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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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haben wir bei der Charakteristik des streitenden Naturalismus zunächst beiseite
zu lassen, es wird später zu erörtern sein, wie das Prinzip auf ihre Schöpfungs-
kraft gewirkt und welche Richtung es ihrer Beobachtung gegeben hat. Auch
hat es den Anschein, als ob diese Naturalisten zwar nnter der Schule geduldet,
aber der engsten Tafelrunde nicht zugezählt würden. Um Aufnahme in dieser
zu finden, ist der vvraugcgangne Fehdebrief an die idealistische Lüge, die
"honette Schurkerei" offenbar unerläßlich. Die "Jugend," welche sich ans den
"Trümmern von Pompeji" breit niederzusetzen und poetisch auszuleben gedenkt,
sieht mit verzeihlicher Ungeduld die Zeit bis zum großen Umsturz sich verlängern
und kann im allgemeinen die Geduld nicht aufbringen, welche die obengenannten
Schriftsteller in größern Kompositionen und verhältnismüßig sorgfältiger De-
taillirung bewähren. Das eigentlich "geistig scharfzähnige Jungdeutschland," in
dem "jedwede Maulkörberei verpönt ist" (Vorwort zum "Faschiugsbrevier" von
Johannes Bohne und Hermann Conradi) bethätigt sich vor allem in Vorreden
und gewaltigen Ankündigungen, welche sich ausnehmen wie große tragische
Masken ans einem Pygmüenleibe. Das Meister- und Musterstück in dieser
Beziehung ist die Vorrede zu einem (im Vcrlagsmagazin von I. Schabelitz in
Zürich, einer Verlagsbuchhandlung, welche den widrigsten Unflätereien neben den
Auslassungen der Sozialdemokratie bereitwillig Unterkunft gewährt, gedruckten)
Büchlein, das sich zwar ehrlich Brutalitäten nennt, aber noch zutreffender
"Bestialitäten" heißen könnte. "Im Verhältnis zu dem, was ich in nächster
Zeit noch zu schaffen gedenke, besitzen die vorliegenden Skizzen nur eine sehr
untergeordnete Bedeutung," sagt der Verfasser Hermann Conradi. Dennoch
verkündet er zu gleicher Zeit emphatisch: "Diese ersten Skizzen sind Versuche,
Präludien zu Studien nud Werken, in denen ein realistisches Kunstkönnen -- ich
wähle absichtlich diesen Ausdruck -- sich mit Frage" und Symptomen des
modernen Lebens befassen wird. Unser zeitgenössisches Leben bedeutet allerdings
ein so buntes, sinnverwirrendes Durcheinander, daß sich einheitliche Kolossal¬
gemälde nicht schaffen lassen. Da heißt es denn die Hauptstrvmungen gruppen¬
weise zu konzentriren und drum und dran Typen und Charaktere, charakteristische
Szenen und Zeitgebildc zu schildern. Und das alles mit dem Mute und der
Kraft der Wahrheit. j Mut und Kraft der Wahrheit erscheint in sämtlichen
Ankündigungen dieser Art gesperrt gedruckt.^ Und um nehme man unsre Zeit! Und
nun stelle sich ein künstlerisch veranlagter (ver-!) Mensch in die Wirbel und Strudel
der moderne" Zeit, die offenkundiger Indizien nach eine Zeit der Zersetzung,
der Vorbereitung, des Überganges ist. Das den Markt (!) allenthalben be¬
herrschende soziale Moment wird sofort mit seinen Problemen und Konflikten
an ihn herantreten. Nun heißt es dasselbe mit allen Chikanen (!) zu studiren.
Und dann nach künstlerischen Gesetzen, ohne Voreingenommenheit, ohne Willkür,
mit künstlerischer Einseitigkeit, zum Ausdruck zu bringen. Diese Einheit, Ein¬
heitlichkeit ist das wichtigste künstlerische Gesetz. Sie ist so stark zu betonen,


haben wir bei der Charakteristik des streitenden Naturalismus zunächst beiseite
zu lassen, es wird später zu erörtern sein, wie das Prinzip auf ihre Schöpfungs-
kraft gewirkt und welche Richtung es ihrer Beobachtung gegeben hat. Auch
hat es den Anschein, als ob diese Naturalisten zwar nnter der Schule geduldet,
aber der engsten Tafelrunde nicht zugezählt würden. Um Aufnahme in dieser
zu finden, ist der vvraugcgangne Fehdebrief an die idealistische Lüge, die
„honette Schurkerei" offenbar unerläßlich. Die „Jugend," welche sich ans den
„Trümmern von Pompeji" breit niederzusetzen und poetisch auszuleben gedenkt,
sieht mit verzeihlicher Ungeduld die Zeit bis zum großen Umsturz sich verlängern
und kann im allgemeinen die Geduld nicht aufbringen, welche die obengenannten
Schriftsteller in größern Kompositionen und verhältnismüßig sorgfältiger De-
taillirung bewähren. Das eigentlich „geistig scharfzähnige Jungdeutschland," in
dem „jedwede Maulkörberei verpönt ist" (Vorwort zum „Faschiugsbrevier" von
Johannes Bohne und Hermann Conradi) bethätigt sich vor allem in Vorreden
und gewaltigen Ankündigungen, welche sich ausnehmen wie große tragische
Masken ans einem Pygmüenleibe. Das Meister- und Musterstück in dieser
Beziehung ist die Vorrede zu einem (im Vcrlagsmagazin von I. Schabelitz in
Zürich, einer Verlagsbuchhandlung, welche den widrigsten Unflätereien neben den
Auslassungen der Sozialdemokratie bereitwillig Unterkunft gewährt, gedruckten)
Büchlein, das sich zwar ehrlich Brutalitäten nennt, aber noch zutreffender
„Bestialitäten" heißen könnte. „Im Verhältnis zu dem, was ich in nächster
Zeit noch zu schaffen gedenke, besitzen die vorliegenden Skizzen nur eine sehr
untergeordnete Bedeutung," sagt der Verfasser Hermann Conradi. Dennoch
verkündet er zu gleicher Zeit emphatisch: „Diese ersten Skizzen sind Versuche,
Präludien zu Studien nud Werken, in denen ein realistisches Kunstkönnen — ich
wähle absichtlich diesen Ausdruck — sich mit Frage» und Symptomen des
modernen Lebens befassen wird. Unser zeitgenössisches Leben bedeutet allerdings
ein so buntes, sinnverwirrendes Durcheinander, daß sich einheitliche Kolossal¬
gemälde nicht schaffen lassen. Da heißt es denn die Hauptstrvmungen gruppen¬
weise zu konzentriren und drum und dran Typen und Charaktere, charakteristische
Szenen und Zeitgebildc zu schildern. Und das alles mit dem Mute und der
Kraft der Wahrheit. j Mut und Kraft der Wahrheit erscheint in sämtlichen
Ankündigungen dieser Art gesperrt gedruckt.^ Und um nehme man unsre Zeit! Und
nun stelle sich ein künstlerisch veranlagter (ver-!) Mensch in die Wirbel und Strudel
der moderne» Zeit, die offenkundiger Indizien nach eine Zeit der Zersetzung,
der Vorbereitung, des Überganges ist. Das den Markt (!) allenthalben be¬
herrschende soziale Moment wird sofort mit seinen Problemen und Konflikten
an ihn herantreten. Nun heißt es dasselbe mit allen Chikanen (!) zu studiren.
Und dann nach künstlerischen Gesetzen, ohne Voreingenommenheit, ohne Willkür,
mit künstlerischer Einseitigkeit, zum Ausdruck zu bringen. Diese Einheit, Ein¬
heitlichkeit ist das wichtigste künstlerische Gesetz. Sie ist so stark zu betonen,


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[0428] haben wir bei der Charakteristik des streitenden Naturalismus zunächst beiseite zu lassen, es wird später zu erörtern sein, wie das Prinzip auf ihre Schöpfungs- kraft gewirkt und welche Richtung es ihrer Beobachtung gegeben hat. Auch hat es den Anschein, als ob diese Naturalisten zwar nnter der Schule geduldet, aber der engsten Tafelrunde nicht zugezählt würden. Um Aufnahme in dieser zu finden, ist der vvraugcgangne Fehdebrief an die idealistische Lüge, die „honette Schurkerei" offenbar unerläßlich. Die „Jugend," welche sich ans den „Trümmern von Pompeji" breit niederzusetzen und poetisch auszuleben gedenkt, sieht mit verzeihlicher Ungeduld die Zeit bis zum großen Umsturz sich verlängern und kann im allgemeinen die Geduld nicht aufbringen, welche die obengenannten Schriftsteller in größern Kompositionen und verhältnismüßig sorgfältiger De- taillirung bewähren. Das eigentlich „geistig scharfzähnige Jungdeutschland," in dem „jedwede Maulkörberei verpönt ist" (Vorwort zum „Faschiugsbrevier" von Johannes Bohne und Hermann Conradi) bethätigt sich vor allem in Vorreden und gewaltigen Ankündigungen, welche sich ausnehmen wie große tragische Masken ans einem Pygmüenleibe. Das Meister- und Musterstück in dieser Beziehung ist die Vorrede zu einem (im Vcrlagsmagazin von I. Schabelitz in Zürich, einer Verlagsbuchhandlung, welche den widrigsten Unflätereien neben den Auslassungen der Sozialdemokratie bereitwillig Unterkunft gewährt, gedruckten) Büchlein, das sich zwar ehrlich Brutalitäten nennt, aber noch zutreffender „Bestialitäten" heißen könnte. „Im Verhältnis zu dem, was ich in nächster Zeit noch zu schaffen gedenke, besitzen die vorliegenden Skizzen nur eine sehr untergeordnete Bedeutung," sagt der Verfasser Hermann Conradi. Dennoch verkündet er zu gleicher Zeit emphatisch: „Diese ersten Skizzen sind Versuche, Präludien zu Studien nud Werken, in denen ein realistisches Kunstkönnen — ich wähle absichtlich diesen Ausdruck — sich mit Frage» und Symptomen des modernen Lebens befassen wird. Unser zeitgenössisches Leben bedeutet allerdings ein so buntes, sinnverwirrendes Durcheinander, daß sich einheitliche Kolossal¬ gemälde nicht schaffen lassen. Da heißt es denn die Hauptstrvmungen gruppen¬ weise zu konzentriren und drum und dran Typen und Charaktere, charakteristische Szenen und Zeitgebildc zu schildern. Und das alles mit dem Mute und der Kraft der Wahrheit. j Mut und Kraft der Wahrheit erscheint in sämtlichen Ankündigungen dieser Art gesperrt gedruckt.^ Und um nehme man unsre Zeit! Und nun stelle sich ein künstlerisch veranlagter (ver-!) Mensch in die Wirbel und Strudel der moderne» Zeit, die offenkundiger Indizien nach eine Zeit der Zersetzung, der Vorbereitung, des Überganges ist. Das den Markt (!) allenthalben be¬ herrschende soziale Moment wird sofort mit seinen Problemen und Konflikten an ihn herantreten. Nun heißt es dasselbe mit allen Chikanen (!) zu studiren. Und dann nach künstlerischen Gesetzen, ohne Voreingenommenheit, ohne Willkür, mit künstlerischer Einseitigkeit, zum Ausdruck zu bringen. Diese Einheit, Ein¬ heitlichkeit ist das wichtigste künstlerische Gesetz. Sie ist so stark zu betonen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/428>, abgerufen am 02.07.2024.