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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Hie naturalistische Schule in Deutschland.

Weil sie natürlich, naturgemäß, naturbedingt ist. Alles Natürliche hat aber die
relativ größte Lebensfähigkeit, besitzt immanente Dauerkräfte. Diese Einheitlichkeit
wird aber zumeist dnrch eine vergeistigte Kombination aller das betreffende
Motiv charakterisirenden Wesenselemente gewonnen. Zu letzterm wird in sehr
vielen Fällen auch das sexuelle Moment gehören. Dasselbe °aus Prüderie, aus
smiktionirter Anständigkeit nicht zu berücksichtigen, bedeutet also einfach ein Ver¬
gehen an natürlichen Knnstgesetzen."

Da muß man denu nun wieder mit Gretchen sagen: "Wenn mans so Hort,
mondes leidlich scheinen, steht aber doch immer schief darum." Was in der Theorie
"leidlich" scheint, wird in der Praxis unleidlich, denn es erweist sich, daß für
diese Schriftsteller das "sexuelle Moment" nicht eines der "das Motiv charak¬
terisirenden Wesenselemeute." sondern schlechthin das einzige, das Ein und Alles
ist. Und in welcher Art gewinnt das sexuelle Element in Herrn Conradis
"Brutalitäten" Gestalt! Es ist einfach ein unwürdiges Spiel, in einer Vorrede
ernsthafte Kunstfragen ernsthaft anfzuwerfe", um dann in Nachtstücken wie
Vieisti ^xuroäito, "In der Gewitternacht" und "Blut, eine Szene nach der
Natur" die ekelerregendsten Widerwärtigkeiten breit auszumalen. Was ist es
für eine Phantasie, die einen jämmerlichen Alltagsmenschen dadurch aufbauscht,
daß sie ihn in demselben Augenblick, wo er seiner Geliebten abschmeichelt, sich
mit ihm in sein Bett zu legen, sein "Ehrenwort" geben läßt, daß er sie nicht
berühren will, sehr natürlicherweise dies Ehrenwort bricht und wahrscheinlich
brechen würde, wenn auch kein Gewitter hinzukäme, und dann an der Seite der
Armen darüber meditirt, ob er gebrochnen Ehrenwortes halber einen Schuß
Pulver an sich wenden dürfe und müsse! Welch eine Phantasie ist es, die in
der letzten "Studie" des Buches den Helden zwischen eine Dirne, welche sich in
seinem Zimmer einnistet und daselbst entkleidet, und zwischen das Sterbebett einer
greisen, armen Mutter stellt und besagten Helden unter den denkbar widrigsten
Umständen, statt seiner Mutter den Todesschweiß abzutrocknen und den letzten
Kuß zu geben, sich in die Arme der Dirne stürzen läßt. Es ist einfach unmöglich,
die ganze Brutalität oder vielmehr Bestialität des Vorganges wiederzugeben;
durch das verlogne Pathos, welches hineingemischt wird, steigert sich die ehuische
Rohheit der Schilderung zum Unerträglichen.

Und hier ist es, wo wir sagen müssen, daß sich die Naturalisten einer be¬
wußten Heuchelei schuldig machen. Sie, die überall gegen die heuchlerische Tugend
der modernen Kultur Protestiren, die sich unablässig auf die "Wahrheit" be¬
rufen, heucheln, wenn sie Bilder und Skizzen, welche sich im Grund und Kern
nur an die Platte Gemeinheit wenden, durch eingestreute aphoristische Redens¬
arten, durch angebliche Ausblicke auf Natur und Gesellschaft zu idealisiren ver¬
suchen. Gewiß, es sind noch zehnmal schmutzigere, frechere und unserthalben
auch stupidere Bücher gedruckt worden als diese Skizzen, und vom Marquis
de sate und ähnlichen Geistern können die Herren in Berlin noch viel lernen.


Hie naturalistische Schule in Deutschland.

Weil sie natürlich, naturgemäß, naturbedingt ist. Alles Natürliche hat aber die
relativ größte Lebensfähigkeit, besitzt immanente Dauerkräfte. Diese Einheitlichkeit
wird aber zumeist dnrch eine vergeistigte Kombination aller das betreffende
Motiv charakterisirenden Wesenselemente gewonnen. Zu letzterm wird in sehr
vielen Fällen auch das sexuelle Moment gehören. Dasselbe °aus Prüderie, aus
smiktionirter Anständigkeit nicht zu berücksichtigen, bedeutet also einfach ein Ver¬
gehen an natürlichen Knnstgesetzen."

Da muß man denu nun wieder mit Gretchen sagen: „Wenn mans so Hort,
mondes leidlich scheinen, steht aber doch immer schief darum." Was in der Theorie
„leidlich" scheint, wird in der Praxis unleidlich, denn es erweist sich, daß für
diese Schriftsteller das „sexuelle Moment" nicht eines der „das Motiv charak¬
terisirenden Wesenselemeute." sondern schlechthin das einzige, das Ein und Alles
ist. Und in welcher Art gewinnt das sexuelle Element in Herrn Conradis
„Brutalitäten" Gestalt! Es ist einfach ein unwürdiges Spiel, in einer Vorrede
ernsthafte Kunstfragen ernsthaft anfzuwerfe», um dann in Nachtstücken wie
Vieisti ^xuroäito, „In der Gewitternacht" und „Blut, eine Szene nach der
Natur" die ekelerregendsten Widerwärtigkeiten breit auszumalen. Was ist es
für eine Phantasie, die einen jämmerlichen Alltagsmenschen dadurch aufbauscht,
daß sie ihn in demselben Augenblick, wo er seiner Geliebten abschmeichelt, sich
mit ihm in sein Bett zu legen, sein „Ehrenwort" geben läßt, daß er sie nicht
berühren will, sehr natürlicherweise dies Ehrenwort bricht und wahrscheinlich
brechen würde, wenn auch kein Gewitter hinzukäme, und dann an der Seite der
Armen darüber meditirt, ob er gebrochnen Ehrenwortes halber einen Schuß
Pulver an sich wenden dürfe und müsse! Welch eine Phantasie ist es, die in
der letzten „Studie" des Buches den Helden zwischen eine Dirne, welche sich in
seinem Zimmer einnistet und daselbst entkleidet, und zwischen das Sterbebett einer
greisen, armen Mutter stellt und besagten Helden unter den denkbar widrigsten
Umständen, statt seiner Mutter den Todesschweiß abzutrocknen und den letzten
Kuß zu geben, sich in die Arme der Dirne stürzen läßt. Es ist einfach unmöglich,
die ganze Brutalität oder vielmehr Bestialität des Vorganges wiederzugeben;
durch das verlogne Pathos, welches hineingemischt wird, steigert sich die ehuische
Rohheit der Schilderung zum Unerträglichen.

Und hier ist es, wo wir sagen müssen, daß sich die Naturalisten einer be¬
wußten Heuchelei schuldig machen. Sie, die überall gegen die heuchlerische Tugend
der modernen Kultur Protestiren, die sich unablässig auf die „Wahrheit" be¬
rufen, heucheln, wenn sie Bilder und Skizzen, welche sich im Grund und Kern
nur an die Platte Gemeinheit wenden, durch eingestreute aphoristische Redens¬
arten, durch angebliche Ausblicke auf Natur und Gesellschaft zu idealisiren ver¬
suchen. Gewiß, es sind noch zehnmal schmutzigere, frechere und unserthalben
auch stupidere Bücher gedruckt worden als diese Skizzen, und vom Marquis
de sate und ähnlichen Geistern können die Herren in Berlin noch viel lernen.


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[0429] Hie naturalistische Schule in Deutschland. Weil sie natürlich, naturgemäß, naturbedingt ist. Alles Natürliche hat aber die relativ größte Lebensfähigkeit, besitzt immanente Dauerkräfte. Diese Einheitlichkeit wird aber zumeist dnrch eine vergeistigte Kombination aller das betreffende Motiv charakterisirenden Wesenselemente gewonnen. Zu letzterm wird in sehr vielen Fällen auch das sexuelle Moment gehören. Dasselbe °aus Prüderie, aus smiktionirter Anständigkeit nicht zu berücksichtigen, bedeutet also einfach ein Ver¬ gehen an natürlichen Knnstgesetzen." Da muß man denu nun wieder mit Gretchen sagen: „Wenn mans so Hort, mondes leidlich scheinen, steht aber doch immer schief darum." Was in der Theorie „leidlich" scheint, wird in der Praxis unleidlich, denn es erweist sich, daß für diese Schriftsteller das „sexuelle Moment" nicht eines der „das Motiv charak¬ terisirenden Wesenselemeute." sondern schlechthin das einzige, das Ein und Alles ist. Und in welcher Art gewinnt das sexuelle Element in Herrn Conradis „Brutalitäten" Gestalt! Es ist einfach ein unwürdiges Spiel, in einer Vorrede ernsthafte Kunstfragen ernsthaft anfzuwerfe», um dann in Nachtstücken wie Vieisti ^xuroäito, „In der Gewitternacht" und „Blut, eine Szene nach der Natur" die ekelerregendsten Widerwärtigkeiten breit auszumalen. Was ist es für eine Phantasie, die einen jämmerlichen Alltagsmenschen dadurch aufbauscht, daß sie ihn in demselben Augenblick, wo er seiner Geliebten abschmeichelt, sich mit ihm in sein Bett zu legen, sein „Ehrenwort" geben läßt, daß er sie nicht berühren will, sehr natürlicherweise dies Ehrenwort bricht und wahrscheinlich brechen würde, wenn auch kein Gewitter hinzukäme, und dann an der Seite der Armen darüber meditirt, ob er gebrochnen Ehrenwortes halber einen Schuß Pulver an sich wenden dürfe und müsse! Welch eine Phantasie ist es, die in der letzten „Studie" des Buches den Helden zwischen eine Dirne, welche sich in seinem Zimmer einnistet und daselbst entkleidet, und zwischen das Sterbebett einer greisen, armen Mutter stellt und besagten Helden unter den denkbar widrigsten Umständen, statt seiner Mutter den Todesschweiß abzutrocknen und den letzten Kuß zu geben, sich in die Arme der Dirne stürzen läßt. Es ist einfach unmöglich, die ganze Brutalität oder vielmehr Bestialität des Vorganges wiederzugeben; durch das verlogne Pathos, welches hineingemischt wird, steigert sich die ehuische Rohheit der Schilderung zum Unerträglichen. Und hier ist es, wo wir sagen müssen, daß sich die Naturalisten einer be¬ wußten Heuchelei schuldig machen. Sie, die überall gegen die heuchlerische Tugend der modernen Kultur Protestiren, die sich unablässig auf die „Wahrheit" be¬ rufen, heucheln, wenn sie Bilder und Skizzen, welche sich im Grund und Kern nur an die Platte Gemeinheit wenden, durch eingestreute aphoristische Redens¬ arten, durch angebliche Ausblicke auf Natur und Gesellschaft zu idealisiren ver¬ suchen. Gewiß, es sind noch zehnmal schmutzigere, frechere und unserthalben auch stupidere Bücher gedruckt worden als diese Skizzen, und vom Marquis de sate und ähnlichen Geistern können die Herren in Berlin noch viel lernen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/429>, abgerufen am 29.12.2024.