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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Frieden am Horizonte.

Würde. In Betreff der Türkei wird manches gesagt und gethan, was in Bezug
auf andre Staaten nicht ohne Gefahr gesagt und gethan werden könnte, und
so darf man nicht viel darauf geben, wenn der Zar dem Bürgermeister nicht
widersprach, sondern sich begnügte, auf seine Anspielung zu schweigen, als ob
er ihren letzten Sinn nicht herausgefühlt hätte. Trotzdem hat die Moskaner
Kundgebung einige Bedeutung. Wir hören in ihr eine Partei sich äußern, die
neben dem Kaiser eine Meinung und Wünsche hat, mit denen sie bei seinem
Vorgänger auf dem Throne schon einmal durchdrang. Diese Partei glaubt
mit seiner Politik auf der Balkanhalbinsel unzufrieden sein zu müssen. Die
russische Politik sah die Versuche, ein Großbulgarien zu schaffe", mit ungünstigen
Blicken an, sie behandelte einen beim dortigen Volke beliebten Fürsten mit Mi߬
trauen und Schroffheit, sie verfuhr in verschiednen Beziehungen türkischer als die
Türken selbst. Sie widersprach damit scheinbar allen mvskowitischen Überliefe¬
rungen und machte sich Gegner nnter den christlichen Nationen des Südostens,
und sie hatte überdies das Mißgeschick, ihre Pläne vereitelt zu sehen. Der Mut,
der militärische Erfolg und die diplomatische Gewandtheit des Fürsten Alexander
haben dem Kaiser Alexander einen nicht gering zu schätzenden Nebenbuhler bei
seinem Anspruch auf die Liebe und Anhänglichkeit der durch seinen Vater mit
Rußlands Waffen befreiten Bulgaren an die Seite gestellt. Der Zar hat mit dem
Bestreben, diese nicht einiger und selbststüudiger werden zu lassen, bewirkt, daß sie
ihre Blicke lieber nach London, nach Wien, ja nach Konstantinopel richten als nach
Petersburg. Er ist nicht mehr der vornehmste Wortführer und Vorfechter der
Völkerschaften zwischen der Adria und dem Schwarzen Meere, nicht mehr der
gefeierte Sachwalter des Christentums in diesen Gegenden. Nicht unwahrscheinlich
ist es infolge seiner Politik, daß er die Rumänen, die Serben und die Bulgaren
gegen sich vereinigen würde, wenn er jetzt den Weg betrete,? wollte, den 1877
sein Vater einschlug. Auch die Griechen haben ihm nichts zu danken "ut von
einem Bündnis mit ihm mehr zu fürchten als zu hoffen. Daß seine Politik
die Interessen Rußlands wahrzunehmen strebte, ohne das gute Einvernehmen
mit den nachbarlichen Großmächten zu opfern und den Weltfrieden zu gefährden,
vermag jene chauvinistische Partei nicht zu begreifen, sie sieht nur, daß Rußland
nicht vorwärts, eher rückwärts gekommen ist, und sie hat, obwohl der Zar
autokratisch herrscht, Anspruch uns Rücksichten. So erklären wir uns die Rede in
Sebastopol und die Erlaubnis zu telegraphischer Weiterverbreitung der Ansprache
des Moskaner Stadthauptes: sie sollten Winke für die russischen Panslawisien und
für die Welt sein, daß noch nicht aller Tage Abend gekommen, daß aufgeschoben
nicht aufgehoben sei, daß der alte Streit zwischen dem orthodoxen Christentum
und dem Muselman" einmal wieder ausbrechen und ein neuer Kreuzzug zur
Eroberung der Kaiserstadt am Goldner Horn stattfinde" werde. Die russische
Flotte des Schwarzen Meeres, die 1854 nicht gerade ruhmvoll unterging -- sie
wurde versenkt, um die Einfahrt in den Hafen von Sebnswpell zu versperren --,


Frieden am Horizonte.

Würde. In Betreff der Türkei wird manches gesagt und gethan, was in Bezug
auf andre Staaten nicht ohne Gefahr gesagt und gethan werden könnte, und
so darf man nicht viel darauf geben, wenn der Zar dem Bürgermeister nicht
widersprach, sondern sich begnügte, auf seine Anspielung zu schweigen, als ob
er ihren letzten Sinn nicht herausgefühlt hätte. Trotzdem hat die Moskaner
Kundgebung einige Bedeutung. Wir hören in ihr eine Partei sich äußern, die
neben dem Kaiser eine Meinung und Wünsche hat, mit denen sie bei seinem
Vorgänger auf dem Throne schon einmal durchdrang. Diese Partei glaubt
mit seiner Politik auf der Balkanhalbinsel unzufrieden sein zu müssen. Die
russische Politik sah die Versuche, ein Großbulgarien zu schaffe», mit ungünstigen
Blicken an, sie behandelte einen beim dortigen Volke beliebten Fürsten mit Mi߬
trauen und Schroffheit, sie verfuhr in verschiednen Beziehungen türkischer als die
Türken selbst. Sie widersprach damit scheinbar allen mvskowitischen Überliefe¬
rungen und machte sich Gegner nnter den christlichen Nationen des Südostens,
und sie hatte überdies das Mißgeschick, ihre Pläne vereitelt zu sehen. Der Mut,
der militärische Erfolg und die diplomatische Gewandtheit des Fürsten Alexander
haben dem Kaiser Alexander einen nicht gering zu schätzenden Nebenbuhler bei
seinem Anspruch auf die Liebe und Anhänglichkeit der durch seinen Vater mit
Rußlands Waffen befreiten Bulgaren an die Seite gestellt. Der Zar hat mit dem
Bestreben, diese nicht einiger und selbststüudiger werden zu lassen, bewirkt, daß sie
ihre Blicke lieber nach London, nach Wien, ja nach Konstantinopel richten als nach
Petersburg. Er ist nicht mehr der vornehmste Wortführer und Vorfechter der
Völkerschaften zwischen der Adria und dem Schwarzen Meere, nicht mehr der
gefeierte Sachwalter des Christentums in diesen Gegenden. Nicht unwahrscheinlich
ist es infolge seiner Politik, daß er die Rumänen, die Serben und die Bulgaren
gegen sich vereinigen würde, wenn er jetzt den Weg betrete,? wollte, den 1877
sein Vater einschlug. Auch die Griechen haben ihm nichts zu danken »ut von
einem Bündnis mit ihm mehr zu fürchten als zu hoffen. Daß seine Politik
die Interessen Rußlands wahrzunehmen strebte, ohne das gute Einvernehmen
mit den nachbarlichen Großmächten zu opfern und den Weltfrieden zu gefährden,
vermag jene chauvinistische Partei nicht zu begreifen, sie sieht nur, daß Rußland
nicht vorwärts, eher rückwärts gekommen ist, und sie hat, obwohl der Zar
autokratisch herrscht, Anspruch uns Rücksichten. So erklären wir uns die Rede in
Sebastopol und die Erlaubnis zu telegraphischer Weiterverbreitung der Ansprache
des Moskaner Stadthauptes: sie sollten Winke für die russischen Panslawisien und
für die Welt sein, daß noch nicht aller Tage Abend gekommen, daß aufgeschoben
nicht aufgehoben sei, daß der alte Streit zwischen dem orthodoxen Christentum
und dem Muselman» einmal wieder ausbrechen und ein neuer Kreuzzug zur
Eroberung der Kaiserstadt am Goldner Horn stattfinde» werde. Die russische
Flotte des Schwarzen Meeres, die 1854 nicht gerade ruhmvoll unterging — sie
wurde versenkt, um die Einfahrt in den Hafen von Sebnswpell zu versperren —,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/540>, abgerufen am 02.07.2024.