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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Unsre Rriegervereine.

war es entschieden schlimmer. Was nützte da alle Flut patriotischer Gesinnung,
die sich in Reden, Gedichten, Schriften, geschichtlichen Werken, Rumänen ergoß,
die doch alle nur für einen beschränkten, gar sehr beschränkten Kreis von Lesern
berechnet waren, und denen überdies noch die Wirkung Dumasscher Romane,
Heinescher und Börnescher Schriften, französirender Vaudevilles u, dergl. (man
denke um die ehemals gerade auf den "Volksbühnen" so viel aufgeführten Stücke:
Pariser Taugenichts, Zwei Sergeanten, Rataplcm u. a.) Abbruch that? Es
ist wahrlich nicht zu verwundern, wenn heute noch jene naive, als selbst¬
verständlich empfundene nationale Gesinnung, wie sie von Enthusiasten bei der
Masse unsers Volkes vorausgesetzt zu werden pflegt, bei jedem slowakischen
Kesselflicker, bei jedem armseligen polcikischen Tagelöhnerweib stärker vorhanden
ist als selbst bei gar vielen "gebildeten" Söhnen unsers Volkes. Heute noch
kann man ja fortwährend beobachten, wie der polnische Arbeiter seinen deutschen
Herrn zwingt, polnisch oder masurisch mit ihm zu sprechen, und dieser sich auch
ruhig zwingen läßt, indem er gutmütig (eigentlich zwar schwachherzig und
bequem, wie er eben ist) meint, "man müsse auf die Leute doch Rücksicht
nehmen, und das thue ja auch nichts." Ja, es thut weiter nichts, als daß
dies der Weg ist, auf dem die Schwarzenberg zu Swarzcnperks, die Wollschläger
zu Wolszlegiers geworden sind! Unser Volk hat, um es gerade heraus zu
sagen, bis jetzt wenigstens eine armselig schwache nationale Eigenart, und es ist
nicht viel Rechnung darauf zu machen, daß dieselbe bei unsern Massen sich
auf die Dauer sehr wirksam erweisen werde. Die Frage, ob jener tiefe Kern
der Volkskraft, der in nationaler Individualität wurzelt, durch die moderne
Bildung mit ihrem Gefolge öffentlichen und politischen Lebens, Zeitungslesers
u. s. w. gestärkt oder geschwächt werde, mag auf sich beruhen bleiben (wir
unserseits befinden uns in guter Gesellschaft, wenn wir das letztere annehmen
zu müssen glauben), aber daß die Art, wie nationale Gesinnung sich auch bei
dem geringsten Manne in freudige Opferwilligkeit und rückhaltlose Hingabe über¬
setzen kann, durch die in unser Volk eindringenden Bildungselemente nicht ge¬
kräftigt wird, das wird schwerlich jemand im Ernste bestreikn wollen. Unser
Gesamtresultat ist also, daß zwar im Altpreußeutum etwas und in dem neu¬
erwachsenen Nationalbewußtsein unsers Volkes auch etwas zu finden ist, was
auch den geringen Mann günstig beeinflussen und ihn zu selbstloser Hingabe
an das Vaterland tüchtig machen kann, daß aber diese beiden moralischen
Faktoren weder allenthalben vorhanden, noch an sich sonderlich zuverlässig, uoch
überall mit einem tüchtigen, widerstandsfähigen Wurzelwerke ausgestattet sind.
Sie bieten eine Stütze, und in Momenten der Erregung, wo von den Gebil¬
deten her die Flamme in allen deutschen Gauen loh emporschlug, konnten sie
wohl die breiten Massen mächtig mit sich fortreißen; aber zu andern Zeiten
mag diese Stütze sich einmal als eine recht schwache erweisen. Der vormalige
belgische Minister Devcmx wird in seinen MuäW po1it,iqnö8 (um 1875) wohl


Unsre Rriegervereine.

war es entschieden schlimmer. Was nützte da alle Flut patriotischer Gesinnung,
die sich in Reden, Gedichten, Schriften, geschichtlichen Werken, Rumänen ergoß,
die doch alle nur für einen beschränkten, gar sehr beschränkten Kreis von Lesern
berechnet waren, und denen überdies noch die Wirkung Dumasscher Romane,
Heinescher und Börnescher Schriften, französirender Vaudevilles u, dergl. (man
denke um die ehemals gerade auf den „Volksbühnen" so viel aufgeführten Stücke:
Pariser Taugenichts, Zwei Sergeanten, Rataplcm u. a.) Abbruch that? Es
ist wahrlich nicht zu verwundern, wenn heute noch jene naive, als selbst¬
verständlich empfundene nationale Gesinnung, wie sie von Enthusiasten bei der
Masse unsers Volkes vorausgesetzt zu werden pflegt, bei jedem slowakischen
Kesselflicker, bei jedem armseligen polcikischen Tagelöhnerweib stärker vorhanden
ist als selbst bei gar vielen „gebildeten" Söhnen unsers Volkes. Heute noch
kann man ja fortwährend beobachten, wie der polnische Arbeiter seinen deutschen
Herrn zwingt, polnisch oder masurisch mit ihm zu sprechen, und dieser sich auch
ruhig zwingen läßt, indem er gutmütig (eigentlich zwar schwachherzig und
bequem, wie er eben ist) meint, „man müsse auf die Leute doch Rücksicht
nehmen, und das thue ja auch nichts." Ja, es thut weiter nichts, als daß
dies der Weg ist, auf dem die Schwarzenberg zu Swarzcnperks, die Wollschläger
zu Wolszlegiers geworden sind! Unser Volk hat, um es gerade heraus zu
sagen, bis jetzt wenigstens eine armselig schwache nationale Eigenart, und es ist
nicht viel Rechnung darauf zu machen, daß dieselbe bei unsern Massen sich
auf die Dauer sehr wirksam erweisen werde. Die Frage, ob jener tiefe Kern
der Volkskraft, der in nationaler Individualität wurzelt, durch die moderne
Bildung mit ihrem Gefolge öffentlichen und politischen Lebens, Zeitungslesers
u. s. w. gestärkt oder geschwächt werde, mag auf sich beruhen bleiben (wir
unserseits befinden uns in guter Gesellschaft, wenn wir das letztere annehmen
zu müssen glauben), aber daß die Art, wie nationale Gesinnung sich auch bei
dem geringsten Manne in freudige Opferwilligkeit und rückhaltlose Hingabe über¬
setzen kann, durch die in unser Volk eindringenden Bildungselemente nicht ge¬
kräftigt wird, das wird schwerlich jemand im Ernste bestreikn wollen. Unser
Gesamtresultat ist also, daß zwar im Altpreußeutum etwas und in dem neu¬
erwachsenen Nationalbewußtsein unsers Volkes auch etwas zu finden ist, was
auch den geringen Mann günstig beeinflussen und ihn zu selbstloser Hingabe
an das Vaterland tüchtig machen kann, daß aber diese beiden moralischen
Faktoren weder allenthalben vorhanden, noch an sich sonderlich zuverlässig, uoch
überall mit einem tüchtigen, widerstandsfähigen Wurzelwerke ausgestattet sind.
Sie bieten eine Stütze, und in Momenten der Erregung, wo von den Gebil¬
deten her die Flamme in allen deutschen Gauen loh emporschlug, konnten sie
wohl die breiten Massen mächtig mit sich fortreißen; aber zu andern Zeiten
mag diese Stütze sich einmal als eine recht schwache erweisen. Der vormalige
belgische Minister Devcmx wird in seinen MuäW po1it,iqnö8 (um 1875) wohl


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[0071] Unsre Rriegervereine. war es entschieden schlimmer. Was nützte da alle Flut patriotischer Gesinnung, die sich in Reden, Gedichten, Schriften, geschichtlichen Werken, Rumänen ergoß, die doch alle nur für einen beschränkten, gar sehr beschränkten Kreis von Lesern berechnet waren, und denen überdies noch die Wirkung Dumasscher Romane, Heinescher und Börnescher Schriften, französirender Vaudevilles u, dergl. (man denke um die ehemals gerade auf den „Volksbühnen" so viel aufgeführten Stücke: Pariser Taugenichts, Zwei Sergeanten, Rataplcm u. a.) Abbruch that? Es ist wahrlich nicht zu verwundern, wenn heute noch jene naive, als selbst¬ verständlich empfundene nationale Gesinnung, wie sie von Enthusiasten bei der Masse unsers Volkes vorausgesetzt zu werden pflegt, bei jedem slowakischen Kesselflicker, bei jedem armseligen polcikischen Tagelöhnerweib stärker vorhanden ist als selbst bei gar vielen „gebildeten" Söhnen unsers Volkes. Heute noch kann man ja fortwährend beobachten, wie der polnische Arbeiter seinen deutschen Herrn zwingt, polnisch oder masurisch mit ihm zu sprechen, und dieser sich auch ruhig zwingen läßt, indem er gutmütig (eigentlich zwar schwachherzig und bequem, wie er eben ist) meint, „man müsse auf die Leute doch Rücksicht nehmen, und das thue ja auch nichts." Ja, es thut weiter nichts, als daß dies der Weg ist, auf dem die Schwarzenberg zu Swarzcnperks, die Wollschläger zu Wolszlegiers geworden sind! Unser Volk hat, um es gerade heraus zu sagen, bis jetzt wenigstens eine armselig schwache nationale Eigenart, und es ist nicht viel Rechnung darauf zu machen, daß dieselbe bei unsern Massen sich auf die Dauer sehr wirksam erweisen werde. Die Frage, ob jener tiefe Kern der Volkskraft, der in nationaler Individualität wurzelt, durch die moderne Bildung mit ihrem Gefolge öffentlichen und politischen Lebens, Zeitungslesers u. s. w. gestärkt oder geschwächt werde, mag auf sich beruhen bleiben (wir unserseits befinden uns in guter Gesellschaft, wenn wir das letztere annehmen zu müssen glauben), aber daß die Art, wie nationale Gesinnung sich auch bei dem geringsten Manne in freudige Opferwilligkeit und rückhaltlose Hingabe über¬ setzen kann, durch die in unser Volk eindringenden Bildungselemente nicht ge¬ kräftigt wird, das wird schwerlich jemand im Ernste bestreikn wollen. Unser Gesamtresultat ist also, daß zwar im Altpreußeutum etwas und in dem neu¬ erwachsenen Nationalbewußtsein unsers Volkes auch etwas zu finden ist, was auch den geringen Mann günstig beeinflussen und ihn zu selbstloser Hingabe an das Vaterland tüchtig machen kann, daß aber diese beiden moralischen Faktoren weder allenthalben vorhanden, noch an sich sonderlich zuverlässig, uoch überall mit einem tüchtigen, widerstandsfähigen Wurzelwerke ausgestattet sind. Sie bieten eine Stütze, und in Momenten der Erregung, wo von den Gebil¬ deten her die Flamme in allen deutschen Gauen loh emporschlug, konnten sie wohl die breiten Massen mächtig mit sich fortreißen; aber zu andern Zeiten mag diese Stütze sich einmal als eine recht schwache erweisen. Der vormalige belgische Minister Devcmx wird in seinen MuäW po1it,iqnö8 (um 1875) wohl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/71>, abgerufen am 25.07.2024.