Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Die naturalistische Schule in Deutschland.
Jedermann wird einräumen, daß dieser lyrische Ton dem Tenor der natura- Die Kühnheiten oder Nacktheiten ihrer Erotik bilden weiterhin ein Haupt-
N"r ein Bedenken können wir nicht unterdrücken: ob die jüngsten Lyriker bei Grenzboten II. 1836.
Die naturalistische Schule in Deutschland.
Jedermann wird einräumen, daß dieser lyrische Ton dem Tenor der natura- Die Kühnheiten oder Nacktheiten ihrer Erotik bilden weiterhin ein Haupt-
N»r ein Bedenken können wir nicht unterdrücken: ob die jüngsten Lyriker bei Grenzboten II. 1836.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0433" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198499"/> <fw type="header" place="top"> Die naturalistische Schule in Deutschland.</fw><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_9" type="poem"> <l><cb type="start"/> Sollen deine Hcergcsellen,<lb/> Schwindsuchtblcich und kummcrtotl,<lb/> Bei der Zeiten Frühlingsschwellen<lb/> Winseln in verivaschncin Moll?<lb/> Freiheit ist der Zeilen Sehnen!<lb/> Kruft und Streitruf ihr Begehr!<lb/> Und statt Seufzern und statt Thränen<lb/> Heischen sie Zornmnt, Briinn' und Speer. <cb/> Die romantischen Fnschingsknppen,<lb/> Reißt sie endlich euch vom Ohr!<lb/> All den Flitter, all die Lappen!<lb/> Seht zu eurem Ziel empor.<lb/> streift von euren sünd'gar Gliedern<lb/> Eurer Feigheit Flitterkram.<lb/> Und es glüh' in Reneliedern<lb/> Endlich eurer Sünden Sehnen, <cb type="end"/> </l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_1256" prev="#ID_1255"> Jedermann wird einräumen, daß dieser lyrische Ton dem Tenor der natura-<lb/> listischen Prvsavorredeu völlig entspricht, jedermann anch empfinden, daß er<lb/> weder Mannichfaltigkeit gestattet, noch besondern Genuß zu geben verspricht.<lb/> Auch die pantheistischen und pessimistischen Elemente in der untnralistischen Lyrik<lb/> wollen neu sein. Lieber Himmel, sie sind zum guten Teil nicht jünger als<lb/> die indische Religionsphilosophie und das Buch Hiob, und die Schuler Buddhas<lb/> wie die Freunde Hiobs hatten vor den Jüngstdeutschen zwischen Oberbaum und<lb/> Unterhalten allerhand voraus, was wir nicht besonders zu betonen brauchen.<lb/> Natürlich sprechen wir den Lyrikern der neuesten Schule keineswegs das Recht<lb/> ab, urewigen Stimmungen der Menschenseele, innern Erlebnissen, die sich fort<lb/> und fort erneue», nach ihrer Weise erneuter Ausdruck zu geben. Je sub-<lb/> jektiv-wahrer die Empfindung, je ergreifender der Ausdruck ist, umso besser!<lb/> Unleidlich allein dünkt uns das Gebahren, als ob diese jugendlichen und viel¬<lb/> fach unreifen Dichter die ersten wären, welche den Schmerz über die Täuschungen<lb/> des Lebens oder die ergebne Fügung in den unabänderlichen Lauf der Dinge<lb/> schon und weihevoll ausgesprochen hätten. Die „Neuheit" in diesen poetischen<lb/> Ergüssen erstreckt sich nicht über das einzelne anschauliche und eindringliche Bild,<lb/> die glückliche Wendung, den wohllautenden Vers hinaus, daneben länft aber<lb/> soviel gepreßte Reflexion, künstliche übertriebne Rednern, ja garstiges Gewäsch<lb/> mit unter, daß im Vergleich mit ihnen sich die Ansprüche auf Unsterblichkeit<lb/> ziemlich komisch ausnehmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1257" next="#ID_1258"> Die Kühnheiten oder Nacktheiten ihrer Erotik bilden weiterhin ein Haupt-<lb/> ingrediens der naturalistischen Lyriker. Nach allem, was über die Novellistik<lb/> auseinandergesetzt ist, darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich auch hier<lb/> die Sinnlichkeit selten mit der Anmut, sondern meist mit brutaler Häßlichkeit<lb/> Paare. Groß Geschrei ist davon nicht zu machen, jeder besingt, was er er¬<lb/> lebt hat; schon die fahrenden Schüler bei Scheffel klagen:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_10" type="poem"> <l> Kleidung ist dünne, Spreituug ist roh,<lb/> Ach und die Minne? Im Heu und auf Stroh!</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_1258" prev="#ID_1257" next="#ID_1259"> N»r ein Bedenken können wir nicht unterdrücken: ob die jüngsten Lyriker bei<lb/> ihren Schönen, welche sie dem Publikum unbefangen als Dirnen und womöglich<lb/> als Dirnen der untersten Gattung, zu malen lieben, sonderliche Ehre einlegen<lb/> werden. Meist wünschen mich diese Damen in einer günstigeren Beleuchtung zu</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1836.</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0433]
Die naturalistische Schule in Deutschland.
Sollen deine Hcergcsellen,
Schwindsuchtblcich und kummcrtotl,
Bei der Zeiten Frühlingsschwellen
Winseln in verivaschncin Moll?
Freiheit ist der Zeilen Sehnen!
Kruft und Streitruf ihr Begehr!
Und statt Seufzern und statt Thränen
Heischen sie Zornmnt, Briinn' und Speer.
Die romantischen Fnschingsknppen,
Reißt sie endlich euch vom Ohr!
All den Flitter, all die Lappen!
Seht zu eurem Ziel empor.
streift von euren sünd'gar Gliedern
Eurer Feigheit Flitterkram.
Und es glüh' in Reneliedern
Endlich eurer Sünden Sehnen,
Jedermann wird einräumen, daß dieser lyrische Ton dem Tenor der natura-
listischen Prvsavorredeu völlig entspricht, jedermann anch empfinden, daß er
weder Mannichfaltigkeit gestattet, noch besondern Genuß zu geben verspricht.
Auch die pantheistischen und pessimistischen Elemente in der untnralistischen Lyrik
wollen neu sein. Lieber Himmel, sie sind zum guten Teil nicht jünger als
die indische Religionsphilosophie und das Buch Hiob, und die Schuler Buddhas
wie die Freunde Hiobs hatten vor den Jüngstdeutschen zwischen Oberbaum und
Unterhalten allerhand voraus, was wir nicht besonders zu betonen brauchen.
Natürlich sprechen wir den Lyrikern der neuesten Schule keineswegs das Recht
ab, urewigen Stimmungen der Menschenseele, innern Erlebnissen, die sich fort
und fort erneue», nach ihrer Weise erneuter Ausdruck zu geben. Je sub-
jektiv-wahrer die Empfindung, je ergreifender der Ausdruck ist, umso besser!
Unleidlich allein dünkt uns das Gebahren, als ob diese jugendlichen und viel¬
fach unreifen Dichter die ersten wären, welche den Schmerz über die Täuschungen
des Lebens oder die ergebne Fügung in den unabänderlichen Lauf der Dinge
schon und weihevoll ausgesprochen hätten. Die „Neuheit" in diesen poetischen
Ergüssen erstreckt sich nicht über das einzelne anschauliche und eindringliche Bild,
die glückliche Wendung, den wohllautenden Vers hinaus, daneben länft aber
soviel gepreßte Reflexion, künstliche übertriebne Rednern, ja garstiges Gewäsch
mit unter, daß im Vergleich mit ihnen sich die Ansprüche auf Unsterblichkeit
ziemlich komisch ausnehmen.
Die Kühnheiten oder Nacktheiten ihrer Erotik bilden weiterhin ein Haupt-
ingrediens der naturalistischen Lyriker. Nach allem, was über die Novellistik
auseinandergesetzt ist, darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich auch hier
die Sinnlichkeit selten mit der Anmut, sondern meist mit brutaler Häßlichkeit
Paare. Groß Geschrei ist davon nicht zu machen, jeder besingt, was er er¬
lebt hat; schon die fahrenden Schüler bei Scheffel klagen:
Kleidung ist dünne, Spreituug ist roh,
Ach und die Minne? Im Heu und auf Stroh!
N»r ein Bedenken können wir nicht unterdrücken: ob die jüngsten Lyriker bei
ihren Schönen, welche sie dem Publikum unbefangen als Dirnen und womöglich
als Dirnen der untersten Gattung, zu malen lieben, sonderliche Ehre einlegen
werden. Meist wünschen mich diese Damen in einer günstigeren Beleuchtung zu
Grenzboten II. 1836.
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