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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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nicht in der Wiederholung äußerlicher Genialitätsgeberdcn bestehen, die seit einem
Jahrhundert durch schlechte Schauspieler in verdienten Verruf gekommen sind,
sondern muß etwas von dem Schwung, der Wärme und Lebensfülle, der gewaltigen
Leidenschaft, dem überquellenden Gefühl, etwas von der himmelstürmenden und
erdumspannenden Phantasie des echten Sturmes und Dranges besitzen. Die
Größe und weit nachwirkende Frische der vielzitirten Periode entsprang vor allem
aus dem gewaltigen Überschusse an Unmittelbarkeit, an Naturkraft und Naivität,
an poetischem Instinkt und an Gestaltungslust über die Reflexion, über die
traditionelle VerstandeSbildnng der Aufklärungsperiode. Wer sich auf die
Sturm- und Drangperiode beruft, mag wohl zusehen, ob er "dieses Geistes
einen Hauch verspürt," sofern die Berufung nämlich mehr sein soll als eine
der klingelnden Phrasen, die allesamt ans die Unbildung des Publikums be¬
rechnet sind.

Der neueste "Sturm und Drang," welcher mit großem Getöse seinen Ein¬
zug in die Literatur hält, nennt sich der "naturalistische." Er kündigt sich un-
umwunden als Schule des großen französischen Naturalisten, des einzigen und
größten Meisters unsrer Tage an, und verfällt damit von vornherein einem
sonderbaren Widersprüche. Sturm und Drang und die strenge rein wissenschaft¬
liche Beobachtung, die Zola als Ideal und Aufgabe der modernen Literatur
prvklcunirt, Sturm und Drang und die methodische Analyse der gesellschaftlichen
Erscheinungen und Mißbildungen, Sturm und Drang und eine literarische Tech¬
nik, welche jede unmittelbare Thätigkeit der Phantasie, jede Intuition und jedes
poetische Traumleben rigoristisch verurteilt! Sturm und Drang und dazu die
tiefste Verachtung aller Unmittelbarkeit, aller schwärmerischen Gefühlsgaukelei,
aller Phantome, Fabeln, Jdcalitätslügen, die ausschließliche Lobpreisung der
"wissenschaftlichen Exaktheit," der zergliedernden Tortur, der vergleichenden Vivi¬
sektion! In der That, wenn eine literarische Richtung mit dem Sturm und
Drang nichts zu schaffen hat, dem eigentlichen Urquell der lebeusvollsteu Poesie
des achtzehnten Jahrhunderts fernsteht, so ist es die naturalistische, welche sich
rühmt, im Alleinbesitz der künstlerischen Wahrheit zu sein, und die Darstellung
eines rüstigen Fußgängers um deswillen für Lüge und schöngeistigen Schwindel
erklärt, weil die Füße, mit denen der Wandrer ausschreitet, uuter der Folter
allerdings morsch zerbrechen und zu blutüberströmten Fetzen und Knochen¬
splittern werden würden. Nur einem Publikum wie dem heutigen, das in dem Wirr¬
warr von Politik, Börseneindrttcken und Zeitungsbildung die einfachsten Unter¬
scheidungen verlernt hat, kann man in derselben Reklame die urwüchsige Energie,
die überschäumende Bildkraft, welche an die Sturm- und Drangperiode erinnern,
und die kalte Schärfe untrüglicher Einzelbeobachtung, welche angeblich die Ge¬
setze des sozialen Daseins erschließt und jede Willkür durch die Notwendigkeit ver¬
drängt, rühmen. Zu gleicher Zeit das poetische Vermögen als ein ganz unter¬
geordnetes und armseliges behandeln und einem modernen Schriftsteller das


nicht in der Wiederholung äußerlicher Genialitätsgeberdcn bestehen, die seit einem
Jahrhundert durch schlechte Schauspieler in verdienten Verruf gekommen sind,
sondern muß etwas von dem Schwung, der Wärme und Lebensfülle, der gewaltigen
Leidenschaft, dem überquellenden Gefühl, etwas von der himmelstürmenden und
erdumspannenden Phantasie des echten Sturmes und Dranges besitzen. Die
Größe und weit nachwirkende Frische der vielzitirten Periode entsprang vor allem
aus dem gewaltigen Überschusse an Unmittelbarkeit, an Naturkraft und Naivität,
an poetischem Instinkt und an Gestaltungslust über die Reflexion, über die
traditionelle VerstandeSbildnng der Aufklärungsperiode. Wer sich auf die
Sturm- und Drangperiode beruft, mag wohl zusehen, ob er „dieses Geistes
einen Hauch verspürt," sofern die Berufung nämlich mehr sein soll als eine
der klingelnden Phrasen, die allesamt ans die Unbildung des Publikums be¬
rechnet sind.

Der neueste „Sturm und Drang," welcher mit großem Getöse seinen Ein¬
zug in die Literatur hält, nennt sich der „naturalistische." Er kündigt sich un-
umwunden als Schule des großen französischen Naturalisten, des einzigen und
größten Meisters unsrer Tage an, und verfällt damit von vornherein einem
sonderbaren Widersprüche. Sturm und Drang und die strenge rein wissenschaft¬
liche Beobachtung, die Zola als Ideal und Aufgabe der modernen Literatur
prvklcunirt, Sturm und Drang und die methodische Analyse der gesellschaftlichen
Erscheinungen und Mißbildungen, Sturm und Drang und eine literarische Tech¬
nik, welche jede unmittelbare Thätigkeit der Phantasie, jede Intuition und jedes
poetische Traumleben rigoristisch verurteilt! Sturm und Drang und dazu die
tiefste Verachtung aller Unmittelbarkeit, aller schwärmerischen Gefühlsgaukelei,
aller Phantome, Fabeln, Jdcalitätslügen, die ausschließliche Lobpreisung der
„wissenschaftlichen Exaktheit," der zergliedernden Tortur, der vergleichenden Vivi¬
sektion! In der That, wenn eine literarische Richtung mit dem Sturm und
Drang nichts zu schaffen hat, dem eigentlichen Urquell der lebeusvollsteu Poesie
des achtzehnten Jahrhunderts fernsteht, so ist es die naturalistische, welche sich
rühmt, im Alleinbesitz der künstlerischen Wahrheit zu sein, und die Darstellung
eines rüstigen Fußgängers um deswillen für Lüge und schöngeistigen Schwindel
erklärt, weil die Füße, mit denen der Wandrer ausschreitet, uuter der Folter
allerdings morsch zerbrechen und zu blutüberströmten Fetzen und Knochen¬
splittern werden würden. Nur einem Publikum wie dem heutigen, das in dem Wirr¬
warr von Politik, Börseneindrttcken und Zeitungsbildung die einfachsten Unter¬
scheidungen verlernt hat, kann man in derselben Reklame die urwüchsige Energie,
die überschäumende Bildkraft, welche an die Sturm- und Drangperiode erinnern,
und die kalte Schärfe untrüglicher Einzelbeobachtung, welche angeblich die Ge¬
setze des sozialen Daseins erschließt und jede Willkür durch die Notwendigkeit ver¬
drängt, rühmen. Zu gleicher Zeit das poetische Vermögen als ein ganz unter¬
geordnetes und armseliges behandeln und einem modernen Schriftsteller das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/77>, abgerufen am 06.01.2025.