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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

erscheinen, als ihnen hier zu Teil wird. Dem Publikum gegenüber sind die
freien Liebesschilderungen, wie sie Herr Arendt und einige seiner Genossen zum
Besten geben, ja ohnehin nichts als Bravaden. Üppigkeiten, die so reizlos sind,
verführen nicht.

Ein letztes Moment tritt in der naturalistischen Lyrik als charakteristisch
hervor: die Neigung zu den Lehren und Hoffnungen der Sozialdemokratie.
Sie erhebt sich manchmal zu einer Art von prophetischem Pathos in einzelnen
Dichtungen, wie das anonyme "Revolution" in dem mehrsach erwähnten
Faschings-Album:


In meine Nächte brach ein Heller Schein
Von einem letzten Hoffnungsstrahl herein:
Aus Graus und Nacht und Weltenuntergang,
Ans Unheil, Mord und Lasterüberschwang,
Aus eines Weltcnsturzcs Trümmerfall
Steigt leidgeboren auf den leeren Thron
Die neue Göttcrgencration!
Jetzt kann ich, blutig Bildnis, dich ertragen
Und schaue dir ins Antlitz ohne Zagen:
So dröhne deines Tags Posaunenhall!
So nahe denn! Wirst gleich dn mich nicht schonen:
Längst starb mein jugendthörichtes Verlangen;
Wenn meine Wünsche noch an etwas hangen,
So sinds der Wahrheit heil'ge Miirt'rerkronen.

Meist aber gefällt sich dieser Teil der naturalistischen Lyrik im giftigsten Hohne
gegen alles, was unsre Kultur und unser nationales Leben noch zusammenhält,
so Arno Holz, so Otto Ehrlich in " Mene Tekel, Harmlose Reimereien
eines Modernen" (Zürich, Verlags-Magazin). Der letztere verkündet mit großem
Wohlbehagen, daß Franzosen und Slaven die "hündische Germanenseele" zertreten
nud ihre Tempel niederreiße" werden. Hier, dünkt uns, hört die literarische
Kritik auf, die Brandmarkung und die Abwehr solcher Gesinnung versetzt uns
auf das Gebiet des politischen Kampfes. Als eine Mahnung mehr, daß wir
nicht mehr in der elften, sondern in der zwölften Stunde vor dem Kampfe leben,
mag auch die sozialdemokratische Gruppe der naturalistischen Lyriker nicht un¬
beachtet bleiben. Der poetische Wert dieser Produkte ist lächerlich gering, aber
Bedeutung als Zeichen der Zeit läßt sich ihnen nicht absprechen; an der Nation
ist es, die frechen Prophezeiungen dieser "Dichter," die ihre Sprache verun¬
glimpfen, zu Schanden zu machen.




Die naturalistische Schule in Deutschland.

erscheinen, als ihnen hier zu Teil wird. Dem Publikum gegenüber sind die
freien Liebesschilderungen, wie sie Herr Arendt und einige seiner Genossen zum
Besten geben, ja ohnehin nichts als Bravaden. Üppigkeiten, die so reizlos sind,
verführen nicht.

Ein letztes Moment tritt in der naturalistischen Lyrik als charakteristisch
hervor: die Neigung zu den Lehren und Hoffnungen der Sozialdemokratie.
Sie erhebt sich manchmal zu einer Art von prophetischem Pathos in einzelnen
Dichtungen, wie das anonyme „Revolution" in dem mehrsach erwähnten
Faschings-Album:


In meine Nächte brach ein Heller Schein
Von einem letzten Hoffnungsstrahl herein:
Aus Graus und Nacht und Weltenuntergang,
Ans Unheil, Mord und Lasterüberschwang,
Aus eines Weltcnsturzcs Trümmerfall
Steigt leidgeboren auf den leeren Thron
Die neue Göttcrgencration!
Jetzt kann ich, blutig Bildnis, dich ertragen
Und schaue dir ins Antlitz ohne Zagen:
So dröhne deines Tags Posaunenhall!
So nahe denn! Wirst gleich dn mich nicht schonen:
Längst starb mein jugendthörichtes Verlangen;
Wenn meine Wünsche noch an etwas hangen,
So sinds der Wahrheit heil'ge Miirt'rerkronen.

Meist aber gefällt sich dieser Teil der naturalistischen Lyrik im giftigsten Hohne
gegen alles, was unsre Kultur und unser nationales Leben noch zusammenhält,
so Arno Holz, so Otto Ehrlich in „ Mene Tekel, Harmlose Reimereien
eines Modernen" (Zürich, Verlags-Magazin). Der letztere verkündet mit großem
Wohlbehagen, daß Franzosen und Slaven die „hündische Germanenseele" zertreten
nud ihre Tempel niederreiße» werden. Hier, dünkt uns, hört die literarische
Kritik auf, die Brandmarkung und die Abwehr solcher Gesinnung versetzt uns
auf das Gebiet des politischen Kampfes. Als eine Mahnung mehr, daß wir
nicht mehr in der elften, sondern in der zwölften Stunde vor dem Kampfe leben,
mag auch die sozialdemokratische Gruppe der naturalistischen Lyriker nicht un¬
beachtet bleiben. Der poetische Wert dieser Produkte ist lächerlich gering, aber
Bedeutung als Zeichen der Zeit läßt sich ihnen nicht absprechen; an der Nation
ist es, die frechen Prophezeiungen dieser „Dichter," die ihre Sprache verun¬
glimpfen, zu Schanden zu machen.




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[0434] Die naturalistische Schule in Deutschland. erscheinen, als ihnen hier zu Teil wird. Dem Publikum gegenüber sind die freien Liebesschilderungen, wie sie Herr Arendt und einige seiner Genossen zum Besten geben, ja ohnehin nichts als Bravaden. Üppigkeiten, die so reizlos sind, verführen nicht. Ein letztes Moment tritt in der naturalistischen Lyrik als charakteristisch hervor: die Neigung zu den Lehren und Hoffnungen der Sozialdemokratie. Sie erhebt sich manchmal zu einer Art von prophetischem Pathos in einzelnen Dichtungen, wie das anonyme „Revolution" in dem mehrsach erwähnten Faschings-Album: In meine Nächte brach ein Heller Schein Von einem letzten Hoffnungsstrahl herein: Aus Graus und Nacht und Weltenuntergang, Ans Unheil, Mord und Lasterüberschwang, Aus eines Weltcnsturzcs Trümmerfall Steigt leidgeboren auf den leeren Thron Die neue Göttcrgencration! Jetzt kann ich, blutig Bildnis, dich ertragen Und schaue dir ins Antlitz ohne Zagen: So dröhne deines Tags Posaunenhall! So nahe denn! Wirst gleich dn mich nicht schonen: Längst starb mein jugendthörichtes Verlangen; Wenn meine Wünsche noch an etwas hangen, So sinds der Wahrheit heil'ge Miirt'rerkronen. Meist aber gefällt sich dieser Teil der naturalistischen Lyrik im giftigsten Hohne gegen alles, was unsre Kultur und unser nationales Leben noch zusammenhält, so Arno Holz, so Otto Ehrlich in „ Mene Tekel, Harmlose Reimereien eines Modernen" (Zürich, Verlags-Magazin). Der letztere verkündet mit großem Wohlbehagen, daß Franzosen und Slaven die „hündische Germanenseele" zertreten nud ihre Tempel niederreiße» werden. Hier, dünkt uns, hört die literarische Kritik auf, die Brandmarkung und die Abwehr solcher Gesinnung versetzt uns auf das Gebiet des politischen Kampfes. Als eine Mahnung mehr, daß wir nicht mehr in der elften, sondern in der zwölften Stunde vor dem Kampfe leben, mag auch die sozialdemokratische Gruppe der naturalistischen Lyriker nicht un¬ beachtet bleiben. Der poetische Wert dieser Produkte ist lächerlich gering, aber Bedeutung als Zeichen der Zeit läßt sich ihnen nicht absprechen; an der Nation ist es, die frechen Prophezeiungen dieser „Dichter," die ihre Sprache verun¬ glimpfen, zu Schanden zu machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/434>, abgerufen am 27.12.2024.