Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Die naturalistische Schule in Deutschland. Sturm- und Drangperiode gering denken, wir mißbilligen durchaus das beliebte Die naturalistische Schule in Deutschland. Sturm- und Drangperiode gering denken, wir mißbilligen durchaus das beliebte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0076" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198142"/> <fw type="header" place="top"> Die naturalistische Schule in Deutschland.</fw><lb/> <p xml:id="ID_212" prev="#ID_211" next="#ID_213"> Sturm- und Drangperiode gering denken, wir mißbilligen durchaus das beliebte<lb/> literarhistorische Verfahren, die problematischen und rasch wieder vergessenen<lb/> Erscheinungen dem „Sturm und Drang" zur Last zu schreiben, und uicht uur<lb/> Goethe und Schiller, welche mit ihren Jugenddichtungen der Gähruugsperivde<lb/> angehören, sondern alle Naturen und Talente von ihr abzutrennen, die von<lb/> Bürger und Voß bis zu Jung-Stilling und dem Wandsbecker Boten zu<lb/> bleibenden Schöpfungen und Leistungen gediehen sind. Wir halten fest daran,<lb/> daß die Sturm- lind Drangperiode eine der Hauptquellen des prächtigen Stromes<lb/> unsrer klassischen Dichtung, zugleich diejenige Quelle war, welche diesem Strom<lb/> bei aller seiner Majestät lebhafte Bewegung und den frischesten Hauch lieh.<lb/> Doch was beweist diese Thatsache für die Erfinder und Verkünder neuer<lb/> Sturm- und Drangperioden, was für ihr Gebühren? Die Bedeutung des<lb/> Sturmes und Dranges erwuchs aus der großen Bewegung des Lebens, der<lb/> mächtigen gesellschaftlichen Umbildung, sie erwuchs aus der Fülle strebender<lb/> Talente, welche zum Teil vou unbedingter Hingebung an ihre Ideale erfüllt waren,<lb/> erwuchs aus der unbefangnen, frischen Produktionslust, sie ward verklärt durch<lb/> das Erwachen und die Jugend eines Genius, wie er in Jahrhunderten eben<lb/> nur einmal aufleuchtet. Was davon kommt den Ansprüchen der verschiednen<lb/> vorgeblichen Sturm- und Drangperioden unsers Jahrhunderts zu Gute? Die<lb/> Sturm- und Drangperiode wäre nichts als ein Stück höchst unerquicklicher<lb/> Kultur- und Literaturgeschichte, wenn ihre Hinterlassenschaft aus nichts anderen<lb/> als aus den polemischen Streit- nud Flugschriften, den renvmmistischen Krast-<lb/> versicheruugen, aus Hamanns „Chimairischen Einfällen," aus Leopold Wagners<lb/> „Prometheus, Dentalivm und seinen Rezensenten," aus Klingers „PlimplamplaSko,<lb/> den, hohen Geist," aus Goethes „Göttern, Helden und Wieland," oder auch aus ge¬<lb/> wissen Produktionen, etwa ans Klingers „Sturm und Drang," „Simsone Grisaldo"<lb/> und „Stilpo," aus Lenz' Komödien „Der Hofmeister" und „Die Soldaten," aus<lb/> Philipp Hahns „Aufruhr in Pisa," aus Goucs „Masuren," aus Wezels „Tobias<lb/> Knaul," Heinses „Begebenheiten des Enkvlp," aus Bürgers „Frau Schuips"<lb/> und „Jungfer Europa," aus Johann Fr. Hahns verzückten Gedichtsragmenten<lb/> und Vossens ältesten Tyrannenhaß und Teutschheit atmenden Oden bestünde!<lb/> Würde es irgendwem im Ernste eingefallen sein, daß diese Werke einen Fortschritt<lb/> über Lessing und Wieland hinaus bedeuteten, würde ein literarischer Frühling,<lb/> der nur sie und keine andern gezeitigt Hütte, nicht für einen klüglich frostigen<lb/> und dürftigen gelten müssen? Und doch enthalten alle die genannten Werke<lb/> und poetischen Versuche etwas vou jenen Elementen, durch welche die großen<lb/> Schöpfungen des Sturmes und Dranges ihre mächtigste Wirkung und Nach¬<lb/> wirkung erlaugt und die zierlich-heitern Dichtungen Wielands wie die reifen<lb/> Meisterwerke Lessings hinter sich gelassen haben. Was sich demnach als „Sturm<lb/> und Drang" legitimiren will, darf sich nicht bloß auf die Ausschreitungen und<lb/> Ungezogenheiten der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts berufen, darf</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0076]
Die naturalistische Schule in Deutschland.
Sturm- und Drangperiode gering denken, wir mißbilligen durchaus das beliebte
literarhistorische Verfahren, die problematischen und rasch wieder vergessenen
Erscheinungen dem „Sturm und Drang" zur Last zu schreiben, und uicht uur
Goethe und Schiller, welche mit ihren Jugenddichtungen der Gähruugsperivde
angehören, sondern alle Naturen und Talente von ihr abzutrennen, die von
Bürger und Voß bis zu Jung-Stilling und dem Wandsbecker Boten zu
bleibenden Schöpfungen und Leistungen gediehen sind. Wir halten fest daran,
daß die Sturm- lind Drangperiode eine der Hauptquellen des prächtigen Stromes
unsrer klassischen Dichtung, zugleich diejenige Quelle war, welche diesem Strom
bei aller seiner Majestät lebhafte Bewegung und den frischesten Hauch lieh.
Doch was beweist diese Thatsache für die Erfinder und Verkünder neuer
Sturm- und Drangperioden, was für ihr Gebühren? Die Bedeutung des
Sturmes und Dranges erwuchs aus der großen Bewegung des Lebens, der
mächtigen gesellschaftlichen Umbildung, sie erwuchs aus der Fülle strebender
Talente, welche zum Teil vou unbedingter Hingebung an ihre Ideale erfüllt waren,
erwuchs aus der unbefangnen, frischen Produktionslust, sie ward verklärt durch
das Erwachen und die Jugend eines Genius, wie er in Jahrhunderten eben
nur einmal aufleuchtet. Was davon kommt den Ansprüchen der verschiednen
vorgeblichen Sturm- und Drangperioden unsers Jahrhunderts zu Gute? Die
Sturm- und Drangperiode wäre nichts als ein Stück höchst unerquicklicher
Kultur- und Literaturgeschichte, wenn ihre Hinterlassenschaft aus nichts anderen
als aus den polemischen Streit- nud Flugschriften, den renvmmistischen Krast-
versicheruugen, aus Hamanns „Chimairischen Einfällen," aus Leopold Wagners
„Prometheus, Dentalivm und seinen Rezensenten," aus Klingers „PlimplamplaSko,
den, hohen Geist," aus Goethes „Göttern, Helden und Wieland," oder auch aus ge¬
wissen Produktionen, etwa ans Klingers „Sturm und Drang," „Simsone Grisaldo"
und „Stilpo," aus Lenz' Komödien „Der Hofmeister" und „Die Soldaten," aus
Philipp Hahns „Aufruhr in Pisa," aus Goucs „Masuren," aus Wezels „Tobias
Knaul," Heinses „Begebenheiten des Enkvlp," aus Bürgers „Frau Schuips"
und „Jungfer Europa," aus Johann Fr. Hahns verzückten Gedichtsragmenten
und Vossens ältesten Tyrannenhaß und Teutschheit atmenden Oden bestünde!
Würde es irgendwem im Ernste eingefallen sein, daß diese Werke einen Fortschritt
über Lessing und Wieland hinaus bedeuteten, würde ein literarischer Frühling,
der nur sie und keine andern gezeitigt Hütte, nicht für einen klüglich frostigen
und dürftigen gelten müssen? Und doch enthalten alle die genannten Werke
und poetischen Versuche etwas vou jenen Elementen, durch welche die großen
Schöpfungen des Sturmes und Dranges ihre mächtigste Wirkung und Nach¬
wirkung erlaugt und die zierlich-heitern Dichtungen Wielands wie die reifen
Meisterwerke Lessings hinter sich gelassen haben. Was sich demnach als „Sturm
und Drang" legitimiren will, darf sich nicht bloß auf die Ausschreitungen und
Ungezogenheiten der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts berufen, darf
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