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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Lutherspiele in Erfurt und Jena.

Erfurter evangelischen Hauptkirchen, ein geistlich-weltliches Schauspiel eigen¬
tümlicher Art. Freilich wird keiner, der zugereist ist, den Wunsch unterdrücken,
daß die Stadt selbst etwas mehr von der als "Festspiel" im großen Sinn und
Stil gedachten Aufführung verraten möchte, mehr als die großen, gelben An¬
schlagezettel, die an runden Säulen und Straßenecken prangen. Über die Haupt-
straße des Anger und in allen Nebenstraßen wogt das Treiben des Alltags,
die zum Luthcrspicl gekommenen Gäste sind auf den ersten Blick ans der Menge
der Geschäftigen so wenig heraus zu erkennen, als die echten Erker und Simse
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts aus den zahlreichen hübschen und
vortrefflichen Nachbildungen, die uns überall entgegenschauen. Das Erfurter
Theater liegt etwas versteckt, wenigstens nicht im Mittelpunkte der Stadt, und
so gelangen die Zuzügler beinahe bis an den Garten hinan, in dem sich das
Gebäude erhebt, ehe sie mit deu hellen Scharen derer zusammentreffen, die gleich
ihnen selbst das eigenartige Spiel zu schauen begehren, welches an einer Reihe
von Tagen zwischen sechs und acht Uhr des Abends in Szene gesetzt wird. Hier
merkt man nun augenblicklich, daß es keine Vorstellung der neuesten Operette oder
des jüngsten Mvserschen schwankes ist, welche Anziehungskraft übt; mau merkt
es an Haltung und Art des Publikums, das sich vor dem schlichten Hanse und
in den Gängen desselben auf und ab bewegt, merkt es an der Abwesenheit jener
Sommertheaterhabitues, welche ständige Lvgeninhaber sind, daß es sich hier
um etwas Ungewöhnlicheres und Ernsteres handelt. Nicht eine besondre
Spannung, eine hochgradige Aufregung, aber eine lebendige Teilnahme, eine
gewisse Sammlung sprechen ans den Mienen der Versammelten; wir mögen uns
vorstellen, daß in besserer Bühnenzeit als der gegenwärtigen die Aufführung
eines neuen Dramas, dem ein gewisser literarischer Ruf vorangegangen war, ein
ähnliches Publikum in ähnlicher Stimmung vereint hat. Unter den Schcui-
und Hörlustigen, die "mit hohen Augenbraunen" vor dem Gerüst des Erfurter
Lutherspiels sitzen, befindet sich offenbar ein guter Teil jenes tüchtigen und
empfänglichen Publikums, das aus unsern stehenden Theatern einfach verdrängt
ist und bei einem "Spiel" so außergewöhnlicher Art seine Rechnung besser zu
finden erwartet als an den landesüblichen Theaterabenden, wären sie auch als
"Klassikervorstellungeu mit ermäßigten Preisen" angezeigt.

Das Erfurter Lutherspiel ist nur einer von zahlreichen Versuchen, welche
in jüngster Zeit und offenbar unter der Nachwirkung der in aller Welt bekannt
gewordnen und von aller Welt besuchten Obermmnerganer Spiele gemacht
worden sind, das Volks- und Bürgerschauspiel vergangner Jahrhunderte neu
zu beleben. Die Dichtung von Hans Herrig, welche ihm zu Grunde liegt, ist
ursprünglich nicht für die Aufführung im Erfurter Theater, sondern für eine
Vorführung in Worms (irren wir nicht, in der Kirche) bei Gelegenheit der
Säkularfeier von Luthers Geburt im Jahre 1883 geschrieben. Um die gleiche
Zeit entstand das Luthcrspiel von Otto Devrient, zu dessen Aufführung eine


Lutherspiele in Erfurt und Jena.

Erfurter evangelischen Hauptkirchen, ein geistlich-weltliches Schauspiel eigen¬
tümlicher Art. Freilich wird keiner, der zugereist ist, den Wunsch unterdrücken,
daß die Stadt selbst etwas mehr von der als „Festspiel" im großen Sinn und
Stil gedachten Aufführung verraten möchte, mehr als die großen, gelben An¬
schlagezettel, die an runden Säulen und Straßenecken prangen. Über die Haupt-
straße des Anger und in allen Nebenstraßen wogt das Treiben des Alltags,
die zum Luthcrspicl gekommenen Gäste sind auf den ersten Blick ans der Menge
der Geschäftigen so wenig heraus zu erkennen, als die echten Erker und Simse
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts aus den zahlreichen hübschen und
vortrefflichen Nachbildungen, die uns überall entgegenschauen. Das Erfurter
Theater liegt etwas versteckt, wenigstens nicht im Mittelpunkte der Stadt, und
so gelangen die Zuzügler beinahe bis an den Garten hinan, in dem sich das
Gebäude erhebt, ehe sie mit deu hellen Scharen derer zusammentreffen, die gleich
ihnen selbst das eigenartige Spiel zu schauen begehren, welches an einer Reihe
von Tagen zwischen sechs und acht Uhr des Abends in Szene gesetzt wird. Hier
merkt man nun augenblicklich, daß es keine Vorstellung der neuesten Operette oder
des jüngsten Mvserschen schwankes ist, welche Anziehungskraft übt; mau merkt
es an Haltung und Art des Publikums, das sich vor dem schlichten Hanse und
in den Gängen desselben auf und ab bewegt, merkt es an der Abwesenheit jener
Sommertheaterhabitues, welche ständige Lvgeninhaber sind, daß es sich hier
um etwas Ungewöhnlicheres und Ernsteres handelt. Nicht eine besondre
Spannung, eine hochgradige Aufregung, aber eine lebendige Teilnahme, eine
gewisse Sammlung sprechen ans den Mienen der Versammelten; wir mögen uns
vorstellen, daß in besserer Bühnenzeit als der gegenwärtigen die Aufführung
eines neuen Dramas, dem ein gewisser literarischer Ruf vorangegangen war, ein
ähnliches Publikum in ähnlicher Stimmung vereint hat. Unter den Schcui-
und Hörlustigen, die „mit hohen Augenbraunen" vor dem Gerüst des Erfurter
Lutherspiels sitzen, befindet sich offenbar ein guter Teil jenes tüchtigen und
empfänglichen Publikums, das aus unsern stehenden Theatern einfach verdrängt
ist und bei einem „Spiel" so außergewöhnlicher Art seine Rechnung besser zu
finden erwartet als an den landesüblichen Theaterabenden, wären sie auch als
„Klassikervorstellungeu mit ermäßigten Preisen" angezeigt.

Das Erfurter Lutherspiel ist nur einer von zahlreichen Versuchen, welche
in jüngster Zeit und offenbar unter der Nachwirkung der in aller Welt bekannt
gewordnen und von aller Welt besuchten Obermmnerganer Spiele gemacht
worden sind, das Volks- und Bürgerschauspiel vergangner Jahrhunderte neu
zu beleben. Die Dichtung von Hans Herrig, welche ihm zu Grunde liegt, ist
ursprünglich nicht für die Aufführung im Erfurter Theater, sondern für eine
Vorführung in Worms (irren wir nicht, in der Kirche) bei Gelegenheit der
Säkularfeier von Luthers Geburt im Jahre 1883 geschrieben. Um die gleiche
Zeit entstand das Luthcrspiel von Otto Devrient, zu dessen Aufführung eine


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[0480] Lutherspiele in Erfurt und Jena. Erfurter evangelischen Hauptkirchen, ein geistlich-weltliches Schauspiel eigen¬ tümlicher Art. Freilich wird keiner, der zugereist ist, den Wunsch unterdrücken, daß die Stadt selbst etwas mehr von der als „Festspiel" im großen Sinn und Stil gedachten Aufführung verraten möchte, mehr als die großen, gelben An¬ schlagezettel, die an runden Säulen und Straßenecken prangen. Über die Haupt- straße des Anger und in allen Nebenstraßen wogt das Treiben des Alltags, die zum Luthcrspicl gekommenen Gäste sind auf den ersten Blick ans der Menge der Geschäftigen so wenig heraus zu erkennen, als die echten Erker und Simse des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts aus den zahlreichen hübschen und vortrefflichen Nachbildungen, die uns überall entgegenschauen. Das Erfurter Theater liegt etwas versteckt, wenigstens nicht im Mittelpunkte der Stadt, und so gelangen die Zuzügler beinahe bis an den Garten hinan, in dem sich das Gebäude erhebt, ehe sie mit deu hellen Scharen derer zusammentreffen, die gleich ihnen selbst das eigenartige Spiel zu schauen begehren, welches an einer Reihe von Tagen zwischen sechs und acht Uhr des Abends in Szene gesetzt wird. Hier merkt man nun augenblicklich, daß es keine Vorstellung der neuesten Operette oder des jüngsten Mvserschen schwankes ist, welche Anziehungskraft übt; mau merkt es an Haltung und Art des Publikums, das sich vor dem schlichten Hanse und in den Gängen desselben auf und ab bewegt, merkt es an der Abwesenheit jener Sommertheaterhabitues, welche ständige Lvgeninhaber sind, daß es sich hier um etwas Ungewöhnlicheres und Ernsteres handelt. Nicht eine besondre Spannung, eine hochgradige Aufregung, aber eine lebendige Teilnahme, eine gewisse Sammlung sprechen ans den Mienen der Versammelten; wir mögen uns vorstellen, daß in besserer Bühnenzeit als der gegenwärtigen die Aufführung eines neuen Dramas, dem ein gewisser literarischer Ruf vorangegangen war, ein ähnliches Publikum in ähnlicher Stimmung vereint hat. Unter den Schcui- und Hörlustigen, die „mit hohen Augenbraunen" vor dem Gerüst des Erfurter Lutherspiels sitzen, befindet sich offenbar ein guter Teil jenes tüchtigen und empfänglichen Publikums, das aus unsern stehenden Theatern einfach verdrängt ist und bei einem „Spiel" so außergewöhnlicher Art seine Rechnung besser zu finden erwartet als an den landesüblichen Theaterabenden, wären sie auch als „Klassikervorstellungeu mit ermäßigten Preisen" angezeigt. Das Erfurter Lutherspiel ist nur einer von zahlreichen Versuchen, welche in jüngster Zeit und offenbar unter der Nachwirkung der in aller Welt bekannt gewordnen und von aller Welt besuchten Obermmnerganer Spiele gemacht worden sind, das Volks- und Bürgerschauspiel vergangner Jahrhunderte neu zu beleben. Die Dichtung von Hans Herrig, welche ihm zu Grunde liegt, ist ursprünglich nicht für die Aufführung im Erfurter Theater, sondern für eine Vorführung in Worms (irren wir nicht, in der Kirche) bei Gelegenheit der Säkularfeier von Luthers Geburt im Jahre 1883 geschrieben. Um die gleiche Zeit entstand das Luthcrspiel von Otto Devrient, zu dessen Aufführung eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/480>, abgerufen am 30.06.2024.