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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die religiöse Malerei der Gegenwart.

Aber Christus wehrt dem Verworfenen mit strenger, abweisender Bewegung der
Hände. Wenn dieses Gemälde auch keinen andern Vorzug besäße als den einer be¬
deutsamen und energievvllen Charakteristik, so mußte man doch dem Schöpfer des¬
selben das Zeugnis einer gewissen Erfindungskraft aufstellen. Daß es den mo¬
dernen Vertretern der religiösen Malerei so außerordentlich schwer geworden
ist, neben den klassischen Meistern Raum zu gewinnen, liegt zum Teil auch an
der Beschränkung des Darstellungskreises. Schon frühzeitig hatte sich eine be¬
stimmte Szenenreihe ausgebildet, an welcher Jahrhunderte lang unverbrüchlich
festgehalten wurde, ohne daß es ein Künstler gewagt hätte, die Reihe zu er¬
weitern oder ein neues Glied in die Kette einzuschalten. Erst seitdem der mo¬
derne Realismus seine Unabhängigkeit von der Überlieferung proklamirt hat,
sind auch die Schranken gefallen, welche das religiöse Stoffgebiet bisher einge¬
engt hatten. Die evangelische Geschichte bietet trotz ihrer Bearbeitung durch
tausend und abertausend Künstler immer noch Motive genug, welche den Vorzug
der Neuheit besitzen. So hat z. B. Hermann Prell, ein Schüler von Gnssow,
den Moment dargestellt, wo an Judas Ischarioth die Versucher herantreten,
die ihn zum Verrat an seinen Herrn und Meister verleiten wollen. Die
Sonne ist bereits zur Hälfte hinter einem Hügel hinabgetaucht, von dessen Ab¬
Hange drei Personell in naturgroße herabschreiten. Sie sind so stark in den
Vordergrund getreten, daß die untere Seite des Bildrahmens ihre Beine unter¬
halb der Kniee durchschneidet. Judas greift gesenkten Hauptes mit der Linken
nachdenklich in den Bart, während die Rechte den Strick umklammert, der ihm
als Leibgurt dient. Noch hat der Kampf, der in seinem Innern tobt, sein
besseres Selbst nicht überwunden, noch leiht er den Verführern nur ein halbes
Ohr. Der eine von ihnen, ein weißbärtiger, kahlköpfiger Jude mit scharfge¬
schnittenen, geierartigen Zügen, berührt mit den ausgestreckten Fingern der
Rechten den Ärmel seines Gewandes, als wüßte er, daß es nnr noch eines
kleinen Anstoßes bedürfe, um den Schwankenden seinen Wünschen gefügig zu
machen. Der andre, in reicher orientalischer Tracht, bietet ihm in der ausge¬
streckten flachen Rechten die glänzenden Silberlinge. Daumen und Zeigefinger
der unten Hand stecken in der Geldtasche, um nötigenfalls das Angebot zu ver¬
größern. Mit richtigem Takt hat der Künstler jeden Stich ins Komische oder
Karikirte vermieden. Die Abenddämmerung, welche sich über die Landschaft
breitet, verleiht der Szene jene ernste, düstere Stimmung, die für den schwarzen
Handel bezeichnend ist. Dabei sind die Köpfe mit großer Energie charakte-
risirt, aber innerhalb einer durch und durch realistische" Ausfassung, die sich hier
bis zur Größe des historischen Stils erhebt.

In der Fähigkeit, neue Motive für biblische Gemälde zu finden, hat es bis
jetzt der Russe Wassili Wereschagin am weitesten gebracht, dessen ambulante
Bildergalerie sich gegenwärtig in Berlin befindet. Uns interessirt hier nur die
eine Hälfte derselben, seine Studien an den heiligen Stätten in Palästina und


Die religiöse Malerei der Gegenwart.

Aber Christus wehrt dem Verworfenen mit strenger, abweisender Bewegung der
Hände. Wenn dieses Gemälde auch keinen andern Vorzug besäße als den einer be¬
deutsamen und energievvllen Charakteristik, so mußte man doch dem Schöpfer des¬
selben das Zeugnis einer gewissen Erfindungskraft aufstellen. Daß es den mo¬
dernen Vertretern der religiösen Malerei so außerordentlich schwer geworden
ist, neben den klassischen Meistern Raum zu gewinnen, liegt zum Teil auch an
der Beschränkung des Darstellungskreises. Schon frühzeitig hatte sich eine be¬
stimmte Szenenreihe ausgebildet, an welcher Jahrhunderte lang unverbrüchlich
festgehalten wurde, ohne daß es ein Künstler gewagt hätte, die Reihe zu er¬
weitern oder ein neues Glied in die Kette einzuschalten. Erst seitdem der mo¬
derne Realismus seine Unabhängigkeit von der Überlieferung proklamirt hat,
sind auch die Schranken gefallen, welche das religiöse Stoffgebiet bisher einge¬
engt hatten. Die evangelische Geschichte bietet trotz ihrer Bearbeitung durch
tausend und abertausend Künstler immer noch Motive genug, welche den Vorzug
der Neuheit besitzen. So hat z. B. Hermann Prell, ein Schüler von Gnssow,
den Moment dargestellt, wo an Judas Ischarioth die Versucher herantreten,
die ihn zum Verrat an seinen Herrn und Meister verleiten wollen. Die
Sonne ist bereits zur Hälfte hinter einem Hügel hinabgetaucht, von dessen Ab¬
Hange drei Personell in naturgroße herabschreiten. Sie sind so stark in den
Vordergrund getreten, daß die untere Seite des Bildrahmens ihre Beine unter¬
halb der Kniee durchschneidet. Judas greift gesenkten Hauptes mit der Linken
nachdenklich in den Bart, während die Rechte den Strick umklammert, der ihm
als Leibgurt dient. Noch hat der Kampf, der in seinem Innern tobt, sein
besseres Selbst nicht überwunden, noch leiht er den Verführern nur ein halbes
Ohr. Der eine von ihnen, ein weißbärtiger, kahlköpfiger Jude mit scharfge¬
schnittenen, geierartigen Zügen, berührt mit den ausgestreckten Fingern der
Rechten den Ärmel seines Gewandes, als wüßte er, daß es nnr noch eines
kleinen Anstoßes bedürfe, um den Schwankenden seinen Wünschen gefügig zu
machen. Der andre, in reicher orientalischer Tracht, bietet ihm in der ausge¬
streckten flachen Rechten die glänzenden Silberlinge. Daumen und Zeigefinger
der unten Hand stecken in der Geldtasche, um nötigenfalls das Angebot zu ver¬
größern. Mit richtigem Takt hat der Künstler jeden Stich ins Komische oder
Karikirte vermieden. Die Abenddämmerung, welche sich über die Landschaft
breitet, verleiht der Szene jene ernste, düstere Stimmung, die für den schwarzen
Handel bezeichnend ist. Dabei sind die Köpfe mit großer Energie charakte-
risirt, aber innerhalb einer durch und durch realistische» Ausfassung, die sich hier
bis zur Größe des historischen Stils erhebt.

In der Fähigkeit, neue Motive für biblische Gemälde zu finden, hat es bis
jetzt der Russe Wassili Wereschagin am weitesten gebracht, dessen ambulante
Bildergalerie sich gegenwärtig in Berlin befindet. Uns interessirt hier nur die
eine Hälfte derselben, seine Studien an den heiligen Stätten in Palästina und


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[0476] Die religiöse Malerei der Gegenwart. Aber Christus wehrt dem Verworfenen mit strenger, abweisender Bewegung der Hände. Wenn dieses Gemälde auch keinen andern Vorzug besäße als den einer be¬ deutsamen und energievvllen Charakteristik, so mußte man doch dem Schöpfer des¬ selben das Zeugnis einer gewissen Erfindungskraft aufstellen. Daß es den mo¬ dernen Vertretern der religiösen Malerei so außerordentlich schwer geworden ist, neben den klassischen Meistern Raum zu gewinnen, liegt zum Teil auch an der Beschränkung des Darstellungskreises. Schon frühzeitig hatte sich eine be¬ stimmte Szenenreihe ausgebildet, an welcher Jahrhunderte lang unverbrüchlich festgehalten wurde, ohne daß es ein Künstler gewagt hätte, die Reihe zu er¬ weitern oder ein neues Glied in die Kette einzuschalten. Erst seitdem der mo¬ derne Realismus seine Unabhängigkeit von der Überlieferung proklamirt hat, sind auch die Schranken gefallen, welche das religiöse Stoffgebiet bisher einge¬ engt hatten. Die evangelische Geschichte bietet trotz ihrer Bearbeitung durch tausend und abertausend Künstler immer noch Motive genug, welche den Vorzug der Neuheit besitzen. So hat z. B. Hermann Prell, ein Schüler von Gnssow, den Moment dargestellt, wo an Judas Ischarioth die Versucher herantreten, die ihn zum Verrat an seinen Herrn und Meister verleiten wollen. Die Sonne ist bereits zur Hälfte hinter einem Hügel hinabgetaucht, von dessen Ab¬ Hange drei Personell in naturgroße herabschreiten. Sie sind so stark in den Vordergrund getreten, daß die untere Seite des Bildrahmens ihre Beine unter¬ halb der Kniee durchschneidet. Judas greift gesenkten Hauptes mit der Linken nachdenklich in den Bart, während die Rechte den Strick umklammert, der ihm als Leibgurt dient. Noch hat der Kampf, der in seinem Innern tobt, sein besseres Selbst nicht überwunden, noch leiht er den Verführern nur ein halbes Ohr. Der eine von ihnen, ein weißbärtiger, kahlköpfiger Jude mit scharfge¬ schnittenen, geierartigen Zügen, berührt mit den ausgestreckten Fingern der Rechten den Ärmel seines Gewandes, als wüßte er, daß es nnr noch eines kleinen Anstoßes bedürfe, um den Schwankenden seinen Wünschen gefügig zu machen. Der andre, in reicher orientalischer Tracht, bietet ihm in der ausge¬ streckten flachen Rechten die glänzenden Silberlinge. Daumen und Zeigefinger der unten Hand stecken in der Geldtasche, um nötigenfalls das Angebot zu ver¬ größern. Mit richtigem Takt hat der Künstler jeden Stich ins Komische oder Karikirte vermieden. Die Abenddämmerung, welche sich über die Landschaft breitet, verleiht der Szene jene ernste, düstere Stimmung, die für den schwarzen Handel bezeichnend ist. Dabei sind die Köpfe mit großer Energie charakte- risirt, aber innerhalb einer durch und durch realistische» Ausfassung, die sich hier bis zur Größe des historischen Stils erhebt. In der Fähigkeit, neue Motive für biblische Gemälde zu finden, hat es bis jetzt der Russe Wassili Wereschagin am weitesten gebracht, dessen ambulante Bildergalerie sich gegenwärtig in Berlin befindet. Uns interessirt hier nur die eine Hälfte derselben, seine Studien an den heiligen Stätten in Palästina und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/476>, abgerufen am 04.07.2024.