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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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denen England mit seiner Kriegsflotte und seinem Gelde stünde. Die Russen
mögen in noch so weiten Kreisen sich nach dem Besitze von Konstantinopel
sehnen, ihre Regierung wird sich, so lange sie irgend kann, gegen den Feldzug
sträuben, der dazu erforderlich mare. Sie wird sich hüten, wie die Amerikaner
sich ausdrücken, "schlafende Schlangen zu wecken." Die Vision des Moskaner
Stadtvaters wird deshalb wohl noch geraume Zeit ein so schattenhaftes Traum¬
gebilde bleiben, wie die Wiedererscheinung der blauen Priester in der Mauevzelle
der Hagin Sophia.

Dazu kommen uoch andre beruhigende Betrachtungen. In den letzten
Jahren hat Rußland sehr erhebliche Vorteile aus seiner freundschaftlichen Stellung
zu seinen nächsten großen Nachbarn im Westen gezogen. Wir erinnern nnr
an sein Wiedererstarken ans dem Schwarzen Meere, an die Erweiterung und
Befestigung seiner Herrschaft in Mittelasien, um das Zurückweichen Englands
im nordwestlichen Afghanistan, dein Glacis von Herat, endlich vor allem an
die Schläge, die in der letzten Zeit auf die Hoffnungen und Bestrebungen der
Polen fielen. In der öffentlichen Diskussion haben die Polenreden des deutschen
Reichskanzlers nach ihrer Bedeutung für Nußland nicht hinreichende Würdigung
erfahren, und allerdings wurden sie zunächst im Interesse des preußischen Staates
und des deutscheu Kulturlebens gehalten; aber ihre ersten praktischen Erfolge
mußten Rußland zu Gute kommen. Sie wurden keineswegs bloß nach Posen
hingcsprochen, sondern auch uach Warschau, Krakau und Lemberg, uach Petersburg
und nach Wien. Sie vernichteten jeden ernsten Gedanken einer Möglichkeit, daß
Deutschland je irgendwelche Versuche zur Verwirklichung polnischer Nestaurativus-
plänc begünstigen werde. Sie verbreiteten Klarheit auch über Österreichs eigent¬
liche Stellung zu dieser für Nußland hochwichtige" Angelegenheit. Der Schreck,
der den galizischen Polen in die Glieder fuhr, bezeugte deutlich, daß man den
Kanzler in diesen Kreisen verstanden hatte, und ihr Geflüster, daß Österreich
mit der Zustimmung zu jenen Äußerungen sich für den Fall des unvermeidlichen
Znsammeustvßcs mit dem russischen Nachbar seines besten Armes berauben würde,
konnte an der Thatsache nichts mehr ändern. Eins der Hauptbiudemittel zwischen
den drei europäischen Kaisermächten, vielleicht das wichtigste, ist die polnische
Frage, die für Nußland größere Gefahr in sich birgt als für seine beiden Nach¬
barn. Die Panslawistcn wollen die Richtigkeit solcher Betrachtungen nicht an¬
erkennen. Sie erblicken in einem Zusammengehen der russischen Politik mit
Deutschland und Österreich-Ungarn keine" Gewinn, nur Gefahren und Verluste.
Aber der Zar hat, obwohl er sich in Fragen der innern Politik "lehr zu ihnen
hinneigte, als im Interesse der deutschen Nationalität "ut wohl selbst im recht-
vcrstandencn Interesse des russischen Staates selbst zu wünschen war, von An¬
fang seiner Regierung an bewiesen, daß er ihre Anschauungen in Sachen der
auswärtigen Politik nicht teilt. Er ist ein rechtlicher Mann mit Sinn für
andrer rechtliche Denkart, und er besitzt gesunden Menschenverstand und in


denen England mit seiner Kriegsflotte und seinem Gelde stünde. Die Russen
mögen in noch so weiten Kreisen sich nach dem Besitze von Konstantinopel
sehnen, ihre Regierung wird sich, so lange sie irgend kann, gegen den Feldzug
sträuben, der dazu erforderlich mare. Sie wird sich hüten, wie die Amerikaner
sich ausdrücken, „schlafende Schlangen zu wecken." Die Vision des Moskaner
Stadtvaters wird deshalb wohl noch geraume Zeit ein so schattenhaftes Traum¬
gebilde bleiben, wie die Wiedererscheinung der blauen Priester in der Mauevzelle
der Hagin Sophia.

Dazu kommen uoch andre beruhigende Betrachtungen. In den letzten
Jahren hat Rußland sehr erhebliche Vorteile aus seiner freundschaftlichen Stellung
zu seinen nächsten großen Nachbarn im Westen gezogen. Wir erinnern nnr
an sein Wiedererstarken ans dem Schwarzen Meere, an die Erweiterung und
Befestigung seiner Herrschaft in Mittelasien, um das Zurückweichen Englands
im nordwestlichen Afghanistan, dein Glacis von Herat, endlich vor allem an
die Schläge, die in der letzten Zeit auf die Hoffnungen und Bestrebungen der
Polen fielen. In der öffentlichen Diskussion haben die Polenreden des deutschen
Reichskanzlers nach ihrer Bedeutung für Nußland nicht hinreichende Würdigung
erfahren, und allerdings wurden sie zunächst im Interesse des preußischen Staates
und des deutscheu Kulturlebens gehalten; aber ihre ersten praktischen Erfolge
mußten Rußland zu Gute kommen. Sie wurden keineswegs bloß nach Posen
hingcsprochen, sondern auch uach Warschau, Krakau und Lemberg, uach Petersburg
und nach Wien. Sie vernichteten jeden ernsten Gedanken einer Möglichkeit, daß
Deutschland je irgendwelche Versuche zur Verwirklichung polnischer Nestaurativus-
plänc begünstigen werde. Sie verbreiteten Klarheit auch über Österreichs eigent¬
liche Stellung zu dieser für Nußland hochwichtige» Angelegenheit. Der Schreck,
der den galizischen Polen in die Glieder fuhr, bezeugte deutlich, daß man den
Kanzler in diesen Kreisen verstanden hatte, und ihr Geflüster, daß Österreich
mit der Zustimmung zu jenen Äußerungen sich für den Fall des unvermeidlichen
Znsammeustvßcs mit dem russischen Nachbar seines besten Armes berauben würde,
konnte an der Thatsache nichts mehr ändern. Eins der Hauptbiudemittel zwischen
den drei europäischen Kaisermächten, vielleicht das wichtigste, ist die polnische
Frage, die für Nußland größere Gefahr in sich birgt als für seine beiden Nach¬
barn. Die Panslawistcn wollen die Richtigkeit solcher Betrachtungen nicht an¬
erkennen. Sie erblicken in einem Zusammengehen der russischen Politik mit
Deutschland und Österreich-Ungarn keine» Gewinn, nur Gefahren und Verluste.
Aber der Zar hat, obwohl er sich in Fragen der innern Politik »lehr zu ihnen
hinneigte, als im Interesse der deutschen Nationalität »ut wohl selbst im recht-
vcrstandencn Interesse des russischen Staates selbst zu wünschen war, von An¬
fang seiner Regierung an bewiesen, daß er ihre Anschauungen in Sachen der
auswärtigen Politik nicht teilt. Er ist ein rechtlicher Mann mit Sinn für
andrer rechtliche Denkart, und er besitzt gesunden Menschenverstand und in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/542>, abgerufen am 04.07.2024.