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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die religiöse Malerei der Gegenwart.

seiner zahlreichen Familie gewohnt, mit photographischer Treue porträtirt hat?
Bis zu welchem Grade Wereschagins Glanbensseligkeit geht, mag eine Stelle
über das Grabmal Abrahams zeigen, welche wir wörtlich den von ihm ver¬
faßten Kataloge entnehmen. "Dieses Grabmal, sagt er, befindet sich in Hebron,
einer der ältesten Städte. Hier wurde Abraham von den drei Wanderern be¬
sucht, die ihm die Geburt eines Sohnes wie den Untergang Sodvms und
Gomorrhas verkündeten. Außer Sarah, welche hier starb, sind Abraham, Jsaak
und dessen Frau Rebekka hier bestattet. Hierher wurde auch aus Ägypten die
einbalsamirte Leiche Jakobs gebracht. (Höchstwahrscheinlich ist die Mumie noch
vorhanden.) Diese Stätte, welche unzweifelhaft die echten Gräber enthält, ist
seit undenkbaren Zeiten Gegenstand frommer Verehrung der Juden und Muham-
medaner." Ein solcher Vertraucnsmut geht noch über deu "Bater der Ge¬
schichte" Herodot hinaus, welcher sich von ägyptischem Priestern und Tempel-
dienern die abenteuerlichsten Märchen aufbinden ließ. Auch Wereschagins
Äutvritciten gehören solchen Kreisen von Vertrnueusmäunern an. So sagt er
z. B. in Bezug auf die Höhle, in welcher Abraham bestattet sein soll: "Der
Rabbiner Benjamin, der im zwölften Jahrhundert lebte, behauptet, dort die
Gräber der Patriarchen gesehen zu haben."

Es war nur die letzte Konsequenz einer derartigen Geschichtsauschauung,
daß Wereschagin auf den Gedanken kam, die "heilige Familie" in jenem Hause
zu Nazareth so vorzuführen, wie sie sich nach den "historischen Quellen" zur
Zeit ihrer höchsten Kopfzahl präsentirte. Dadurch, daß man in Wien und Pest
an einer so rationalistischen und ordinären Auffassung von Personen, die einem
großen Bruchteile der Erdbevölkerung zu Gegenständen der Verehrung geworden
sind, Ärgernis genommen hat, ist dieses an und für sich sehr unbedeutende
Genrebild zu eiuer unverdienten Berühmtheit gelangt. Wir blicken in deu Hof
eines orientalischen Hauses, in welchem ein alter Zimmermann mit seinem Ge¬
hilfen arbeitet. Ein paar Jungen wälzen sich auf dem Erdboden umher. Im
Hintergrunde stillt die Hausfrau ein Kind, und im Vordergrunde links sitzt vor
einer Mauer ein junger Maun mit langen roten Haaren und in weißem Ge¬
wände, welcher in einer Schriftrolle liest. Wenn übereifrige Geistliche nicht die
Unvorsichtigkeit begangen hätten, durch leidenschaftliche Augriffe die Entrüstung
der großen Masse wachzurufen, würde die seltsame Laune des Künstlers nur
der Gegenstand einer rein ästhetische" Diskussion geblieben sein. In Berlin,
dessen Bevölkerung freilich eine fast ausschließlich protestantische oder in religiösen
Sachen indifferente ist, wurde diese Grenze auch nicht überschritten, und nichts
war überflüssiger als der Versuch eines protestantische,! Geistlichen, Wereschagins
Annahme, daß Joseph und Maria nach der Geburt Christi noch andre Familien-
freuden erlebt, durch eine Broschüre zu bekräftige". Ein gläubiger Christ, der
Bildung und Vorurteilslosigkeit besitzt, wird durch die Erhärtung dieser That¬
sache in seinem Glauben weder erschüttert, noch in seinen Gefühlen verletzt


Die religiöse Malerei der Gegenwart.

seiner zahlreichen Familie gewohnt, mit photographischer Treue porträtirt hat?
Bis zu welchem Grade Wereschagins Glanbensseligkeit geht, mag eine Stelle
über das Grabmal Abrahams zeigen, welche wir wörtlich den von ihm ver¬
faßten Kataloge entnehmen. „Dieses Grabmal, sagt er, befindet sich in Hebron,
einer der ältesten Städte. Hier wurde Abraham von den drei Wanderern be¬
sucht, die ihm die Geburt eines Sohnes wie den Untergang Sodvms und
Gomorrhas verkündeten. Außer Sarah, welche hier starb, sind Abraham, Jsaak
und dessen Frau Rebekka hier bestattet. Hierher wurde auch aus Ägypten die
einbalsamirte Leiche Jakobs gebracht. (Höchstwahrscheinlich ist die Mumie noch
vorhanden.) Diese Stätte, welche unzweifelhaft die echten Gräber enthält, ist
seit undenkbaren Zeiten Gegenstand frommer Verehrung der Juden und Muham-
medaner." Ein solcher Vertraucnsmut geht noch über deu „Bater der Ge¬
schichte" Herodot hinaus, welcher sich von ägyptischem Priestern und Tempel-
dienern die abenteuerlichsten Märchen aufbinden ließ. Auch Wereschagins
Äutvritciten gehören solchen Kreisen von Vertrnueusmäunern an. So sagt er
z. B. in Bezug auf die Höhle, in welcher Abraham bestattet sein soll: „Der
Rabbiner Benjamin, der im zwölften Jahrhundert lebte, behauptet, dort die
Gräber der Patriarchen gesehen zu haben."

Es war nur die letzte Konsequenz einer derartigen Geschichtsauschauung,
daß Wereschagin auf den Gedanken kam, die „heilige Familie" in jenem Hause
zu Nazareth so vorzuführen, wie sie sich nach den „historischen Quellen" zur
Zeit ihrer höchsten Kopfzahl präsentirte. Dadurch, daß man in Wien und Pest
an einer so rationalistischen und ordinären Auffassung von Personen, die einem
großen Bruchteile der Erdbevölkerung zu Gegenständen der Verehrung geworden
sind, Ärgernis genommen hat, ist dieses an und für sich sehr unbedeutende
Genrebild zu eiuer unverdienten Berühmtheit gelangt. Wir blicken in deu Hof
eines orientalischen Hauses, in welchem ein alter Zimmermann mit seinem Ge¬
hilfen arbeitet. Ein paar Jungen wälzen sich auf dem Erdboden umher. Im
Hintergrunde stillt die Hausfrau ein Kind, und im Vordergrunde links sitzt vor
einer Mauer ein junger Maun mit langen roten Haaren und in weißem Ge¬
wände, welcher in einer Schriftrolle liest. Wenn übereifrige Geistliche nicht die
Unvorsichtigkeit begangen hätten, durch leidenschaftliche Augriffe die Entrüstung
der großen Masse wachzurufen, würde die seltsame Laune des Künstlers nur
der Gegenstand einer rein ästhetische» Diskussion geblieben sein. In Berlin,
dessen Bevölkerung freilich eine fast ausschließlich protestantische oder in religiösen
Sachen indifferente ist, wurde diese Grenze auch nicht überschritten, und nichts
war überflüssiger als der Versuch eines protestantische,! Geistlichen, Wereschagins
Annahme, daß Joseph und Maria nach der Geburt Christi noch andre Familien-
freuden erlebt, durch eine Broschüre zu bekräftige». Ein gläubiger Christ, der
Bildung und Vorurteilslosigkeit besitzt, wird durch die Erhärtung dieser That¬
sache in seinem Glauben weder erschüttert, noch in seinen Gefühlen verletzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/478>, abgerufen am 30.06.2024.