Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Die naturalistische Schule in Deutschland. Namentlich wird diese Unsicherheit der naturalistischen Lyrik gegenüber an
*) Soll vermutlich heißen "ersäufe."
Die naturalistische Schule in Deutschland. Namentlich wird diese Unsicherheit der naturalistischen Lyrik gegenüber an
*) Soll vermutlich heißen „ersäufe."
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0432" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198498"/> <fw type="header" place="top"> Die naturalistische Schule in Deutschland.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1255" next="#ID_1256"> Namentlich wird diese Unsicherheit der naturalistischen Lyrik gegenüber an<lb/> den Tag gelegt. Die bloße Existenz einer solchen Lyrik steht im Wider¬<lb/> sprüche mit dem ganzen Prinzip, nach welchem überhaupt nnr die Prosa ein<lb/> Existenzrecht in der modernen Literatur hat, doch kann man sich mit dem Ge¬<lb/> danken trösten, daß diese Lyrik eine jener Kinderkrankheiten sei, denen ja auch der<lb/> tüchtigste Junge nicht völlig entgeht. Auch Henrik Ibsen, der einst eine Reihe<lb/> der schönsten norwegischen Gedichte geschrieben, blickt heute auf dieselben als auf<lb/> unreife Jngendrcguugen herab. Ob die deutschen Apostel der naturalistischen<lb/> Weltliteratur diese Selbstverleugnung besitzen werden, wagen wir nicht voraus¬<lb/> zusagen, einstweilen loben sie in ihren Versen sich selbst und einander zu<lb/> viel, um große Hoffnungen darauf zu erwecken. Genau genommen müßte sich<lb/> die naturalistische Lyrik, wenn sie wirklich nur „neue" Töne (was man denn so<lb/> neu zu nennen beliebt) anschlagen will, große Einschränkungen auferlegen. Doch<lb/> zeigen sich die meisten ihrer Vertreter nicht so grausam gegen die eigne Phan¬<lb/> tasie und die eignen Stimmungen. In dem Lyrischen Tagebuch von Karl<lb/> Bleibtreu (Berlin, Steinitz und Fischer), in der Sammlung Aus tiefster<lb/> Seele vou Wilhelm Arme (mit einem Gcleitswvrt von H. Conradi; Berlin,<lb/> Kankas) und in einigen andern Erzeugnissen finden sich genug Gedichte, und<lb/> nebenbei sogar schöne Gedichte, welche der verachteten Poesie der „Wonnebruuzler,<lb/> Feigcnblättler" recht nahe verwandt sind. Dies beweist nur, daß die ursprüng¬<lb/> liche Anlage der Dichter eine gute, ihre poetische Empfindung eine teilweise un-<lb/> verkünstelte, uicht überhitzte, übersteigerte war, daß neben der Trunkenheit pan-<lb/> theistischer Phrasen und revolutionärer Tiraden auch gesunde Leidenschaft,<lb/> Herzenswürme, ehrlicher Anteil an Glück und Leid in ihnen vorhanden und<lb/> wirksam sind. Wer leugnet das? Aber was beweist es für den Ton, in dem sich<lb/> die Herren da gefallen, wo sie sich ganz eigentümlich, ganz groß dünken? Ohne<lb/> geschmacklose Ausfälle wider die Dichter, die sich erkühnt haben, vor den Natu¬<lb/> ralisten zu singen (Ausfälle, welche nicht schlechter, aber wahrhaftig mich nicht<lb/> besser sind als die Pöbelhaftigkeiten, mit denen vor fünfundvierzig Jahren die<lb/> politischen Dichter gegen alle nichtpolitischen Lyriker zu Felde zogen), geht es<lb/> natürlich nicht ab. Das im Conradi-Bohueschen Faschingsbrevicr enthaltene<lb/> Gedicht „An den guten Mond" drückt die freundliche Grundgesinnung der mo¬<lb/> dernen Stürmer sehr drastisch aus:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_8" type="poem"> <l><cb type="start"/> Seh' ich nicht noch immer Pinsel<lb/> Stehn an Vabyloniens Fluß?<lb/> Geht nicht immer noch ihr Gewinsel<lb/> Nach romantischem Zauberkuß? Strahlt nicht immer noch dein „Frieden"<lb/> In ihr stilles Knmmcrleiu? <cb/> Flöße den Welt- und Lebensmüden<lb/> Impotente Sehnsucht ein?<lb/> Daß sie all der Henker hole!<lb/> Daß die Dilettautenbrut<lb/> Doch ersticke ihr Gejohle,<lb/> Doch ersoff'ihrer Verse Flut! <cb type="end"/> </l> </lg> </quote><lb/> <note xml:id="FID_48" place="foot"> *) Soll vermutlich heißen „ersäufe."</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0432]
Die naturalistische Schule in Deutschland.
Namentlich wird diese Unsicherheit der naturalistischen Lyrik gegenüber an
den Tag gelegt. Die bloße Existenz einer solchen Lyrik steht im Wider¬
sprüche mit dem ganzen Prinzip, nach welchem überhaupt nnr die Prosa ein
Existenzrecht in der modernen Literatur hat, doch kann man sich mit dem Ge¬
danken trösten, daß diese Lyrik eine jener Kinderkrankheiten sei, denen ja auch der
tüchtigste Junge nicht völlig entgeht. Auch Henrik Ibsen, der einst eine Reihe
der schönsten norwegischen Gedichte geschrieben, blickt heute auf dieselben als auf
unreife Jngendrcguugen herab. Ob die deutschen Apostel der naturalistischen
Weltliteratur diese Selbstverleugnung besitzen werden, wagen wir nicht voraus¬
zusagen, einstweilen loben sie in ihren Versen sich selbst und einander zu
viel, um große Hoffnungen darauf zu erwecken. Genau genommen müßte sich
die naturalistische Lyrik, wenn sie wirklich nur „neue" Töne (was man denn so
neu zu nennen beliebt) anschlagen will, große Einschränkungen auferlegen. Doch
zeigen sich die meisten ihrer Vertreter nicht so grausam gegen die eigne Phan¬
tasie und die eignen Stimmungen. In dem Lyrischen Tagebuch von Karl
Bleibtreu (Berlin, Steinitz und Fischer), in der Sammlung Aus tiefster
Seele vou Wilhelm Arme (mit einem Gcleitswvrt von H. Conradi; Berlin,
Kankas) und in einigen andern Erzeugnissen finden sich genug Gedichte, und
nebenbei sogar schöne Gedichte, welche der verachteten Poesie der „Wonnebruuzler,
Feigcnblättler" recht nahe verwandt sind. Dies beweist nur, daß die ursprüng¬
liche Anlage der Dichter eine gute, ihre poetische Empfindung eine teilweise un-
verkünstelte, uicht überhitzte, übersteigerte war, daß neben der Trunkenheit pan-
theistischer Phrasen und revolutionärer Tiraden auch gesunde Leidenschaft,
Herzenswürme, ehrlicher Anteil an Glück und Leid in ihnen vorhanden und
wirksam sind. Wer leugnet das? Aber was beweist es für den Ton, in dem sich
die Herren da gefallen, wo sie sich ganz eigentümlich, ganz groß dünken? Ohne
geschmacklose Ausfälle wider die Dichter, die sich erkühnt haben, vor den Natu¬
ralisten zu singen (Ausfälle, welche nicht schlechter, aber wahrhaftig mich nicht
besser sind als die Pöbelhaftigkeiten, mit denen vor fünfundvierzig Jahren die
politischen Dichter gegen alle nichtpolitischen Lyriker zu Felde zogen), geht es
natürlich nicht ab. Das im Conradi-Bohueschen Faschingsbrevicr enthaltene
Gedicht „An den guten Mond" drückt die freundliche Grundgesinnung der mo¬
dernen Stürmer sehr drastisch aus:
Seh' ich nicht noch immer Pinsel
Stehn an Vabyloniens Fluß?
Geht nicht immer noch ihr Gewinsel
Nach romantischem Zauberkuß? Strahlt nicht immer noch dein „Frieden"
In ihr stilles Knmmcrleiu?
Flöße den Welt- und Lebensmüden
Impotente Sehnsucht ein?
Daß sie all der Henker hole!
Daß die Dilettautenbrut
Doch ersticke ihr Gejohle,
Doch ersoff'ihrer Verse Flut!
*) Soll vermutlich heißen „ersäufe."
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