Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Lehren ein Geschäft machen. Wenn sie sich uns wirklich in das Lehramt ein¬
drängen sollten (durch Agitation des Abgeordnetenhauses), so würde ich lieber
mein Ministerium aufgeben" (I, 228). Dagegen machte der Minister einen
Unterschied zwischen Christentum und Kirche, der Wiese nicht zusagte. Wiese
scheint den Grund der Differenz darin zu suchen, daß Bethmann-Hollweg die
Kirche als freie christliche Gemeinschaft, nicht als Institution auffaßte. Für
Vilmar, Stahl und ähnlich gestellte Theologen hatte die "Institution" aller¬
dings große Bedeutung, eben deswegen nähern sie sich den Katholiken, sür die an
der Kirche das in8tiwwrn alles ist. Für die Evangelischen ist die Kirche beides,
einmal eine oong'rog'g.dio 8g.ne>t,orvmr, aber auch eine Institution in Predigt und
Sakrament, freilich eine Institution lluuuwi M-is. Es ist interessant, zu sehen,
wie sich im Christentnme der lebendige Geist lange Zeit gegen das Überwuchern
der "Institution" wehrt, ganz im Sinne des Erlösers; fast noch merkwürdiger,
wie verhältnismäßig jung auch die jüdische vorbildlich gewordne Form der
"Kirche" ist; denn der ganze Priesterkodex wird wenigstens von den besten
Forschern als nachexilisch angesehen. Aber die ganze Sache scheint in unserm
Zusammenhange nicht viel Bedeutung zu haben. Einfach gesagt wollte der
Minister nach der Verfassung zwar den Religionsunterricht der Volksschule von
den Vertretern der Konfessionskirchen leiten oder doch mitleiden lassen; für die
höhern Schulen aber lag die verfassungsmäßige Vorschrift uicht vor. Die General-
superintendenten und Bischöfe hatten zwar in früherer Zeit Einwirkung ans die
Religionsstunden und die Religionslehrer erhalten, aber das war eine nicht un-
aufhebliche Bestimmung. Bethmann-Hollwcg wollte mehr die Persönlichkeit des
in der Konfession aufgewachsenen Lehrers walten lassen und war darin etwas
idealistisch. Eine gewisse Subjektivität der Lehrer war ihm weniger bedenklich,
als eine von außen kvntrolirte Orthodoxie ihm wünschenswert war. Wir
unsrerseits kämpfen gegen die Ansicht, daß die sichtbare Kirche etwas andres
sei als die von den Gläubigen den Bedürfnissen angepaßte Form des religiösen
Zusammenlebens, aber wir können uicht leugnen, daß, auch so gefaßt, die Ver¬
treter der Kirche eine Einwirkung auf jeden Religionsunterricht der Uncr-
wachseuen, auch in den höhern Schulen, haben sollten, im Interesse der Kirche
und der Schule zugleich. Gewiß soll der Staat anch ein Gewissen haben, wenn
die Katholiken das auch leugnen, aber von Konfession hat der moderne Staat
doch zu wenig Kenntnisse. Glücklicherweise wird es auch mehr und mehr an¬
erkannt, daß die kirchlichen Gemeinschaften dem weltlichen Leben gute Dienste
leisten und nicht an sich mit Mißtrauen zu betrachten sind. Bethmann-Hollweg
erklärte viel später brieflich, er habe seinerzeit als Minister beabsichtigte Einzcl-
bestimmungen über den Religionsunterricht "mit Bewußtsein" zurückgehalten.
Er war vermutlich durch Einwirkung Wieses zur Klarheit darüber gekommen,
wie leicht auf diesem schwierigen Gebiete etwas zu verfehlen sei.

Der Minister verabschiedete sich im März 1862 von seinen Räten mit der


Grenzboten II. 1L86 48

Lehren ein Geschäft machen. Wenn sie sich uns wirklich in das Lehramt ein¬
drängen sollten (durch Agitation des Abgeordnetenhauses), so würde ich lieber
mein Ministerium aufgeben" (I, 228). Dagegen machte der Minister einen
Unterschied zwischen Christentum und Kirche, der Wiese nicht zusagte. Wiese
scheint den Grund der Differenz darin zu suchen, daß Bethmann-Hollweg die
Kirche als freie christliche Gemeinschaft, nicht als Institution auffaßte. Für
Vilmar, Stahl und ähnlich gestellte Theologen hatte die „Institution" aller¬
dings große Bedeutung, eben deswegen nähern sie sich den Katholiken, sür die an
der Kirche das in8tiwwrn alles ist. Für die Evangelischen ist die Kirche beides,
einmal eine oong'rog'g.dio 8g.ne>t,orvmr, aber auch eine Institution in Predigt und
Sakrament, freilich eine Institution lluuuwi M-is. Es ist interessant, zu sehen,
wie sich im Christentnme der lebendige Geist lange Zeit gegen das Überwuchern
der „Institution" wehrt, ganz im Sinne des Erlösers; fast noch merkwürdiger,
wie verhältnismäßig jung auch die jüdische vorbildlich gewordne Form der
„Kirche" ist; denn der ganze Priesterkodex wird wenigstens von den besten
Forschern als nachexilisch angesehen. Aber die ganze Sache scheint in unserm
Zusammenhange nicht viel Bedeutung zu haben. Einfach gesagt wollte der
Minister nach der Verfassung zwar den Religionsunterricht der Volksschule von
den Vertretern der Konfessionskirchen leiten oder doch mitleiden lassen; für die
höhern Schulen aber lag die verfassungsmäßige Vorschrift uicht vor. Die General-
superintendenten und Bischöfe hatten zwar in früherer Zeit Einwirkung ans die
Religionsstunden und die Religionslehrer erhalten, aber das war eine nicht un-
aufhebliche Bestimmung. Bethmann-Hollwcg wollte mehr die Persönlichkeit des
in der Konfession aufgewachsenen Lehrers walten lassen und war darin etwas
idealistisch. Eine gewisse Subjektivität der Lehrer war ihm weniger bedenklich,
als eine von außen kvntrolirte Orthodoxie ihm wünschenswert war. Wir
unsrerseits kämpfen gegen die Ansicht, daß die sichtbare Kirche etwas andres
sei als die von den Gläubigen den Bedürfnissen angepaßte Form des religiösen
Zusammenlebens, aber wir können uicht leugnen, daß, auch so gefaßt, die Ver¬
treter der Kirche eine Einwirkung auf jeden Religionsunterricht der Uncr-
wachseuen, auch in den höhern Schulen, haben sollten, im Interesse der Kirche
und der Schule zugleich. Gewiß soll der Staat anch ein Gewissen haben, wenn
die Katholiken das auch leugnen, aber von Konfession hat der moderne Staat
doch zu wenig Kenntnisse. Glücklicherweise wird es auch mehr und mehr an¬
erkannt, daß die kirchlichen Gemeinschaften dem weltlichen Leben gute Dienste
leisten und nicht an sich mit Mißtrauen zu betrachten sind. Bethmann-Hollweg
erklärte viel später brieflich, er habe seinerzeit als Minister beabsichtigte Einzcl-
bestimmungen über den Religionsunterricht „mit Bewußtsein" zurückgehalten.
Er war vermutlich durch Einwirkung Wieses zur Klarheit darüber gekommen,
wie leicht auf diesem schwierigen Gebiete etwas zu verfehlen sei.

Der Minister verabschiedete sich im März 1862 von seinen Räten mit der


Grenzboten II. 1L86 48
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198451"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1117" prev="#ID_1116"> Lehren ein Geschäft machen. Wenn sie sich uns wirklich in das Lehramt ein¬<lb/>
drängen sollten (durch Agitation des Abgeordnetenhauses), so würde ich lieber<lb/>
mein Ministerium aufgeben" (I, 228). Dagegen machte der Minister einen<lb/>
Unterschied zwischen Christentum und Kirche, der Wiese nicht zusagte. Wiese<lb/>
scheint den Grund der Differenz darin zu suchen, daß Bethmann-Hollweg die<lb/>
Kirche als freie christliche Gemeinschaft, nicht als Institution auffaßte. Für<lb/>
Vilmar, Stahl und ähnlich gestellte Theologen hatte die &#x201E;Institution" aller¬<lb/>
dings große Bedeutung, eben deswegen nähern sie sich den Katholiken, sür die an<lb/>
der Kirche das in8tiwwrn alles ist. Für die Evangelischen ist die Kirche beides,<lb/>
einmal eine oong'rog'g.dio 8g.ne&gt;t,orvmr, aber auch eine Institution in Predigt und<lb/>
Sakrament, freilich eine Institution lluuuwi M-is. Es ist interessant, zu sehen,<lb/>
wie sich im Christentnme der lebendige Geist lange Zeit gegen das Überwuchern<lb/>
der &#x201E;Institution" wehrt, ganz im Sinne des Erlösers; fast noch merkwürdiger,<lb/>
wie verhältnismäßig jung auch die jüdische vorbildlich gewordne Form der<lb/>
&#x201E;Kirche" ist; denn der ganze Priesterkodex wird wenigstens von den besten<lb/>
Forschern als nachexilisch angesehen. Aber die ganze Sache scheint in unserm<lb/>
Zusammenhange nicht viel Bedeutung zu haben. Einfach gesagt wollte der<lb/>
Minister nach der Verfassung zwar den Religionsunterricht der Volksschule von<lb/>
den Vertretern der Konfessionskirchen leiten oder doch mitleiden lassen; für die<lb/>
höhern Schulen aber lag die verfassungsmäßige Vorschrift uicht vor. Die General-<lb/>
superintendenten und Bischöfe hatten zwar in früherer Zeit Einwirkung ans die<lb/>
Religionsstunden und die Religionslehrer erhalten, aber das war eine nicht un-<lb/>
aufhebliche Bestimmung. Bethmann-Hollwcg wollte mehr die Persönlichkeit des<lb/>
in der Konfession aufgewachsenen Lehrers walten lassen und war darin etwas<lb/>
idealistisch. Eine gewisse Subjektivität der Lehrer war ihm weniger bedenklich,<lb/>
als eine von außen kvntrolirte Orthodoxie ihm wünschenswert war. Wir<lb/>
unsrerseits kämpfen gegen die Ansicht, daß die sichtbare Kirche etwas andres<lb/>
sei als die von den Gläubigen den Bedürfnissen angepaßte Form des religiösen<lb/>
Zusammenlebens, aber wir können uicht leugnen, daß, auch so gefaßt, die Ver¬<lb/>
treter der Kirche eine Einwirkung auf jeden Religionsunterricht der Uncr-<lb/>
wachseuen, auch in den höhern Schulen, haben sollten, im Interesse der Kirche<lb/>
und der Schule zugleich. Gewiß soll der Staat anch ein Gewissen haben, wenn<lb/>
die Katholiken das auch leugnen, aber von Konfession hat der moderne Staat<lb/>
doch zu wenig Kenntnisse. Glücklicherweise wird es auch mehr und mehr an¬<lb/>
erkannt, daß die kirchlichen Gemeinschaften dem weltlichen Leben gute Dienste<lb/>
leisten und nicht an sich mit Mißtrauen zu betrachten sind. Bethmann-Hollweg<lb/>
erklärte viel später brieflich, er habe seinerzeit als Minister beabsichtigte Einzcl-<lb/>
bestimmungen über den Religionsunterricht &#x201E;mit Bewußtsein" zurückgehalten.<lb/>
Er war vermutlich durch Einwirkung Wieses zur Klarheit darüber gekommen,<lb/>
wie leicht auf diesem schwierigen Gebiete etwas zu verfehlen sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1118" next="#ID_1119"> Der Minister verabschiedete sich im März 1862 von seinen Räten mit der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1L86 48</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] Lehren ein Geschäft machen. Wenn sie sich uns wirklich in das Lehramt ein¬ drängen sollten (durch Agitation des Abgeordnetenhauses), so würde ich lieber mein Ministerium aufgeben" (I, 228). Dagegen machte der Minister einen Unterschied zwischen Christentum und Kirche, der Wiese nicht zusagte. Wiese scheint den Grund der Differenz darin zu suchen, daß Bethmann-Hollweg die Kirche als freie christliche Gemeinschaft, nicht als Institution auffaßte. Für Vilmar, Stahl und ähnlich gestellte Theologen hatte die „Institution" aller¬ dings große Bedeutung, eben deswegen nähern sie sich den Katholiken, sür die an der Kirche das in8tiwwrn alles ist. Für die Evangelischen ist die Kirche beides, einmal eine oong'rog'g.dio 8g.ne>t,orvmr, aber auch eine Institution in Predigt und Sakrament, freilich eine Institution lluuuwi M-is. Es ist interessant, zu sehen, wie sich im Christentnme der lebendige Geist lange Zeit gegen das Überwuchern der „Institution" wehrt, ganz im Sinne des Erlösers; fast noch merkwürdiger, wie verhältnismäßig jung auch die jüdische vorbildlich gewordne Form der „Kirche" ist; denn der ganze Priesterkodex wird wenigstens von den besten Forschern als nachexilisch angesehen. Aber die ganze Sache scheint in unserm Zusammenhange nicht viel Bedeutung zu haben. Einfach gesagt wollte der Minister nach der Verfassung zwar den Religionsunterricht der Volksschule von den Vertretern der Konfessionskirchen leiten oder doch mitleiden lassen; für die höhern Schulen aber lag die verfassungsmäßige Vorschrift uicht vor. Die General- superintendenten und Bischöfe hatten zwar in früherer Zeit Einwirkung ans die Religionsstunden und die Religionslehrer erhalten, aber das war eine nicht un- aufhebliche Bestimmung. Bethmann-Hollwcg wollte mehr die Persönlichkeit des in der Konfession aufgewachsenen Lehrers walten lassen und war darin etwas idealistisch. Eine gewisse Subjektivität der Lehrer war ihm weniger bedenklich, als eine von außen kvntrolirte Orthodoxie ihm wünschenswert war. Wir unsrerseits kämpfen gegen die Ansicht, daß die sichtbare Kirche etwas andres sei als die von den Gläubigen den Bedürfnissen angepaßte Form des religiösen Zusammenlebens, aber wir können uicht leugnen, daß, auch so gefaßt, die Ver¬ treter der Kirche eine Einwirkung auf jeden Religionsunterricht der Uncr- wachseuen, auch in den höhern Schulen, haben sollten, im Interesse der Kirche und der Schule zugleich. Gewiß soll der Staat anch ein Gewissen haben, wenn die Katholiken das auch leugnen, aber von Konfession hat der moderne Staat doch zu wenig Kenntnisse. Glücklicherweise wird es auch mehr und mehr an¬ erkannt, daß die kirchlichen Gemeinschaften dem weltlichen Leben gute Dienste leisten und nicht an sich mit Mißtrauen zu betrachten sind. Bethmann-Hollweg erklärte viel später brieflich, er habe seinerzeit als Minister beabsichtigte Einzcl- bestimmungen über den Religionsunterricht „mit Bewußtsein" zurückgehalten. Er war vermutlich durch Einwirkung Wieses zur Klarheit darüber gekommen, wie leicht auf diesem schwierigen Gebiete etwas zu verfehlen sei. Der Minister verabschiedete sich im März 1862 von seinen Räten mit der Grenzboten II. 1L86 48

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/385
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/385>, abgerufen am 24.07.2024.