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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die evangelische Kirche und der Zwat.

Parität aller seiner Unterthanen ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses
an, aber er darf die beiden großen Kirchengemeinschaften, die in ihm bestehen,
nicht nach derselben Schablone behandeln. Beide Kirchen verlangen ihr be¬
sondres Staatsgesetz, wie sie ihr eigenartiges Lebensprinzip haben."

Nachdem nun der augenblickliche politische Zustand der großen Weltver-
hältnisse unsern Reichskanzler veranlaßt hat, der kulturpolitischen Fehde gegen
die ultramontane Richtung die Spitze abzubrechen, und der ravÄus vivouäi,
dieser große Unbekannte, von allen Seiten angekündigt wird, ist es nicht un¬
erwartet gekommen, daß sich evangelische Parlamentarier auch um größere
staatliche Freiheit der evangelischen Kirche bemühen und besondre staatliche
Maßregeln für ihre Kirche herbeiführen mochten, die dein kirchlichen Interesse
günstig sind.

Das ist in mehrfacher Hinsicht ganz billig. Die Kirche ist auch im evan¬
gelischen Sinne eine besondre Gemeinschaft mit eigenartigem Prinzip, und es ist
eine Schwärmerei, die man einem so bedeutenden Manne wie Richard Rothe
wohl zu Gute halten, aber nicht billigen kann, wenn jemand glaubt, die Kirche
solle sich in den Staat auflösen; es sei dies keine Auflösung, sondern eine
wünschenswerte Erweiterung ihres Einflusses auf die ethisirte Welt. Es ist
anch wohl kaum ein praktischer Mann zu finden, der über das Wesen der Kirche
noch jetzt so idealistisch dächte. Der Philosoph August Comte und einige andre
absolute Feinde der historischen Kirchen wollen zwar ihre weltliche atheistische
Gesellschaft mit religiös-sozialen Festen und Zeremonien so reich ausstatten, daß
man die Kirchen mit ihren erhebenden Feiern nicht vermißte, aber es ist eben
Schwärmerei. Nicht bloß das religiöse Gefühl ist ein dem Menschen für immer
anhaftendes ewiges Merkmal, auch eine Gemeinschaft, die zur Pflege und Be¬
thätigung dieses Gefühls besonders bestimmt ist, ist dem Menschen unentbehrlich.
Wäre es heutzutage noch möglich, eine der bestehenden Kirchen mit Gewalt zu
unterdrücken, so würde sich aus der unergründlichen Tiefe der Volksseele sofort
eine andre neue Kirche bilden, und das abgelenkte oder sich selbst überlassene Be¬
dürfnis könnte zu Kirchenbildungcn gelangen, wie z. B. der Mormonen. Kein
moderner Bildungsstolz ist, wenn eine neue Kirche not thut, imstande zu ver¬
hindern, daß aus irgendeiner verborgnen Ecke ein absurder Aberglaube auftaucht,
der die neue Gemeinde der religiousbedürftigcn Menschen um sich sammelt.

Es ist freilich eine sehr elementare Forderung, wenn man bloß verlangt,
daß die kirchlichen Gemeinschaften ihr selbständiges Dasein fortführen sollen.
Nur weil der moderne atomisirende Bildungsschwindel noch immer phantasirt,
die Religion dürfe uur noch Privatsache sein, muß man zuweilen so elementare
Dinge vorbringen.

Die Kirchen selbst sind nicht so zurückhaltend, sie fordern mehr, nicht bloß
die katholische, sondern auch die evangelische. Mögen sich diese beiden auch im
übrigen uicht verständigen können, sie haben darin die gleiche Befriedigung, daß


Die evangelische Kirche und der Zwat.

Parität aller seiner Unterthanen ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses
an, aber er darf die beiden großen Kirchengemeinschaften, die in ihm bestehen,
nicht nach derselben Schablone behandeln. Beide Kirchen verlangen ihr be¬
sondres Staatsgesetz, wie sie ihr eigenartiges Lebensprinzip haben."

Nachdem nun der augenblickliche politische Zustand der großen Weltver-
hältnisse unsern Reichskanzler veranlaßt hat, der kulturpolitischen Fehde gegen
die ultramontane Richtung die Spitze abzubrechen, und der ravÄus vivouäi,
dieser große Unbekannte, von allen Seiten angekündigt wird, ist es nicht un¬
erwartet gekommen, daß sich evangelische Parlamentarier auch um größere
staatliche Freiheit der evangelischen Kirche bemühen und besondre staatliche
Maßregeln für ihre Kirche herbeiführen mochten, die dein kirchlichen Interesse
günstig sind.

Das ist in mehrfacher Hinsicht ganz billig. Die Kirche ist auch im evan¬
gelischen Sinne eine besondre Gemeinschaft mit eigenartigem Prinzip, und es ist
eine Schwärmerei, die man einem so bedeutenden Manne wie Richard Rothe
wohl zu Gute halten, aber nicht billigen kann, wenn jemand glaubt, die Kirche
solle sich in den Staat auflösen; es sei dies keine Auflösung, sondern eine
wünschenswerte Erweiterung ihres Einflusses auf die ethisirte Welt. Es ist
anch wohl kaum ein praktischer Mann zu finden, der über das Wesen der Kirche
noch jetzt so idealistisch dächte. Der Philosoph August Comte und einige andre
absolute Feinde der historischen Kirchen wollen zwar ihre weltliche atheistische
Gesellschaft mit religiös-sozialen Festen und Zeremonien so reich ausstatten, daß
man die Kirchen mit ihren erhebenden Feiern nicht vermißte, aber es ist eben
Schwärmerei. Nicht bloß das religiöse Gefühl ist ein dem Menschen für immer
anhaftendes ewiges Merkmal, auch eine Gemeinschaft, die zur Pflege und Be¬
thätigung dieses Gefühls besonders bestimmt ist, ist dem Menschen unentbehrlich.
Wäre es heutzutage noch möglich, eine der bestehenden Kirchen mit Gewalt zu
unterdrücken, so würde sich aus der unergründlichen Tiefe der Volksseele sofort
eine andre neue Kirche bilden, und das abgelenkte oder sich selbst überlassene Be¬
dürfnis könnte zu Kirchenbildungcn gelangen, wie z. B. der Mormonen. Kein
moderner Bildungsstolz ist, wenn eine neue Kirche not thut, imstande zu ver¬
hindern, daß aus irgendeiner verborgnen Ecke ein absurder Aberglaube auftaucht,
der die neue Gemeinde der religiousbedürftigcn Menschen um sich sammelt.

Es ist freilich eine sehr elementare Forderung, wenn man bloß verlangt,
daß die kirchlichen Gemeinschaften ihr selbständiges Dasein fortführen sollen.
Nur weil der moderne atomisirende Bildungsschwindel noch immer phantasirt,
die Religion dürfe uur noch Privatsache sein, muß man zuweilen so elementare
Dinge vorbringen.

Die Kirchen selbst sind nicht so zurückhaltend, sie fordern mehr, nicht bloß
die katholische, sondern auch die evangelische. Mögen sich diese beiden auch im
übrigen uicht verständigen können, sie haben darin die gleiche Befriedigung, daß


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[0608] Die evangelische Kirche und der Zwat. Parität aller seiner Unterthanen ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses an, aber er darf die beiden großen Kirchengemeinschaften, die in ihm bestehen, nicht nach derselben Schablone behandeln. Beide Kirchen verlangen ihr be¬ sondres Staatsgesetz, wie sie ihr eigenartiges Lebensprinzip haben." Nachdem nun der augenblickliche politische Zustand der großen Weltver- hältnisse unsern Reichskanzler veranlaßt hat, der kulturpolitischen Fehde gegen die ultramontane Richtung die Spitze abzubrechen, und der ravÄus vivouäi, dieser große Unbekannte, von allen Seiten angekündigt wird, ist es nicht un¬ erwartet gekommen, daß sich evangelische Parlamentarier auch um größere staatliche Freiheit der evangelischen Kirche bemühen und besondre staatliche Maßregeln für ihre Kirche herbeiführen mochten, die dein kirchlichen Interesse günstig sind. Das ist in mehrfacher Hinsicht ganz billig. Die Kirche ist auch im evan¬ gelischen Sinne eine besondre Gemeinschaft mit eigenartigem Prinzip, und es ist eine Schwärmerei, die man einem so bedeutenden Manne wie Richard Rothe wohl zu Gute halten, aber nicht billigen kann, wenn jemand glaubt, die Kirche solle sich in den Staat auflösen; es sei dies keine Auflösung, sondern eine wünschenswerte Erweiterung ihres Einflusses auf die ethisirte Welt. Es ist anch wohl kaum ein praktischer Mann zu finden, der über das Wesen der Kirche noch jetzt so idealistisch dächte. Der Philosoph August Comte und einige andre absolute Feinde der historischen Kirchen wollen zwar ihre weltliche atheistische Gesellschaft mit religiös-sozialen Festen und Zeremonien so reich ausstatten, daß man die Kirchen mit ihren erhebenden Feiern nicht vermißte, aber es ist eben Schwärmerei. Nicht bloß das religiöse Gefühl ist ein dem Menschen für immer anhaftendes ewiges Merkmal, auch eine Gemeinschaft, die zur Pflege und Be¬ thätigung dieses Gefühls besonders bestimmt ist, ist dem Menschen unentbehrlich. Wäre es heutzutage noch möglich, eine der bestehenden Kirchen mit Gewalt zu unterdrücken, so würde sich aus der unergründlichen Tiefe der Volksseele sofort eine andre neue Kirche bilden, und das abgelenkte oder sich selbst überlassene Be¬ dürfnis könnte zu Kirchenbildungcn gelangen, wie z. B. der Mormonen. Kein moderner Bildungsstolz ist, wenn eine neue Kirche not thut, imstande zu ver¬ hindern, daß aus irgendeiner verborgnen Ecke ein absurder Aberglaube auftaucht, der die neue Gemeinde der religiousbedürftigcn Menschen um sich sammelt. Es ist freilich eine sehr elementare Forderung, wenn man bloß verlangt, daß die kirchlichen Gemeinschaften ihr selbständiges Dasein fortführen sollen. Nur weil der moderne atomisirende Bildungsschwindel noch immer phantasirt, die Religion dürfe uur noch Privatsache sein, muß man zuweilen so elementare Dinge vorbringen. Die Kirchen selbst sind nicht so zurückhaltend, sie fordern mehr, nicht bloß die katholische, sondern auch die evangelische. Mögen sich diese beiden auch im übrigen uicht verständigen können, sie haben darin die gleiche Befriedigung, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/608>, abgerufen am 27.12.2024.