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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Lutherspiele in Erfurt und Jena.

leiten selbst des bestgclcitetcn Theaters hinausgeht, ohne daß es darum auch
nur halb das wert ist, was ein tüchtiges Schauspiel gewöhnlicher Gattung gelten
soll und muß, bedarf keiner ausdrücklichen Versicherung. Auch liegt die Gefahr
nahe, daß Dichtungen von untergeordneter Bedeutung lediglich durch die un¬
gewöhnliche Weise, mit der sie in Szene gesetzt sind, vorübergehend zur Über¬
schätzung gelangen. Das alles aber schließt nicht aus, daß sich, eine gewisse
Begünstigung der Umstände und die Mitwirkung wirklicher, ausgiebiger Talente
vorausgesetzt, ans Aufführungen wie den in Erfurt und Jena veranstalteten, gute
Resultate ergeben können und der Sinn für das poetisch Wahre und Große in
ähnlicher Weise gestärkt werden kann, wie durch die großen Oratorienanf-
sührungen (deren künstlerisches Gelingen gleichfalls von der Mitwirkung der
"Dilettanten" abhängt) der Sinn für gute und ernste Musik unzweifelhaft ge¬
fördert worden ist. Die Notwendigkeit so außergewöhnlicher Aufführungen wird
sich nur unter besondern Umständen ergeben, und vor einer Überflutung mit
Bürgerschauspielen sind wir ja wohl geschützt. Ohne Anknüpfung an einen
durchaus populären Stoff, an eine Gestalt, die in der Volksphantasie lebt, ohne
Verbindung mit einem noch waltenden und wirksamen historischen Lokalinteresse
würden Vorstellungen wie die Lutherspiele schwerlich zu Stande kommen oder
Teilnahme finden.

Gehen wir von der Besonderheit der beiden Lutherspiele aus, die wir jüngst
in Erfurt und vor zwei Jahren in Jena vorführen sahen, so bieten hauptsächlich
solche dramatische Dichtungen, in denen ein starkes episches Element vorhanden
ist und die zu ihrer theatralischen Verkörperung eine ungewöhnliche Menge
von Darstellern bedürfen, die Möglichkeit des Gelingens und eine dankbare
Aufgabe für eine große Vereinigung von Darstellern ans bürgerlichen Kreisen.
In dieser Beziehung erneuern sich die Voraussetzungen der deutscheu Schul-
und Vürgerkomödien des sechzehnten Jahrhunderts, welche bekanntlich starke
epische Elemente enthielten und sich in Bezug auf die Zahl der mitwirkenden
Personen keinen Zwang auferlegten. Damit ist aber wiederum ausgesprochen,
daß es für die Entstehung und glückliche Durchführung so ungewöhnlicher Schau¬
spiele besondrer Anlässe bedarf, Anlässe, welche diesen Schauspielen von vorn¬
herein den Charakter des subjektiv Willkürlichen, der Spekulation und der Teil¬
nahme daran den Charakter der bloßen Neugier nehmen. Wie man auch über
das Gelingen des Worms-Erfurter Spiels im einzelnen denken möge, im ganzen
läßt sich nicht in Abrede stellen, daß ihre Aufführung auf dem Boden der Luther¬
städte Worms und Erfurt als natürliches Wachstum erscheint. Auch Dar¬
stellungen in Wittenberg, Eisleben oder Eisenach, in Augsburg oder Koburg
würden unter gleich günstigen Voraussetzungen erfolgen. Die Verpflanzung
einer solchen Aufführung hingegen in den Saal der Philharmonie zu Berlin
würde ein Experiment sein, dem sich ein eigentliches Gelingen schwerlich prophe¬
zeien ließe. Und auf alle Fälle, wenn es selbst in Erfurt und Jena trotz voller


Lutherspiele in Erfurt und Jena.

leiten selbst des bestgclcitetcn Theaters hinausgeht, ohne daß es darum auch
nur halb das wert ist, was ein tüchtiges Schauspiel gewöhnlicher Gattung gelten
soll und muß, bedarf keiner ausdrücklichen Versicherung. Auch liegt die Gefahr
nahe, daß Dichtungen von untergeordneter Bedeutung lediglich durch die un¬
gewöhnliche Weise, mit der sie in Szene gesetzt sind, vorübergehend zur Über¬
schätzung gelangen. Das alles aber schließt nicht aus, daß sich, eine gewisse
Begünstigung der Umstände und die Mitwirkung wirklicher, ausgiebiger Talente
vorausgesetzt, ans Aufführungen wie den in Erfurt und Jena veranstalteten, gute
Resultate ergeben können und der Sinn für das poetisch Wahre und Große in
ähnlicher Weise gestärkt werden kann, wie durch die großen Oratorienanf-
sührungen (deren künstlerisches Gelingen gleichfalls von der Mitwirkung der
„Dilettanten" abhängt) der Sinn für gute und ernste Musik unzweifelhaft ge¬
fördert worden ist. Die Notwendigkeit so außergewöhnlicher Aufführungen wird
sich nur unter besondern Umständen ergeben, und vor einer Überflutung mit
Bürgerschauspielen sind wir ja wohl geschützt. Ohne Anknüpfung an einen
durchaus populären Stoff, an eine Gestalt, die in der Volksphantasie lebt, ohne
Verbindung mit einem noch waltenden und wirksamen historischen Lokalinteresse
würden Vorstellungen wie die Lutherspiele schwerlich zu Stande kommen oder
Teilnahme finden.

Gehen wir von der Besonderheit der beiden Lutherspiele aus, die wir jüngst
in Erfurt und vor zwei Jahren in Jena vorführen sahen, so bieten hauptsächlich
solche dramatische Dichtungen, in denen ein starkes episches Element vorhanden
ist und die zu ihrer theatralischen Verkörperung eine ungewöhnliche Menge
von Darstellern bedürfen, die Möglichkeit des Gelingens und eine dankbare
Aufgabe für eine große Vereinigung von Darstellern ans bürgerlichen Kreisen.
In dieser Beziehung erneuern sich die Voraussetzungen der deutscheu Schul-
und Vürgerkomödien des sechzehnten Jahrhunderts, welche bekanntlich starke
epische Elemente enthielten und sich in Bezug auf die Zahl der mitwirkenden
Personen keinen Zwang auferlegten. Damit ist aber wiederum ausgesprochen,
daß es für die Entstehung und glückliche Durchführung so ungewöhnlicher Schau¬
spiele besondrer Anlässe bedarf, Anlässe, welche diesen Schauspielen von vorn¬
herein den Charakter des subjektiv Willkürlichen, der Spekulation und der Teil¬
nahme daran den Charakter der bloßen Neugier nehmen. Wie man auch über
das Gelingen des Worms-Erfurter Spiels im einzelnen denken möge, im ganzen
läßt sich nicht in Abrede stellen, daß ihre Aufführung auf dem Boden der Luther¬
städte Worms und Erfurt als natürliches Wachstum erscheint. Auch Dar¬
stellungen in Wittenberg, Eisleben oder Eisenach, in Augsburg oder Koburg
würden unter gleich günstigen Voraussetzungen erfolgen. Die Verpflanzung
einer solchen Aufführung hingegen in den Saal der Philharmonie zu Berlin
würde ein Experiment sein, dem sich ein eigentliches Gelingen schwerlich prophe¬
zeien ließe. Und auf alle Fälle, wenn es selbst in Erfurt und Jena trotz voller


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[0482] Lutherspiele in Erfurt und Jena. leiten selbst des bestgclcitetcn Theaters hinausgeht, ohne daß es darum auch nur halb das wert ist, was ein tüchtiges Schauspiel gewöhnlicher Gattung gelten soll und muß, bedarf keiner ausdrücklichen Versicherung. Auch liegt die Gefahr nahe, daß Dichtungen von untergeordneter Bedeutung lediglich durch die un¬ gewöhnliche Weise, mit der sie in Szene gesetzt sind, vorübergehend zur Über¬ schätzung gelangen. Das alles aber schließt nicht aus, daß sich, eine gewisse Begünstigung der Umstände und die Mitwirkung wirklicher, ausgiebiger Talente vorausgesetzt, ans Aufführungen wie den in Erfurt und Jena veranstalteten, gute Resultate ergeben können und der Sinn für das poetisch Wahre und Große in ähnlicher Weise gestärkt werden kann, wie durch die großen Oratorienanf- sührungen (deren künstlerisches Gelingen gleichfalls von der Mitwirkung der „Dilettanten" abhängt) der Sinn für gute und ernste Musik unzweifelhaft ge¬ fördert worden ist. Die Notwendigkeit so außergewöhnlicher Aufführungen wird sich nur unter besondern Umständen ergeben, und vor einer Überflutung mit Bürgerschauspielen sind wir ja wohl geschützt. Ohne Anknüpfung an einen durchaus populären Stoff, an eine Gestalt, die in der Volksphantasie lebt, ohne Verbindung mit einem noch waltenden und wirksamen historischen Lokalinteresse würden Vorstellungen wie die Lutherspiele schwerlich zu Stande kommen oder Teilnahme finden. Gehen wir von der Besonderheit der beiden Lutherspiele aus, die wir jüngst in Erfurt und vor zwei Jahren in Jena vorführen sahen, so bieten hauptsächlich solche dramatische Dichtungen, in denen ein starkes episches Element vorhanden ist und die zu ihrer theatralischen Verkörperung eine ungewöhnliche Menge von Darstellern bedürfen, die Möglichkeit des Gelingens und eine dankbare Aufgabe für eine große Vereinigung von Darstellern ans bürgerlichen Kreisen. In dieser Beziehung erneuern sich die Voraussetzungen der deutscheu Schul- und Vürgerkomödien des sechzehnten Jahrhunderts, welche bekanntlich starke epische Elemente enthielten und sich in Bezug auf die Zahl der mitwirkenden Personen keinen Zwang auferlegten. Damit ist aber wiederum ausgesprochen, daß es für die Entstehung und glückliche Durchführung so ungewöhnlicher Schau¬ spiele besondrer Anlässe bedarf, Anlässe, welche diesen Schauspielen von vorn¬ herein den Charakter des subjektiv Willkürlichen, der Spekulation und der Teil¬ nahme daran den Charakter der bloßen Neugier nehmen. Wie man auch über das Gelingen des Worms-Erfurter Spiels im einzelnen denken möge, im ganzen läßt sich nicht in Abrede stellen, daß ihre Aufführung auf dem Boden der Luther¬ städte Worms und Erfurt als natürliches Wachstum erscheint. Auch Dar¬ stellungen in Wittenberg, Eisleben oder Eisenach, in Augsburg oder Koburg würden unter gleich günstigen Voraussetzungen erfolgen. Die Verpflanzung einer solchen Aufführung hingegen in den Saal der Philharmonie zu Berlin würde ein Experiment sein, dem sich ein eigentliches Gelingen schwerlich prophe¬ zeien ließe. Und auf alle Fälle, wenn es selbst in Erfurt und Jena trotz voller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/482>, abgerufen am 29.12.2024.