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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Rußlands Finanzen und die Entwertung seiner Valuta.

115 MM, ergeben. Anders verhält es sich mit den Zahlungsverbindlichkeiten
russischer Aktien- und Jndustriegcsellschaften, mit den Zinszahlungen für Ge-
meindeanleihm u. s. w. Hier läßt uns aber die Statistik des Edelmetallvcrkehrs
im Stich, die in Nußland in Folge der gelegentlichen Ausfuhr- und Einfuhr¬
verbote noch ganz besonders unzureichend erscheinen muß. Es ist allerdings
nicht unwahrscheinlich, daß während der politischen Krisen der letzten dreißig
Jahre mancher ältere russische Papierbesitz des Auslandes realisirt worden ist.
zumal da das Sinken russischer Fonds nicht zum Festhalten ermunterte. Dagegen
steht anderseits zweifellos fest, daß die gerade in diese Zeit fallende Entwicklung
des Eisenbahnwesens ungeheure Kapitalien des Auslandes anzog. Jedenfalls
ist nicht anzunehmen, daß die Abrechnung der internationalen Zahlungsbilanz
für Nußland so ungünstig gewesen sei, daß sich hieraus ein Ausströmen des
Edelmetalls ableiten ließe.

Dasselbe gilt auch, wenigstens in der Form und mit dem Gewicht, wie
sie bei verschiednen Publizisten aufgetreten ist, von der Behauptung, daß durch
den Neiseaufwand reicher Nüssen alljährlich eine beträchtliche Summe der Laudes-
münze ihren Weg ins Ausland finde. stach einer wohl ums Zehnfache zu hoch
gegriffnen Schätzung sollen, wie u. a. Göschen in seiner I'Iiooi'is ok tho toi'oiAU
lZxoliÄUM angiebt, in jedem Jahre 200 000 Russen sich im Auslande befinden,
und da jeder durchschnittlich 1000 Rubel ausgebe, ein jährlicher Abfluß von
200 Mill. Rubel stattfinde". Angenommen, diese Zahlen seien richtig, so kann
doch nicht behauptet werden, daß die Russen erst seit dem Krimkriege, d. h. seit
dem Beginn des Kursrückganges, auf Reisen gingen, und zugegeben selbst, daß
die Zahl der Reisenden sich nach der Aufhebung des Paßzwanges und mit der
Entwicklung des Eisenbahnverkehrs beträchtlich vermehrt habe, so kommen doch
gerade diese Verkehrserleichterungen den unbemittelten Volksklassen zu Gute.
Es hätte also auch schon in früherer Zeit ein viel geringerer Betrag als der
oben angegebne hingereicht, um in wenig Jahren den gesamten russischen Baar-
fonds aufzusaugen, wenn ein derartiges Ausschleppen der Landesmünze über¬
haupt möglich wäre. Denn abgesehen von jenen ganz willkürlich gegriffnen
Zahlenverhältnissen, ist der dieser Aufstellung zu Grunde liegende Gedanke ein
durchaus falscher. Was die Russen im Auslande verzehren, ist nicht das Geld,
sondern das Kapital des Landes. Der Wechsel, den der Reisende auf Se. Peters¬
burg zieht, kann seine Deckung ebensowohl durch andre Werte als durch russische
Münze finden, und beeinflußt die gesamte Handelsbilanz nicht mehr als die
riesigen Champagnerankäufe, die alljährlich von dort aus in Frankreich erfolgen.
Was es aber mit der Handelsbilanz ans fich hat, haben wir bereits oben er¬
örtert. Sie ist gleichsam der Barometer des wirtschaftlichen Lebens, und der
günstige Wechselkurs ist nur eine von den Folgen, nicht aber Bedingung oder gar
Ursache einer guten Finanzlage. Der letztere findet seinen richtigsten Ausdruck
nur in dem Grade der einheimischen Produktion und der Verkehrsbeziehungen


Grenzlwtcn II. 1886. 64
Rußlands Finanzen und die Entwertung seiner Valuta.

115 MM, ergeben. Anders verhält es sich mit den Zahlungsverbindlichkeiten
russischer Aktien- und Jndustriegcsellschaften, mit den Zinszahlungen für Ge-
meindeanleihm u. s. w. Hier läßt uns aber die Statistik des Edelmetallvcrkehrs
im Stich, die in Nußland in Folge der gelegentlichen Ausfuhr- und Einfuhr¬
verbote noch ganz besonders unzureichend erscheinen muß. Es ist allerdings
nicht unwahrscheinlich, daß während der politischen Krisen der letzten dreißig
Jahre mancher ältere russische Papierbesitz des Auslandes realisirt worden ist.
zumal da das Sinken russischer Fonds nicht zum Festhalten ermunterte. Dagegen
steht anderseits zweifellos fest, daß die gerade in diese Zeit fallende Entwicklung
des Eisenbahnwesens ungeheure Kapitalien des Auslandes anzog. Jedenfalls
ist nicht anzunehmen, daß die Abrechnung der internationalen Zahlungsbilanz
für Nußland so ungünstig gewesen sei, daß sich hieraus ein Ausströmen des
Edelmetalls ableiten ließe.

Dasselbe gilt auch, wenigstens in der Form und mit dem Gewicht, wie
sie bei verschiednen Publizisten aufgetreten ist, von der Behauptung, daß durch
den Neiseaufwand reicher Nüssen alljährlich eine beträchtliche Summe der Laudes-
münze ihren Weg ins Ausland finde. stach einer wohl ums Zehnfache zu hoch
gegriffnen Schätzung sollen, wie u. a. Göschen in seiner I'Iiooi'is ok tho toi'oiAU
lZxoliÄUM angiebt, in jedem Jahre 200 000 Russen sich im Auslande befinden,
und da jeder durchschnittlich 1000 Rubel ausgebe, ein jährlicher Abfluß von
200 Mill. Rubel stattfinde». Angenommen, diese Zahlen seien richtig, so kann
doch nicht behauptet werden, daß die Russen erst seit dem Krimkriege, d. h. seit
dem Beginn des Kursrückganges, auf Reisen gingen, und zugegeben selbst, daß
die Zahl der Reisenden sich nach der Aufhebung des Paßzwanges und mit der
Entwicklung des Eisenbahnverkehrs beträchtlich vermehrt habe, so kommen doch
gerade diese Verkehrserleichterungen den unbemittelten Volksklassen zu Gute.
Es hätte also auch schon in früherer Zeit ein viel geringerer Betrag als der
oben angegebne hingereicht, um in wenig Jahren den gesamten russischen Baar-
fonds aufzusaugen, wenn ein derartiges Ausschleppen der Landesmünze über¬
haupt möglich wäre. Denn abgesehen von jenen ganz willkürlich gegriffnen
Zahlenverhältnissen, ist der dieser Aufstellung zu Grunde liegende Gedanke ein
durchaus falscher. Was die Russen im Auslande verzehren, ist nicht das Geld,
sondern das Kapital des Landes. Der Wechsel, den der Reisende auf Se. Peters¬
burg zieht, kann seine Deckung ebensowohl durch andre Werte als durch russische
Münze finden, und beeinflußt die gesamte Handelsbilanz nicht mehr als die
riesigen Champagnerankäufe, die alljährlich von dort aus in Frankreich erfolgen.
Was es aber mit der Handelsbilanz ans fich hat, haben wir bereits oben er¬
örtert. Sie ist gleichsam der Barometer des wirtschaftlichen Lebens, und der
günstige Wechselkurs ist nur eine von den Folgen, nicht aber Bedingung oder gar
Ursache einer guten Finanzlage. Der letztere findet seinen richtigsten Ausdruck
nur in dem Grade der einheimischen Produktion und der Verkehrsbeziehungen


Grenzlwtcn II. 1886. 64
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[0513] Rußlands Finanzen und die Entwertung seiner Valuta. 115 MM, ergeben. Anders verhält es sich mit den Zahlungsverbindlichkeiten russischer Aktien- und Jndustriegcsellschaften, mit den Zinszahlungen für Ge- meindeanleihm u. s. w. Hier läßt uns aber die Statistik des Edelmetallvcrkehrs im Stich, die in Nußland in Folge der gelegentlichen Ausfuhr- und Einfuhr¬ verbote noch ganz besonders unzureichend erscheinen muß. Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, daß während der politischen Krisen der letzten dreißig Jahre mancher ältere russische Papierbesitz des Auslandes realisirt worden ist. zumal da das Sinken russischer Fonds nicht zum Festhalten ermunterte. Dagegen steht anderseits zweifellos fest, daß die gerade in diese Zeit fallende Entwicklung des Eisenbahnwesens ungeheure Kapitalien des Auslandes anzog. Jedenfalls ist nicht anzunehmen, daß die Abrechnung der internationalen Zahlungsbilanz für Nußland so ungünstig gewesen sei, daß sich hieraus ein Ausströmen des Edelmetalls ableiten ließe. Dasselbe gilt auch, wenigstens in der Form und mit dem Gewicht, wie sie bei verschiednen Publizisten aufgetreten ist, von der Behauptung, daß durch den Neiseaufwand reicher Nüssen alljährlich eine beträchtliche Summe der Laudes- münze ihren Weg ins Ausland finde. stach einer wohl ums Zehnfache zu hoch gegriffnen Schätzung sollen, wie u. a. Göschen in seiner I'Iiooi'is ok tho toi'oiAU lZxoliÄUM angiebt, in jedem Jahre 200 000 Russen sich im Auslande befinden, und da jeder durchschnittlich 1000 Rubel ausgebe, ein jährlicher Abfluß von 200 Mill. Rubel stattfinde». Angenommen, diese Zahlen seien richtig, so kann doch nicht behauptet werden, daß die Russen erst seit dem Krimkriege, d. h. seit dem Beginn des Kursrückganges, auf Reisen gingen, und zugegeben selbst, daß die Zahl der Reisenden sich nach der Aufhebung des Paßzwanges und mit der Entwicklung des Eisenbahnverkehrs beträchtlich vermehrt habe, so kommen doch gerade diese Verkehrserleichterungen den unbemittelten Volksklassen zu Gute. Es hätte also auch schon in früherer Zeit ein viel geringerer Betrag als der oben angegebne hingereicht, um in wenig Jahren den gesamten russischen Baar- fonds aufzusaugen, wenn ein derartiges Ausschleppen der Landesmünze über¬ haupt möglich wäre. Denn abgesehen von jenen ganz willkürlich gegriffnen Zahlenverhältnissen, ist der dieser Aufstellung zu Grunde liegende Gedanke ein durchaus falscher. Was die Russen im Auslande verzehren, ist nicht das Geld, sondern das Kapital des Landes. Der Wechsel, den der Reisende auf Se. Peters¬ burg zieht, kann seine Deckung ebensowohl durch andre Werte als durch russische Münze finden, und beeinflußt die gesamte Handelsbilanz nicht mehr als die riesigen Champagnerankäufe, die alljährlich von dort aus in Frankreich erfolgen. Was es aber mit der Handelsbilanz ans fich hat, haben wir bereits oben er¬ örtert. Sie ist gleichsam der Barometer des wirtschaftlichen Lebens, und der günstige Wechselkurs ist nur eine von den Folgen, nicht aber Bedingung oder gar Ursache einer guten Finanzlage. Der letztere findet seinen richtigsten Ausdruck nur in dem Grade der einheimischen Produktion und der Verkehrsbeziehungen Grenzlwtcn II. 1886. 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/513>, abgerufen am 02.07.2024.