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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die evangelische Kirche und der Staat,

Wir kennen hinlänglich die große Bedeutung der heiligen Schrift für die Ge¬
meinden und die Theologen der Reformation, aber es ist eine bemerkenswerte
und erfreuliche Fügung, daß auf lutherischem Boden wenigstens diese Schrift
nicht als kirchliches Recht so ohne weiteres eingesetzt worden ist, während dies
auf katholischem Boden wohl geschehen ist, obgleich die heilige Schrift hier neben
der Tradition lange nicht die große Rolle spielt wie auf lutherischem Gebiete.
Luther will als Gesetz das gelten lassen, was "darinnen die Oberkeit und weise
Leute nach dem Rechten und Vernunft schließen und ordnen," denn Christus setze
in der Bergpredigt "nichts als ein Jurist oder Regent in äußerlichen Sachen,
sondern allein als ein Prediger unterrichtet er die Gewissen," sodaß mit ihm
in sachlicher Übereinstimmung, wenn auch in frivoler Form, Friedrich der Große
(1751) gebot, "daß in Zukunft bei solchen Fällen nach meiner Ordre und Vor¬
schrift schlechterdings verfahren, keineswegs aber dabei Moses und die Propheten
zu Rate gezogen werden sollen, als welche hier im Lande nichts zu thun haben."

Doch es ist nicht thunlich, hier speziell auf die Geschichte der evangelischen
Kirchenverfassung in den einzelnen deutschen Territorien einzugehen. Wir müssen
uns an die Hauptsachen und an die neuern Verhältnisse halten, wie sie besonders
in Preußen vorliegen und wie sie auch Herr von Hammerstein und die Kreuz¬
zeitungspartei in dem bekannten Antrage voraussetzen.

Die neuern Bewegungen ans dem Gebiete evangelischer Kirchenverfassung
gehen bekanntlich auf die Kirchenordnung für die evangelischen Gemeinden der
Provinz Westfalen und der Rheinprovinz vom ö. März 183ö als auf ein Vorbild
zurück, sind also mit eine Frucht der reformirten Gemeindeverfassung, die sich in
dem Gebiete von Jülich-Cleve-Berg erhalten hatte. Man kann diese modernen
Bestrebungen als einen Versuch bezeichnen, die Repräsentation der Kirche von
unten herauf mit dem königlichen Regiment von oben her, durch die königlichen
Konsistorien, zu verschmelzen. In der Art dieser Zusammenwirkung des syno¬
dalen und konsistorialen Elementes liegt die weitere Schwierigkeit, aber die ganze
Methode scheint jetzt festzustehen, und selbst die hochkirchlichen Parteien scheinen
sich mit der Beteiligung der Gemeindeglieder an der kirchlichen Organisation zu¬
frieden gegeben zu haben. Es war lehrreich, wie man 1850 diese Beteiligung
als demokratisch herabdrücken wollte. Man dachte sich den Gemeindekirchenrat
ohne Rechte, und die Gemeinden durften sich diese Scheinvertretung nicht einmal
frei wählen, sondern mußten sie einer "bindenden Vorschlagsliste" entnehmen.
Aber die Zeit der Reaktion ging vorüber, und als E. Herrmann als Präsident
des Oberkirchenrates mit Männern wie Dr. Falk und Geheimrat von Sydow zu¬
sammenzuwirken berufen waren, da entstand in den Jahren 1873 und 1874 eine
kirchliche Ordnung, die (am 3. Juni 1876) auch eine ftaatsgesetzliche Bestätigung
fand, soweit sie deren bedürfte. Diese neue Ordnung hat schon zu fungiren
begonnen, und sie muß bei allen weitern Wünschen die Grundlage abgeben.

Man kann nicht leugnen, daß durch diese Ordnung die evangelische Kirche


Die evangelische Kirche und der Staat,

Wir kennen hinlänglich die große Bedeutung der heiligen Schrift für die Ge¬
meinden und die Theologen der Reformation, aber es ist eine bemerkenswerte
und erfreuliche Fügung, daß auf lutherischem Boden wenigstens diese Schrift
nicht als kirchliches Recht so ohne weiteres eingesetzt worden ist, während dies
auf katholischem Boden wohl geschehen ist, obgleich die heilige Schrift hier neben
der Tradition lange nicht die große Rolle spielt wie auf lutherischem Gebiete.
Luther will als Gesetz das gelten lassen, was „darinnen die Oberkeit und weise
Leute nach dem Rechten und Vernunft schließen und ordnen," denn Christus setze
in der Bergpredigt „nichts als ein Jurist oder Regent in äußerlichen Sachen,
sondern allein als ein Prediger unterrichtet er die Gewissen," sodaß mit ihm
in sachlicher Übereinstimmung, wenn auch in frivoler Form, Friedrich der Große
(1751) gebot, „daß in Zukunft bei solchen Fällen nach meiner Ordre und Vor¬
schrift schlechterdings verfahren, keineswegs aber dabei Moses und die Propheten
zu Rate gezogen werden sollen, als welche hier im Lande nichts zu thun haben."

Doch es ist nicht thunlich, hier speziell auf die Geschichte der evangelischen
Kirchenverfassung in den einzelnen deutschen Territorien einzugehen. Wir müssen
uns an die Hauptsachen und an die neuern Verhältnisse halten, wie sie besonders
in Preußen vorliegen und wie sie auch Herr von Hammerstein und die Kreuz¬
zeitungspartei in dem bekannten Antrage voraussetzen.

Die neuern Bewegungen ans dem Gebiete evangelischer Kirchenverfassung
gehen bekanntlich auf die Kirchenordnung für die evangelischen Gemeinden der
Provinz Westfalen und der Rheinprovinz vom ö. März 183ö als auf ein Vorbild
zurück, sind also mit eine Frucht der reformirten Gemeindeverfassung, die sich in
dem Gebiete von Jülich-Cleve-Berg erhalten hatte. Man kann diese modernen
Bestrebungen als einen Versuch bezeichnen, die Repräsentation der Kirche von
unten herauf mit dem königlichen Regiment von oben her, durch die königlichen
Konsistorien, zu verschmelzen. In der Art dieser Zusammenwirkung des syno¬
dalen und konsistorialen Elementes liegt die weitere Schwierigkeit, aber die ganze
Methode scheint jetzt festzustehen, und selbst die hochkirchlichen Parteien scheinen
sich mit der Beteiligung der Gemeindeglieder an der kirchlichen Organisation zu¬
frieden gegeben zu haben. Es war lehrreich, wie man 1850 diese Beteiligung
als demokratisch herabdrücken wollte. Man dachte sich den Gemeindekirchenrat
ohne Rechte, und die Gemeinden durften sich diese Scheinvertretung nicht einmal
frei wählen, sondern mußten sie einer „bindenden Vorschlagsliste" entnehmen.
Aber die Zeit der Reaktion ging vorüber, und als E. Herrmann als Präsident
des Oberkirchenrates mit Männern wie Dr. Falk und Geheimrat von Sydow zu¬
sammenzuwirken berufen waren, da entstand in den Jahren 1873 und 1874 eine
kirchliche Ordnung, die (am 3. Juni 1876) auch eine ftaatsgesetzliche Bestätigung
fand, soweit sie deren bedürfte. Diese neue Ordnung hat schon zu fungiren
begonnen, und sie muß bei allen weitern Wünschen die Grundlage abgeben.

Man kann nicht leugnen, daß durch diese Ordnung die evangelische Kirche


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[0610] Die evangelische Kirche und der Staat, Wir kennen hinlänglich die große Bedeutung der heiligen Schrift für die Ge¬ meinden und die Theologen der Reformation, aber es ist eine bemerkenswerte und erfreuliche Fügung, daß auf lutherischem Boden wenigstens diese Schrift nicht als kirchliches Recht so ohne weiteres eingesetzt worden ist, während dies auf katholischem Boden wohl geschehen ist, obgleich die heilige Schrift hier neben der Tradition lange nicht die große Rolle spielt wie auf lutherischem Gebiete. Luther will als Gesetz das gelten lassen, was „darinnen die Oberkeit und weise Leute nach dem Rechten und Vernunft schließen und ordnen," denn Christus setze in der Bergpredigt „nichts als ein Jurist oder Regent in äußerlichen Sachen, sondern allein als ein Prediger unterrichtet er die Gewissen," sodaß mit ihm in sachlicher Übereinstimmung, wenn auch in frivoler Form, Friedrich der Große (1751) gebot, „daß in Zukunft bei solchen Fällen nach meiner Ordre und Vor¬ schrift schlechterdings verfahren, keineswegs aber dabei Moses und die Propheten zu Rate gezogen werden sollen, als welche hier im Lande nichts zu thun haben." Doch es ist nicht thunlich, hier speziell auf die Geschichte der evangelischen Kirchenverfassung in den einzelnen deutschen Territorien einzugehen. Wir müssen uns an die Hauptsachen und an die neuern Verhältnisse halten, wie sie besonders in Preußen vorliegen und wie sie auch Herr von Hammerstein und die Kreuz¬ zeitungspartei in dem bekannten Antrage voraussetzen. Die neuern Bewegungen ans dem Gebiete evangelischer Kirchenverfassung gehen bekanntlich auf die Kirchenordnung für die evangelischen Gemeinden der Provinz Westfalen und der Rheinprovinz vom ö. März 183ö als auf ein Vorbild zurück, sind also mit eine Frucht der reformirten Gemeindeverfassung, die sich in dem Gebiete von Jülich-Cleve-Berg erhalten hatte. Man kann diese modernen Bestrebungen als einen Versuch bezeichnen, die Repräsentation der Kirche von unten herauf mit dem königlichen Regiment von oben her, durch die königlichen Konsistorien, zu verschmelzen. In der Art dieser Zusammenwirkung des syno¬ dalen und konsistorialen Elementes liegt die weitere Schwierigkeit, aber die ganze Methode scheint jetzt festzustehen, und selbst die hochkirchlichen Parteien scheinen sich mit der Beteiligung der Gemeindeglieder an der kirchlichen Organisation zu¬ frieden gegeben zu haben. Es war lehrreich, wie man 1850 diese Beteiligung als demokratisch herabdrücken wollte. Man dachte sich den Gemeindekirchenrat ohne Rechte, und die Gemeinden durften sich diese Scheinvertretung nicht einmal frei wählen, sondern mußten sie einer „bindenden Vorschlagsliste" entnehmen. Aber die Zeit der Reaktion ging vorüber, und als E. Herrmann als Präsident des Oberkirchenrates mit Männern wie Dr. Falk und Geheimrat von Sydow zu¬ sammenzuwirken berufen waren, da entstand in den Jahren 1873 und 1874 eine kirchliche Ordnung, die (am 3. Juni 1876) auch eine ftaatsgesetzliche Bestätigung fand, soweit sie deren bedürfte. Diese neue Ordnung hat schon zu fungiren begonnen, und sie muß bei allen weitern Wünschen die Grundlage abgeben. Man kann nicht leugnen, daß durch diese Ordnung die evangelische Kirche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/610>, abgerufen am 25.07.2024.