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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die religiöse Malerei der Gegenwart.

Syrien und die darauf begründeten Kompositionen. Die andre Hälfte besteht,
was wir beiläufig bemerken wollen, ans Variationen von früher behandelten
Themen. Es sind Ansichten von merkwürdigen Baudenkmälern in Delhi und
Agra, Jnnenperspektiven von Moscheen und Palästen, Himalayalandschciften,
durchweg mit großer Virtuosität, aber auch ohne Empfindung und ohne Seele
gemalt. Ein verständiger Photograph und ein geschickter Kolorist würden am
Ende ein Gleiches zu stände bringen. Die große That, mit welcher Wereschagin
in seiner zweiten Wanderausstellung paradirt, ist ein Cyklus von Gemälden aus
der evangelischen Geschichte. Wenngleich Wcreschagins ganzes Auftreten, das
Massenaufgebot seiner Werke und die sonderbare Juszenirung derselben, kein
günstiges Vorurteil für ihn erwecken, so ist mir doch aus Gespräche" mit ihn,
klar geworden, daß er kein Charlatan, sondern der Fanatiker seiner Überzeugung
ist. In Glaubenssachen, oder richtiger gesagt in Sachen der historischen Kritik
und der reinen Vernunft besitzt der nnter den Einflüssen der französischen Schule
und des Pariser Lebens gebildete Künstler die Naivität eines Stvckrussen. Er
hält nicht nur an dem Dogma fest, daß die unter der Bezeichnung " Neues
Testament" vereinigtet, Schriften in jedem Worte, nicht etwa symbolisch, sondern
buchstäblich genommen, unbedingte Glaubwürdigkeit verdienen, sondern er mißt
dieselbe Zuverlässigkeit auch der aus diesen Schriften erwachsenen Tradition
bei. Es ist bekannt, daß sich im Laufe der Jahrhunderte unter den Gläubigen
und Ungläubigen im heiligen Lande eine vollständige Topographie der Bibel
ausgebildet hat, welche natürlich vor der historischen und archäologischen Kritik
nicht besteht, nichtsdestoweniger aber als unanfechtbar gilt. Wereschagin gehört
zu den Gläubigen, welche mit unerschütterlichem Mute auf die Worte der
Fremdenführer schwören. Er hat alle Stätten, mit welchen die Sage eine ge¬
schichtliche Beziehung verknüpft hat, aufgesucht und ihre Physiognomie in Öl-
skizzen festgehalten. Was Delacroix und Horace Vernet von den Trachten,
Geräten und Gewohnheiten behaupteten, wendete der kapriziöse Russe auf die
Landschaft und die Architektur an. Ohne sich um die wissenschaftliche Be¬
gründung willkürlicher oder unsicherer Ortstaufett zu kümmern, folgerte er aus
dieser unbewiesenen Prämisse, daß sich die Lokalitäten des heiligen Landes im
Laufe von zwei Jahrtausenden so wenig verändert haben, daß heute daselbst
aufgenommene Naturpvrträts als Hintergründe für die Szenen aus dem Leben
Christi einen gewissermaßen urkundlichen Wert beanspruchen dürfen. In einigen
Punkten wird man Wereschagin Recht geben können, z. B. wenn er Christi
Predigt auf dem See Genezareth oder seine Weissagung am Ufer desselben
(Wehe dir, Chorazin! wehe dir, Vethsaida!) darstellt. Diese Lokalität ist historisch
gesichert. Was soll mau aber dazu sage", daß er auch die Stelle des Jordan,
wo Christus getauft worden ist, den Brunnen, an welchem er mit der Sama¬
riterin gesprochen, den Berg der Versuchung durch den Teufel und das Haus
zu Nazareth, in welchem der Zimmermann Joseph mit seiner Frau Maria und


Die religiöse Malerei der Gegenwart.

Syrien und die darauf begründeten Kompositionen. Die andre Hälfte besteht,
was wir beiläufig bemerken wollen, ans Variationen von früher behandelten
Themen. Es sind Ansichten von merkwürdigen Baudenkmälern in Delhi und
Agra, Jnnenperspektiven von Moscheen und Palästen, Himalayalandschciften,
durchweg mit großer Virtuosität, aber auch ohne Empfindung und ohne Seele
gemalt. Ein verständiger Photograph und ein geschickter Kolorist würden am
Ende ein Gleiches zu stände bringen. Die große That, mit welcher Wereschagin
in seiner zweiten Wanderausstellung paradirt, ist ein Cyklus von Gemälden aus
der evangelischen Geschichte. Wenngleich Wcreschagins ganzes Auftreten, das
Massenaufgebot seiner Werke und die sonderbare Juszenirung derselben, kein
günstiges Vorurteil für ihn erwecken, so ist mir doch aus Gespräche» mit ihn,
klar geworden, daß er kein Charlatan, sondern der Fanatiker seiner Überzeugung
ist. In Glaubenssachen, oder richtiger gesagt in Sachen der historischen Kritik
und der reinen Vernunft besitzt der nnter den Einflüssen der französischen Schule
und des Pariser Lebens gebildete Künstler die Naivität eines Stvckrussen. Er
hält nicht nur an dem Dogma fest, daß die unter der Bezeichnung „ Neues
Testament" vereinigtet, Schriften in jedem Worte, nicht etwa symbolisch, sondern
buchstäblich genommen, unbedingte Glaubwürdigkeit verdienen, sondern er mißt
dieselbe Zuverlässigkeit auch der aus diesen Schriften erwachsenen Tradition
bei. Es ist bekannt, daß sich im Laufe der Jahrhunderte unter den Gläubigen
und Ungläubigen im heiligen Lande eine vollständige Topographie der Bibel
ausgebildet hat, welche natürlich vor der historischen und archäologischen Kritik
nicht besteht, nichtsdestoweniger aber als unanfechtbar gilt. Wereschagin gehört
zu den Gläubigen, welche mit unerschütterlichem Mute auf die Worte der
Fremdenführer schwören. Er hat alle Stätten, mit welchen die Sage eine ge¬
schichtliche Beziehung verknüpft hat, aufgesucht und ihre Physiognomie in Öl-
skizzen festgehalten. Was Delacroix und Horace Vernet von den Trachten,
Geräten und Gewohnheiten behaupteten, wendete der kapriziöse Russe auf die
Landschaft und die Architektur an. Ohne sich um die wissenschaftliche Be¬
gründung willkürlicher oder unsicherer Ortstaufett zu kümmern, folgerte er aus
dieser unbewiesenen Prämisse, daß sich die Lokalitäten des heiligen Landes im
Laufe von zwei Jahrtausenden so wenig verändert haben, daß heute daselbst
aufgenommene Naturpvrträts als Hintergründe für die Szenen aus dem Leben
Christi einen gewissermaßen urkundlichen Wert beanspruchen dürfen. In einigen
Punkten wird man Wereschagin Recht geben können, z. B. wenn er Christi
Predigt auf dem See Genezareth oder seine Weissagung am Ufer desselben
(Wehe dir, Chorazin! wehe dir, Vethsaida!) darstellt. Diese Lokalität ist historisch
gesichert. Was soll mau aber dazu sage», daß er auch die Stelle des Jordan,
wo Christus getauft worden ist, den Brunnen, an welchem er mit der Sama¬
riterin gesprochen, den Berg der Versuchung durch den Teufel und das Haus
zu Nazareth, in welchem der Zimmermann Joseph mit seiner Frau Maria und


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[0477] Die religiöse Malerei der Gegenwart. Syrien und die darauf begründeten Kompositionen. Die andre Hälfte besteht, was wir beiläufig bemerken wollen, ans Variationen von früher behandelten Themen. Es sind Ansichten von merkwürdigen Baudenkmälern in Delhi und Agra, Jnnenperspektiven von Moscheen und Palästen, Himalayalandschciften, durchweg mit großer Virtuosität, aber auch ohne Empfindung und ohne Seele gemalt. Ein verständiger Photograph und ein geschickter Kolorist würden am Ende ein Gleiches zu stände bringen. Die große That, mit welcher Wereschagin in seiner zweiten Wanderausstellung paradirt, ist ein Cyklus von Gemälden aus der evangelischen Geschichte. Wenngleich Wcreschagins ganzes Auftreten, das Massenaufgebot seiner Werke und die sonderbare Juszenirung derselben, kein günstiges Vorurteil für ihn erwecken, so ist mir doch aus Gespräche» mit ihn, klar geworden, daß er kein Charlatan, sondern der Fanatiker seiner Überzeugung ist. In Glaubenssachen, oder richtiger gesagt in Sachen der historischen Kritik und der reinen Vernunft besitzt der nnter den Einflüssen der französischen Schule und des Pariser Lebens gebildete Künstler die Naivität eines Stvckrussen. Er hält nicht nur an dem Dogma fest, daß die unter der Bezeichnung „ Neues Testament" vereinigtet, Schriften in jedem Worte, nicht etwa symbolisch, sondern buchstäblich genommen, unbedingte Glaubwürdigkeit verdienen, sondern er mißt dieselbe Zuverlässigkeit auch der aus diesen Schriften erwachsenen Tradition bei. Es ist bekannt, daß sich im Laufe der Jahrhunderte unter den Gläubigen und Ungläubigen im heiligen Lande eine vollständige Topographie der Bibel ausgebildet hat, welche natürlich vor der historischen und archäologischen Kritik nicht besteht, nichtsdestoweniger aber als unanfechtbar gilt. Wereschagin gehört zu den Gläubigen, welche mit unerschütterlichem Mute auf die Worte der Fremdenführer schwören. Er hat alle Stätten, mit welchen die Sage eine ge¬ schichtliche Beziehung verknüpft hat, aufgesucht und ihre Physiognomie in Öl- skizzen festgehalten. Was Delacroix und Horace Vernet von den Trachten, Geräten und Gewohnheiten behaupteten, wendete der kapriziöse Russe auf die Landschaft und die Architektur an. Ohne sich um die wissenschaftliche Be¬ gründung willkürlicher oder unsicherer Ortstaufett zu kümmern, folgerte er aus dieser unbewiesenen Prämisse, daß sich die Lokalitäten des heiligen Landes im Laufe von zwei Jahrtausenden so wenig verändert haben, daß heute daselbst aufgenommene Naturpvrträts als Hintergründe für die Szenen aus dem Leben Christi einen gewissermaßen urkundlichen Wert beanspruchen dürfen. In einigen Punkten wird man Wereschagin Recht geben können, z. B. wenn er Christi Predigt auf dem See Genezareth oder seine Weissagung am Ufer desselben (Wehe dir, Chorazin! wehe dir, Vethsaida!) darstellt. Diese Lokalität ist historisch gesichert. Was soll mau aber dazu sage», daß er auch die Stelle des Jordan, wo Christus getauft worden ist, den Brunnen, an welchem er mit der Sama¬ riterin gesprochen, den Berg der Versuchung durch den Teufel und das Haus zu Nazareth, in welchem der Zimmermann Joseph mit seiner Frau Maria und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/477>, abgerufen am 02.07.2024.