Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Die naturalistische Schule in Deutschland. der Gegenwart nur das "Modernste" vertrage. Das dauerte den" genau so Nun denn, das gegebne Beispiel ist seit den dreißiger Jahren wiederholt Die naturalistische Schule in Deutschland. der Gegenwart nur das „Modernste" vertrage. Das dauerte den» genau so Nun denn, das gegebne Beispiel ist seit den dreißiger Jahren wiederholt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0075" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198141"/> <fw type="header" place="top"> Die naturalistische Schule in Deutschland.</fw><lb/> <p xml:id="ID_210" prev="#ID_209"> der Gegenwart nur das „Modernste" vertrage. Das dauerte den» genau so<lb/> lange, bis den ernstem Naturen und den klugem Schriftstellern dieses jungen<lb/> Deutschland bei ihrer Gottähnlichkeit bange ward, bis sie merkten, daß die ver¬<lb/> achteten Formen der alten Poesie: die dramatische Dichtung, die wirkliche Er¬<lb/> zählung und so weiter langlebiger und lebensfähiger seien als die Zwitter-<lb/> gebilde und der widrige, zu einem Drittel (flach) räsonnirende, zu einem Drittel<lb/> (vag) philosvphircnde, zum letzten Drittel (lotterig) darstellende Mischmasch, mit<lb/> denen sie die alte Poesie „abgelöst" hatten. Einige von den starken Geistern<lb/> gingen dann bei den verachteten schonen Geistern von ehedem in die Schule<lb/> und brachten es dazu, in der Reihe unsrer Dramatiker und Romanschriftsteller<lb/> einen achtbaren Platz zu gewinnen. Andre entfalteten hier nur geringes Geschick<lb/> und blieben, was sie von Haus gewesen waren: „Pedanten, die es juckt, locker<lb/> und lose zu sein." Immerhin aber hatte der dröhnende Generalmarsch, mit dem<lb/> eine neue Zeit, neue Bahnen und neue Menschen angekündigt worden waren,<lb/> den Erfolg gehabt, daß die Schriftsteller des „jungen Deutschlands" noch vor<lb/> ihren wirklichen Leistungen „Namen" geworden waren, daß ihre spätere Ent¬<lb/> wicklung nicht in der Stille, sondern unter den Augen eines mehr oder minder<lb/> bewundernden Publikums vor sich ging, daß endlich ein Beispiel gegeben war,<lb/> wie man es anfangen müsse, den deutschen Philister aus seiner schläfrigen Gleich-<lb/> giltigkeit zu wecken und die Tausende der gebornen Elfolganbeter von vorn¬<lb/> herein auf seine Seite zu bringen.</p><lb/> <p xml:id="ID_211" next="#ID_212"> Nun denn, das gegebne Beispiel ist seit den dreißiger Jahren wiederholt<lb/> wenn nicht redlich, so doch gründlich befolgt worden. So oft eine Dichter- und<lb/> Schriftstellergruppe einen neuen Vorzug zu besitzen glaubte oder auch besaß,<lb/> wurde die Trommel schallend gerührt, wurde der alberne Satz, daß die deutsche<lb/> Literatur erst von heute und hier beginne, mit Hartnäckigkeit nen vorgetragen,<lb/> lind die unschöne Gewohnheit des eilfertigen Straßcnremplers, alle Nebenleute<lb/> wie alle Begegnenden aus dem Wege und womöglich in die Gosse zu reimen,<lb/> für salon- und literatursühig erklärt. Wir schieben die Frage, welchen Anteil<lb/> die wachsende Erwerbs- und Genußlust der Vertreter der Literatur an den<lb/> jeweilig wiederkehrenden Umwälzungen hatte, zunächst ruhig beiseite. Wir wollen<lb/> annehmen, daß die auseinander folgenden Generationen von Neuentdeckern<lb/> und Nenerfüldern der deutschen Literatur von wirklicher Überzeugung beseelt<lb/> waren. Jedenfalls aber lief neben der wachsenden Selbstüberschätzung, neben<lb/> der schlechten Überlieferung, daß die Geltung vor der Leistung vorhanden sein<lb/> müsse, auch eine falsche Auffassung und Ausdeutung der Geschichte unsrer<lb/> Literatur mit unter. Die Jungdeutschen, die politischen Dichter, die (längst<lb/> lvieder verschollenen) „Junggermanen" der fünfziger Jahre und die Naturalisten<lb/> des Augenblicks, sie alle beriefen und berufen sich auf den Kampf des Neuen<lb/> und Alten, auf die wilde und dennoch segensreiche Gühruug in der Sturm- und<lb/> Drangperiode des achtzehnten Jahrhunderts. Wir sind die letzten, die von der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0075]
Die naturalistische Schule in Deutschland.
der Gegenwart nur das „Modernste" vertrage. Das dauerte den» genau so
lange, bis den ernstem Naturen und den klugem Schriftstellern dieses jungen
Deutschland bei ihrer Gottähnlichkeit bange ward, bis sie merkten, daß die ver¬
achteten Formen der alten Poesie: die dramatische Dichtung, die wirkliche Er¬
zählung und so weiter langlebiger und lebensfähiger seien als die Zwitter-
gebilde und der widrige, zu einem Drittel (flach) räsonnirende, zu einem Drittel
(vag) philosvphircnde, zum letzten Drittel (lotterig) darstellende Mischmasch, mit
denen sie die alte Poesie „abgelöst" hatten. Einige von den starken Geistern
gingen dann bei den verachteten schonen Geistern von ehedem in die Schule
und brachten es dazu, in der Reihe unsrer Dramatiker und Romanschriftsteller
einen achtbaren Platz zu gewinnen. Andre entfalteten hier nur geringes Geschick
und blieben, was sie von Haus gewesen waren: „Pedanten, die es juckt, locker
und lose zu sein." Immerhin aber hatte der dröhnende Generalmarsch, mit dem
eine neue Zeit, neue Bahnen und neue Menschen angekündigt worden waren,
den Erfolg gehabt, daß die Schriftsteller des „jungen Deutschlands" noch vor
ihren wirklichen Leistungen „Namen" geworden waren, daß ihre spätere Ent¬
wicklung nicht in der Stille, sondern unter den Augen eines mehr oder minder
bewundernden Publikums vor sich ging, daß endlich ein Beispiel gegeben war,
wie man es anfangen müsse, den deutschen Philister aus seiner schläfrigen Gleich-
giltigkeit zu wecken und die Tausende der gebornen Elfolganbeter von vorn¬
herein auf seine Seite zu bringen.
Nun denn, das gegebne Beispiel ist seit den dreißiger Jahren wiederholt
wenn nicht redlich, so doch gründlich befolgt worden. So oft eine Dichter- und
Schriftstellergruppe einen neuen Vorzug zu besitzen glaubte oder auch besaß,
wurde die Trommel schallend gerührt, wurde der alberne Satz, daß die deutsche
Literatur erst von heute und hier beginne, mit Hartnäckigkeit nen vorgetragen,
lind die unschöne Gewohnheit des eilfertigen Straßcnremplers, alle Nebenleute
wie alle Begegnenden aus dem Wege und womöglich in die Gosse zu reimen,
für salon- und literatursühig erklärt. Wir schieben die Frage, welchen Anteil
die wachsende Erwerbs- und Genußlust der Vertreter der Literatur an den
jeweilig wiederkehrenden Umwälzungen hatte, zunächst ruhig beiseite. Wir wollen
annehmen, daß die auseinander folgenden Generationen von Neuentdeckern
und Nenerfüldern der deutschen Literatur von wirklicher Überzeugung beseelt
waren. Jedenfalls aber lief neben der wachsenden Selbstüberschätzung, neben
der schlechten Überlieferung, daß die Geltung vor der Leistung vorhanden sein
müsse, auch eine falsche Auffassung und Ausdeutung der Geschichte unsrer
Literatur mit unter. Die Jungdeutschen, die politischen Dichter, die (längst
lvieder verschollenen) „Junggermanen" der fünfziger Jahre und die Naturalisten
des Augenblicks, sie alle beriefen und berufen sich auf den Kampf des Neuen
und Alten, auf die wilde und dennoch segensreiche Gühruug in der Sturm- und
Drangperiode des achtzehnten Jahrhunderts. Wir sind die letzten, die von der
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