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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Frieden am Horizonte,

soll wieder ins Leben gerufen werden, und wenn Rumänien und Bulgarien im
Vereine mit einer andern Macht den Landweg nach Stambul verlegten, so
könnte eil? erfolgreicher Angriff zur See als erster Schritt zu der Operation
notwendig erscheinen, welche der Bürgermeister von Moskau andeutete. Die
Lage Rußlands ist jedoch gegenwärtig sehr verschieden von der in den Jahren
1854 nud 1876. Im erstgenannten Jahre hatte man sich in Petersburg der
freundschaftlichen Neutralität Preußens und dadurch zugleich der Passivität
Österreichs versichert, 1.876 hatte man sich im voraus die bedingte Zustimmung
Deutschlands und Österreichs verschafft. Frankreich konnte sich uicht regen,
England allein war nicht sehr gefährlich und überdies geteilter Meinung, mit
Disraeli voll Argwohn auf die Russen, mit Gladstone voll frommer Entrüstung
über die Greuelthaten des "unaussprechlichen Türken" gegen den christlichen
Bulgarcubruder. Es ist ferner noch ein andrer Unterschied zwischen damals
und jetzt. Bis 1878 war der Zar stets imstande, sein Vorgehen gegen Kon-
stnntinopel mit dem Ansprüche auf Verteidigung und Befreiung zu maSkiren,
den die oder jene unterdrückte christliche Völkerschaft im Reiche der Pforte erhob.
Diese Gelegenheit zur Verdeckung von Erobcrungsgedanken ist jetzt weggefallen.
Die Serben, die Rumänen, die Bulgaren bedürfen seiner Gönnerschaft und Hilfe
uicht mehr. Wenn Rußland einmal wieder gegen die Türkei zu Felde zieht,
so wird es, soweit es sich um den europäischen Teil des Kriegsschauplatzes
handelt, den Angriff sofort mit einer Belagerung Konstantinopels eröffnen
müssen. Die Schwierigkeit eines solchen Beginnes des Krieges ist keine bloß
militärische, obschon die Nuß anch von diesem Standpunkte betrachtet nicht so
leicht zu knacken sein wird, als russische Artillerieoffiziere meinen. Mau würde
damit in der westlichen Welt eine Aufregung hervorrufen, wie man sie viele
Jahrzehnte nicht erlebt hätte. Es würde einen gewaltigen Kampf kosten, wenn
die Frage endgiltig entschieden werden sollte, ob auf der Hagia Sophia statt
des Halbmondes das Krenz strahlen soll, welches der Moskaner Bürgermeister
ihr wünscht. Österreich-Ungarn kann, soweit sich jetzt sehen und rechnen läßt,
nicht gelassen zuschauen, wie die alte Hauptstadt Ostroms, wie das Zarigrad der
Slawenwclt in deu Besitz des Kaisers von Rußland übergeht, und Österreich-
Ungarn ist der Verbündete Deutschlands. Auch ist es nicht wahrscheinlich, daß
England zulassen würde, daß der Schlüssel zum Mittelmeere und die Stadt, wo
das geistliche Oberhaupt seiner kriegstüchtigsten asiatischen Unterthanen thront, in
russische Hände geriete. Ebensowenig ist eine Abfindung oder Entschädigung für
Österreich-Ungarn durch russischen Verzicht ans die Westhälfte der Balkanhalbinsel,
für England dnrch russische Zusagen von Enthaltsamkeit in Betreff Afghanistans
und Persiens leicht denkbar, da solche Zusagen nach der Natur der Dinge kaum
auf die Dauer zu halten sein und über kurz oder lang gebrochen werden würden.
So aber würde der neue russische Kreuzzug aller Wahrscheinlichkeit zufolge gleich
anfangs dem Einsprüche zweier Großmächte des Festlandes begegnen, hinter


Frieden am Horizonte,

soll wieder ins Leben gerufen werden, und wenn Rumänien und Bulgarien im
Vereine mit einer andern Macht den Landweg nach Stambul verlegten, so
könnte eil? erfolgreicher Angriff zur See als erster Schritt zu der Operation
notwendig erscheinen, welche der Bürgermeister von Moskau andeutete. Die
Lage Rußlands ist jedoch gegenwärtig sehr verschieden von der in den Jahren
1854 nud 1876. Im erstgenannten Jahre hatte man sich in Petersburg der
freundschaftlichen Neutralität Preußens und dadurch zugleich der Passivität
Österreichs versichert, 1.876 hatte man sich im voraus die bedingte Zustimmung
Deutschlands und Österreichs verschafft. Frankreich konnte sich uicht regen,
England allein war nicht sehr gefährlich und überdies geteilter Meinung, mit
Disraeli voll Argwohn auf die Russen, mit Gladstone voll frommer Entrüstung
über die Greuelthaten des „unaussprechlichen Türken" gegen den christlichen
Bulgarcubruder. Es ist ferner noch ein andrer Unterschied zwischen damals
und jetzt. Bis 1878 war der Zar stets imstande, sein Vorgehen gegen Kon-
stnntinopel mit dem Ansprüche auf Verteidigung und Befreiung zu maSkiren,
den die oder jene unterdrückte christliche Völkerschaft im Reiche der Pforte erhob.
Diese Gelegenheit zur Verdeckung von Erobcrungsgedanken ist jetzt weggefallen.
Die Serben, die Rumänen, die Bulgaren bedürfen seiner Gönnerschaft und Hilfe
uicht mehr. Wenn Rußland einmal wieder gegen die Türkei zu Felde zieht,
so wird es, soweit es sich um den europäischen Teil des Kriegsschauplatzes
handelt, den Angriff sofort mit einer Belagerung Konstantinopels eröffnen
müssen. Die Schwierigkeit eines solchen Beginnes des Krieges ist keine bloß
militärische, obschon die Nuß anch von diesem Standpunkte betrachtet nicht so
leicht zu knacken sein wird, als russische Artillerieoffiziere meinen. Mau würde
damit in der westlichen Welt eine Aufregung hervorrufen, wie man sie viele
Jahrzehnte nicht erlebt hätte. Es würde einen gewaltigen Kampf kosten, wenn
die Frage endgiltig entschieden werden sollte, ob auf der Hagia Sophia statt
des Halbmondes das Krenz strahlen soll, welches der Moskaner Bürgermeister
ihr wünscht. Österreich-Ungarn kann, soweit sich jetzt sehen und rechnen läßt,
nicht gelassen zuschauen, wie die alte Hauptstadt Ostroms, wie das Zarigrad der
Slawenwclt in deu Besitz des Kaisers von Rußland übergeht, und Österreich-
Ungarn ist der Verbündete Deutschlands. Auch ist es nicht wahrscheinlich, daß
England zulassen würde, daß der Schlüssel zum Mittelmeere und die Stadt, wo
das geistliche Oberhaupt seiner kriegstüchtigsten asiatischen Unterthanen thront, in
russische Hände geriete. Ebensowenig ist eine Abfindung oder Entschädigung für
Österreich-Ungarn durch russischen Verzicht ans die Westhälfte der Balkanhalbinsel,
für England dnrch russische Zusagen von Enthaltsamkeit in Betreff Afghanistans
und Persiens leicht denkbar, da solche Zusagen nach der Natur der Dinge kaum
auf die Dauer zu halten sein und über kurz oder lang gebrochen werden würden.
So aber würde der neue russische Kreuzzug aller Wahrscheinlichkeit zufolge gleich
anfangs dem Einsprüche zweier Großmächte des Festlandes begegnen, hinter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/541>, abgerufen am 04.07.2024.