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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Lutherspiele in Erfurt und Jena,

besondre Gesellschaft in ' der Universitätsstadt Jena zusammentrat, das im
Frühjahr und Sommer 1884 mehrfach wiederholt ward und, wie die Zeitungen
berichten, im nächsten Jahre abermals eine Reihe von Aufführungen erleben soll.
Die Festspiele, welche in Hameln und in Rotenburg an der Tauber veranstaltet
wurden, scheinen nach allem, was wir darüber vernommen, mehr unter deu
Begriff der historischen Festzuge zu fallen; immerhin sind sie, soweit sie als
Schauspiele gelten und wirken wollen, in bürgerlichen Kreisen geplant und ins
Werk gesetzt worden. Auch diese Anläufe können als Zeichen der Zeit gelten.
Daß sich mitten in der wachsenden Gleichgültigkeit gegen ernstere dramatische
Vorführungen, in dem peinlichen Verfall, bei dem das Schauspiel mehr und mehr
in das Sensationsdrama und den Schwank aufgeht und die poetische Gestaltung
des Lebens völlig zu ersterben scheint, in Dilettanteukreiscu ein Trieb regt,
Poetische Werke zur Aufführung zu bringen, welche das stehende Theater von
vornherein verschmäht, darf sicher nicht als gleichgiltig und zufällig angesehen
werden. Wie bei so vielen Erscheinungen unsrer Zeit muß freilich die erste
Frage lauten: Sind diese außerhalb des Bühnenrahmcns, mit besondern Mitteln
und Kräften, bei besondern Anlässen ins Werk gesetzten Aufführungen Symptome
der Krankheit oder der Gesundung, sind sie Schmarotzerpflanzen oder neue Triebe
am Baume der Kunst? Nicht schnellfertig und leichtfertig darf hier Bejahung
und Verneinung folgen -- die glücklichen und die bedenklichen Momente dieser
neuen Bürgcrschauspielc müssen wohl gegen einander abgewogen werden. Daß
die unruhige Vergnügungs- und Zerstreuungssucht, die Eitelkeit und Prunklust,
die in so großen Lebenskreisen herrschend sind, die Sehnsucht, eine "Rolle zu
spielen," im weitesten Sinne ihren bedenklichen Anteil an deu neuen Bürgerschau¬
spielen haben, darüber täuscht sich Wohl uur, wer gern getäuscht sein will. Doch
schließt diese Thatsache die erfreuliche Gewißheit uicht aus, daß dem Zustande¬
kommen und Gelingen der in Rede stehenden Aufführungen auch bessere Motive
zu Grunde liegen, und daß sich bessere Aussichten an sie knüpfen, als man von ge¬
wissen Seiten zugestehen will. Denn es liegt in der Natur der Dinge, daß in
allen Fällen die Aufführungen durch eine bürgerliche Genossenschaft sich an einen
ernsten Stoff, eine über das Gewöhnliche hinausgehende Absicht anlehnen müssen.
Der einfache Wunsch, sich von der platten und mit allem Recht in Verruf
gekommenen Liebhabcrbnhncnwirtschaft zu unterscheiden, die Notwendigkeit, diese
neue Art der Schauspiele gegenüber den stehenden Bühnen zu rechtfertigen und
auf alle Fälle etwas darzubieten, was die Bühnen nicht geben wollen oder
können, zwingen Veranstalter und Teilnehmer der wiederauflebenden Bürgerspiele,
sich mit poetisch-ernsten Werken zu verbünden, die wenigstens dem Vorsatz nach
ungewöhnliche Vorbereitungen erfordern und auf ungewöhnliche Wirkungen zielen.

Daß der ernsteste Vorsatz hier noch keineswegs das Gelingen verbürgt,
daß auch der poetische Dilettantismus wähnen und versuchen kann, etwas zu
schaffei,, was uach einer bestimmten Richtung hin über die Kräfte und Möglich-


Grmzbolm II. 1"86, M
Lutherspiele in Erfurt und Jena,

besondre Gesellschaft in ' der Universitätsstadt Jena zusammentrat, das im
Frühjahr und Sommer 1884 mehrfach wiederholt ward und, wie die Zeitungen
berichten, im nächsten Jahre abermals eine Reihe von Aufführungen erleben soll.
Die Festspiele, welche in Hameln und in Rotenburg an der Tauber veranstaltet
wurden, scheinen nach allem, was wir darüber vernommen, mehr unter deu
Begriff der historischen Festzuge zu fallen; immerhin sind sie, soweit sie als
Schauspiele gelten und wirken wollen, in bürgerlichen Kreisen geplant und ins
Werk gesetzt worden. Auch diese Anläufe können als Zeichen der Zeit gelten.
Daß sich mitten in der wachsenden Gleichgültigkeit gegen ernstere dramatische
Vorführungen, in dem peinlichen Verfall, bei dem das Schauspiel mehr und mehr
in das Sensationsdrama und den Schwank aufgeht und die poetische Gestaltung
des Lebens völlig zu ersterben scheint, in Dilettanteukreiscu ein Trieb regt,
Poetische Werke zur Aufführung zu bringen, welche das stehende Theater von
vornherein verschmäht, darf sicher nicht als gleichgiltig und zufällig angesehen
werden. Wie bei so vielen Erscheinungen unsrer Zeit muß freilich die erste
Frage lauten: Sind diese außerhalb des Bühnenrahmcns, mit besondern Mitteln
und Kräften, bei besondern Anlässen ins Werk gesetzten Aufführungen Symptome
der Krankheit oder der Gesundung, sind sie Schmarotzerpflanzen oder neue Triebe
am Baume der Kunst? Nicht schnellfertig und leichtfertig darf hier Bejahung
und Verneinung folgen — die glücklichen und die bedenklichen Momente dieser
neuen Bürgcrschauspielc müssen wohl gegen einander abgewogen werden. Daß
die unruhige Vergnügungs- und Zerstreuungssucht, die Eitelkeit und Prunklust,
die in so großen Lebenskreisen herrschend sind, die Sehnsucht, eine „Rolle zu
spielen," im weitesten Sinne ihren bedenklichen Anteil an deu neuen Bürgerschau¬
spielen haben, darüber täuscht sich Wohl uur, wer gern getäuscht sein will. Doch
schließt diese Thatsache die erfreuliche Gewißheit uicht aus, daß dem Zustande¬
kommen und Gelingen der in Rede stehenden Aufführungen auch bessere Motive
zu Grunde liegen, und daß sich bessere Aussichten an sie knüpfen, als man von ge¬
wissen Seiten zugestehen will. Denn es liegt in der Natur der Dinge, daß in
allen Fällen die Aufführungen durch eine bürgerliche Genossenschaft sich an einen
ernsten Stoff, eine über das Gewöhnliche hinausgehende Absicht anlehnen müssen.
Der einfache Wunsch, sich von der platten und mit allem Recht in Verruf
gekommenen Liebhabcrbnhncnwirtschaft zu unterscheiden, die Notwendigkeit, diese
neue Art der Schauspiele gegenüber den stehenden Bühnen zu rechtfertigen und
auf alle Fälle etwas darzubieten, was die Bühnen nicht geben wollen oder
können, zwingen Veranstalter und Teilnehmer der wiederauflebenden Bürgerspiele,
sich mit poetisch-ernsten Werken zu verbünden, die wenigstens dem Vorsatz nach
ungewöhnliche Vorbereitungen erfordern und auf ungewöhnliche Wirkungen zielen.

Daß der ernsteste Vorsatz hier noch keineswegs das Gelingen verbürgt,
daß auch der poetische Dilettantismus wähnen und versuchen kann, etwas zu
schaffei,, was uach einer bestimmten Richtung hin über die Kräfte und Möglich-


Grmzbolm II. 1»86, M
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[0481] Lutherspiele in Erfurt und Jena, besondre Gesellschaft in ' der Universitätsstadt Jena zusammentrat, das im Frühjahr und Sommer 1884 mehrfach wiederholt ward und, wie die Zeitungen berichten, im nächsten Jahre abermals eine Reihe von Aufführungen erleben soll. Die Festspiele, welche in Hameln und in Rotenburg an der Tauber veranstaltet wurden, scheinen nach allem, was wir darüber vernommen, mehr unter deu Begriff der historischen Festzuge zu fallen; immerhin sind sie, soweit sie als Schauspiele gelten und wirken wollen, in bürgerlichen Kreisen geplant und ins Werk gesetzt worden. Auch diese Anläufe können als Zeichen der Zeit gelten. Daß sich mitten in der wachsenden Gleichgültigkeit gegen ernstere dramatische Vorführungen, in dem peinlichen Verfall, bei dem das Schauspiel mehr und mehr in das Sensationsdrama und den Schwank aufgeht und die poetische Gestaltung des Lebens völlig zu ersterben scheint, in Dilettanteukreiscu ein Trieb regt, Poetische Werke zur Aufführung zu bringen, welche das stehende Theater von vornherein verschmäht, darf sicher nicht als gleichgiltig und zufällig angesehen werden. Wie bei so vielen Erscheinungen unsrer Zeit muß freilich die erste Frage lauten: Sind diese außerhalb des Bühnenrahmcns, mit besondern Mitteln und Kräften, bei besondern Anlässen ins Werk gesetzten Aufführungen Symptome der Krankheit oder der Gesundung, sind sie Schmarotzerpflanzen oder neue Triebe am Baume der Kunst? Nicht schnellfertig und leichtfertig darf hier Bejahung und Verneinung folgen — die glücklichen und die bedenklichen Momente dieser neuen Bürgcrschauspielc müssen wohl gegen einander abgewogen werden. Daß die unruhige Vergnügungs- und Zerstreuungssucht, die Eitelkeit und Prunklust, die in so großen Lebenskreisen herrschend sind, die Sehnsucht, eine „Rolle zu spielen," im weitesten Sinne ihren bedenklichen Anteil an deu neuen Bürgerschau¬ spielen haben, darüber täuscht sich Wohl uur, wer gern getäuscht sein will. Doch schließt diese Thatsache die erfreuliche Gewißheit uicht aus, daß dem Zustande¬ kommen und Gelingen der in Rede stehenden Aufführungen auch bessere Motive zu Grunde liegen, und daß sich bessere Aussichten an sie knüpfen, als man von ge¬ wissen Seiten zugestehen will. Denn es liegt in der Natur der Dinge, daß in allen Fällen die Aufführungen durch eine bürgerliche Genossenschaft sich an einen ernsten Stoff, eine über das Gewöhnliche hinausgehende Absicht anlehnen müssen. Der einfache Wunsch, sich von der platten und mit allem Recht in Verruf gekommenen Liebhabcrbnhncnwirtschaft zu unterscheiden, die Notwendigkeit, diese neue Art der Schauspiele gegenüber den stehenden Bühnen zu rechtfertigen und auf alle Fälle etwas darzubieten, was die Bühnen nicht geben wollen oder können, zwingen Veranstalter und Teilnehmer der wiederauflebenden Bürgerspiele, sich mit poetisch-ernsten Werken zu verbünden, die wenigstens dem Vorsatz nach ungewöhnliche Vorbereitungen erfordern und auf ungewöhnliche Wirkungen zielen. Daß der ernsteste Vorsatz hier noch keineswegs das Gelingen verbürgt, daß auch der poetische Dilettantismus wähnen und versuchen kann, etwas zu schaffei,, was uach einer bestimmten Richtung hin über die Kräfte und Möglich- Grmzbolm II. 1»86, M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/481>, abgerufen am 02.07.2024.