zimmermeisters aus Goethes "Egmont," der einen Seufzer darüber nicht unter¬
drücken kann, daß Bansen und sein Gefolge mit ihm scheinbar übereinstimmen.
"Die brauchen das zum Vorwande, worauf wir uns auch berufen müssen, und
bringen das Land ins Unglück." In der That begegnen wir in den allgemeinen
Sätzen, von denen die naturalistischen Reformer scheinbar ausgehen, in den For¬
derungen, die sie für höchste Leistungen und Wirkungen erheben, in den Aus¬
sprüchen über gewisse Zustände der Literatur und der Gesellschaft gar vielen
Anschauungen, denen man unumwunden zustimmen muß und die dennoch in der
praktischen Anwendung durch die Jünger Zvlas zu höchst wundersamen Konse¬
quenzen führen.

Wer, der nicht ein ganz flacher Bekenner der poetischen Sentenz oder ein
ebensolcher Bewunderer des bloßen sinnlichen Wohlklanges schöner Verse ist, hat
jemals geleugnet, daß der Gehalt und die Wirkung poetischer Erfindungen und
poetischer Gestalten in eben dem Maße wachsen, als ihnen ein tieferes Ver¬
ständnis der Natur, in diesem Falle also des Menschenlebens, zu Grunde liegt?
Wer, dem nicht in der Flachheit der Tagcsreklcnne kannibalisch wohl ist, täuscht
sich darüber, daß ein guter Teil der Belletristik der Gegenwart konventionell,
und zwar konventionell im schlimmsten, schwächlichsten Sinne ist? Wer stellt in
Abrede, daß unsre Literatur vielfach unter dem Drucke einer falschen Genüg¬
samkeit steht, einer Genügsamkeit, welche, anstatt auf Wahrhaftigkeit und ethische
Tiefe zu dringen, sich mit dem Scheine der Anständigkeit zufrieden giebt? Wer
hat nicht empfunden, daß in unsrer gesellschaftlich approbirten Poesie die Prüderie
und Gouvernantenmoral unvermittelt neben der gemeinen Frivolität und der
Brutalität des modernen Strebertums steht? Alles das und noch viel mehr
ist wahr und unleugbar und soll auch nicht geleugnet werden, wenn es uns
aus dem Munde der Naturalisten entgegentönt. Wenn jedoch diese Naturalisten
in erster Linie auch Sophisten sind, die aus unbestreitbaren und wahren Vorder¬
sätzen bedenklich falsche Schlüsse ziehen, wenn die Allgemeinheiten, in denen man
ihnen zustimmen muß, beuutzt werden, um zu folgern, daß die naturalistische
Schule die Alleinbefähigung und Alleinberechtigung für künftige Schöpfungen


Die naturalistische Schule in Deutschland.

schalsten einer literarischen Richtung empfänglich bleibt und im Fieber für das
Neue nicht ganz die Frage nach dem Wert und Unwert des Neuen vergißt,
viel unnütze Zweifel, Kämpfe und Irrtümer ersparen können. Der Augenblick
legt Betrachtungen gleicher Art nahe genug. Die naturalistische Schule fordert
die Zukunft der Literatur für sich, und kauu sie natürlich gar nicht allein für sich
fordern, ohne die ganze Vergangenheit eben dieser Literatur für eine unzuläng¬
liche, armselige zu erklären. Da ist es denn an der Zeit, das Recht der neueste»
Reformer und die Wirkung klar zu machen, die sie auf unsre literarischen Zu¬
stände ausüben und möglicherweise ausüben werden.

Von vornherein befindet sich jeder Vertreter einer lebensvollen und charak¬
teristischen Poesie dem Naturalismus gegenüber in der Übeln Lage des braven
Zimmermeisters aus Goethes „Egmont," der einen Seufzer darüber nicht unter¬
drücken kann, daß Bansen und sein Gefolge mit ihm scheinbar übereinstimmen.
„Die brauchen das zum Vorwande, worauf wir uns auch berufen müssen, und
bringen das Land ins Unglück." In der That begegnen wir in den allgemeinen
Sätzen, von denen die naturalistischen Reformer scheinbar ausgehen, in den For¬
derungen, die sie für höchste Leistungen und Wirkungen erheben, in den Aus¬
sprüchen über gewisse Zustände der Literatur und der Gesellschaft gar vielen
Anschauungen, denen man unumwunden zustimmen muß und die dennoch in der
praktischen Anwendung durch die Jünger Zvlas zu höchst wundersamen Konse¬
quenzen führen.

Wer, der nicht ein ganz flacher Bekenner der poetischen Sentenz oder ein
ebensolcher Bewunderer des bloßen sinnlichen Wohlklanges schöner Verse ist, hat
jemals geleugnet, daß der Gehalt und die Wirkung poetischer Erfindungen und
poetischer Gestalten in eben dem Maße wachsen, als ihnen ein tieferes Ver¬
ständnis der Natur, in diesem Falle also des Menschenlebens, zu Grunde liegt?
Wer, dem nicht in der Flachheit der Tagcsreklcnne kannibalisch wohl ist, täuscht
sich darüber, daß ein guter Teil der Belletristik der Gegenwart konventionell,
und zwar konventionell im schlimmsten, schwächlichsten Sinne ist? Wer stellt in
Abrede, daß unsre Literatur vielfach unter dem Drucke einer falschen Genüg¬
samkeit steht, einer Genügsamkeit, welche, anstatt auf Wahrhaftigkeit und ethische
Tiefe zu dringen, sich mit dem Scheine der Anständigkeit zufrieden giebt? Wer
hat nicht empfunden, daß in unsrer gesellschaftlich approbirten Poesie die Prüderie
und Gouvernantenmoral unvermittelt neben der gemeinen Frivolität und der
Brutalität des modernen Strebertums steht? Alles das und noch viel mehr
ist wahr und unleugbar und soll auch nicht geleugnet werden, wenn es uns
aus dem Munde der Naturalisten entgegentönt. Wenn jedoch diese Naturalisten
in erster Linie auch Sophisten sind, die aus unbestreitbaren und wahren Vorder¬
sätzen bedenklich falsche Schlüsse ziehen, wenn die Allgemeinheiten, in denen man
ihnen zustimmen muß, beuutzt werden, um zu folgern, daß die naturalistische
Schule die Alleinbefähigung und Alleinberechtigung für künftige Schöpfungen


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[0079] Die naturalistische Schule in Deutschland. schalsten einer literarischen Richtung empfänglich bleibt und im Fieber für das Neue nicht ganz die Frage nach dem Wert und Unwert des Neuen vergißt, viel unnütze Zweifel, Kämpfe und Irrtümer ersparen können. Der Augenblick legt Betrachtungen gleicher Art nahe genug. Die naturalistische Schule fordert die Zukunft der Literatur für sich, und kauu sie natürlich gar nicht allein für sich fordern, ohne die ganze Vergangenheit eben dieser Literatur für eine unzuläng¬ liche, armselige zu erklären. Da ist es denn an der Zeit, das Recht der neueste» Reformer und die Wirkung klar zu machen, die sie auf unsre literarischen Zu¬ stände ausüben und möglicherweise ausüben werden. Von vornherein befindet sich jeder Vertreter einer lebensvollen und charak¬ teristischen Poesie dem Naturalismus gegenüber in der Übeln Lage des braven Zimmermeisters aus Goethes „Egmont," der einen Seufzer darüber nicht unter¬ drücken kann, daß Bansen und sein Gefolge mit ihm scheinbar übereinstimmen. „Die brauchen das zum Vorwande, worauf wir uns auch berufen müssen, und bringen das Land ins Unglück." In der That begegnen wir in den allgemeinen Sätzen, von denen die naturalistischen Reformer scheinbar ausgehen, in den For¬ derungen, die sie für höchste Leistungen und Wirkungen erheben, in den Aus¬ sprüchen über gewisse Zustände der Literatur und der Gesellschaft gar vielen Anschauungen, denen man unumwunden zustimmen muß und die dennoch in der praktischen Anwendung durch die Jünger Zvlas zu höchst wundersamen Konse¬ quenzen führen. Wer, der nicht ein ganz flacher Bekenner der poetischen Sentenz oder ein ebensolcher Bewunderer des bloßen sinnlichen Wohlklanges schöner Verse ist, hat jemals geleugnet, daß der Gehalt und die Wirkung poetischer Erfindungen und poetischer Gestalten in eben dem Maße wachsen, als ihnen ein tieferes Ver¬ ständnis der Natur, in diesem Falle also des Menschenlebens, zu Grunde liegt? Wer, dem nicht in der Flachheit der Tagcsreklcnne kannibalisch wohl ist, täuscht sich darüber, daß ein guter Teil der Belletristik der Gegenwart konventionell, und zwar konventionell im schlimmsten, schwächlichsten Sinne ist? Wer stellt in Abrede, daß unsre Literatur vielfach unter dem Drucke einer falschen Genüg¬ samkeit steht, einer Genügsamkeit, welche, anstatt auf Wahrhaftigkeit und ethische Tiefe zu dringen, sich mit dem Scheine der Anständigkeit zufrieden giebt? Wer hat nicht empfunden, daß in unsrer gesellschaftlich approbirten Poesie die Prüderie und Gouvernantenmoral unvermittelt neben der gemeinen Frivolität und der Brutalität des modernen Strebertums steht? Alles das und noch viel mehr ist wahr und unleugbar und soll auch nicht geleugnet werden, wenn es uns aus dem Munde der Naturalisten entgegentönt. Wenn jedoch diese Naturalisten in erster Linie auch Sophisten sind, die aus unbestreitbaren und wahren Vorder¬ sätzen bedenklich falsche Schlüsse ziehen, wenn die Allgemeinheiten, in denen man ihnen zustimmen muß, beuutzt werden, um zu folgern, daß die naturalistische Schule die Alleinbefähigung und Alleinberechtigung für künftige Schöpfungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/79>, abgerufen am 01.01.2025.