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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Ludwig tviese und seine Amtserfahrungen.

wissenschaftliche Befähigung sah. Natürlich konnte sein Verfahren doch zuweilen
als eine Begünstigung frommer Unwissenheit erscheinen, aber es ist notorisch,
daß es Leuten wie Hengstenberg noch viel zu liberal erschien. In dem Gebiete
der Kunst fehlte es dem Minister, wie auch Wiese andeutet, an Interesse und Ver¬
ständnis. Beteiligte Künstler, welche Herrn von Ladenberg, den frühern Minister,
mit Herrn von Raumer vergleichen konnten, wußten von dem Unterschiede viel
zu erzählen, aber bei alledem war doch Raumer ein viel höherstehender Cha¬
rakter.

Sein Nachfolger, Minister von Bethmann-Hollweg (I, S. 202), wird von
Wiese mit derselben objektiven Ruhe gezeichnet, keineswegs mit besondrer Sym¬
pathie. Die Zeit wurde schon mehr politisch erregt, die "neue Ära" fand infolge
der durchschimmernden Militärrevrgnnisation bald statt des anfänglichen Will¬
kommens eine starke Antipathie und wurde noch zur rechten Zeit durch eine
energische "Ära Bismarck" abgelöst. Bethmann-Hollweg hielt es nur drei¬
undeinhalb Jahre aus. Diese kurze Zeit ist aber doch durch mancherlei Wichtiges
im Gebiete des höhern Schulwesens bezeichnet, namentlich fällt die Regelung
des Realschulwesens (6. Oktober I.8S9) in Preußen in diese Zeit; diese Ver¬
ordnung ist berühmt dnrch ihre schöne Form und die umsichtige pädagogische
Betrachtungsweise. Zugleich ist sie ein Beweis, wie das Nealschulwescn durch
den Drang der Zeit über die ursprünglichen Schranken hinausgewachsen ist.
Wiese selbst ist bei aller Liebe zum Gymnasium, gegen seine frühere Auffassung
der Realschule, dafür eingetreten, daß den Realschulen auch die Universitätsstudien
und die entsprechenden Staatsämter offenstehen müßten, auch die Medizin
werde ihnen mit der Zeit nicht verschlossen bleiben können. Er ist eben ein
durchweg dem Bedürfnis der Gesellschaft entgegenkommender, gewissermaßen
moderner Geist. Es liegt uns fern, hier auf die schwierige Frage selbst ein¬
zugehen, zumal da das Stnatsschulwcsen jetzt nicht von Theorien, sondern von
den Parlamenten abhängt, die zwar nicht willkürlich entscheiden, aber doch un¬
berechenbar sind.

In diese liberale Periode fällt auch eine interessante Verhandlung, an der
sich der Kronprinz beteiligte (1860). Ein angesehener Gymnasialprofessor hatte
beantragt, daß die Gymnasien aufhören sollten, die humanistischen Studien als
Hauptsache zu betrachten; Mathematik und Physik sollten vielmehr jetzt die
zentrale Bedeutung in ihnen bekommen. Stundenlang wurde darüber lebhaft
verhandelt. Der Kronprinz erklärte schließlich, auch er könne sich nicht dafür
aussprechen, daß eine so radikale Änderung mit dem Gymnasiallehrplan vor¬
genommen werde. So half er, die absurde Sache zu beseitigen.

Ausführlich erörtert Wiese die Stellung Bethmann-Holllvegs zu Christentum
lind Kirche. Das Verhältnis zum Christentum war bei dem Chef sehr innig.
Wiese führt den Ausruf des Ministers an: "Juden als Lehrer in christlichen
Schulen! nimmermehr! sie würden garnicht anders können, als auch aus dem


Ludwig tviese und seine Amtserfahrungen.

wissenschaftliche Befähigung sah. Natürlich konnte sein Verfahren doch zuweilen
als eine Begünstigung frommer Unwissenheit erscheinen, aber es ist notorisch,
daß es Leuten wie Hengstenberg noch viel zu liberal erschien. In dem Gebiete
der Kunst fehlte es dem Minister, wie auch Wiese andeutet, an Interesse und Ver¬
ständnis. Beteiligte Künstler, welche Herrn von Ladenberg, den frühern Minister,
mit Herrn von Raumer vergleichen konnten, wußten von dem Unterschiede viel
zu erzählen, aber bei alledem war doch Raumer ein viel höherstehender Cha¬
rakter.

Sein Nachfolger, Minister von Bethmann-Hollweg (I, S. 202), wird von
Wiese mit derselben objektiven Ruhe gezeichnet, keineswegs mit besondrer Sym¬
pathie. Die Zeit wurde schon mehr politisch erregt, die „neue Ära" fand infolge
der durchschimmernden Militärrevrgnnisation bald statt des anfänglichen Will¬
kommens eine starke Antipathie und wurde noch zur rechten Zeit durch eine
energische „Ära Bismarck" abgelöst. Bethmann-Hollweg hielt es nur drei¬
undeinhalb Jahre aus. Diese kurze Zeit ist aber doch durch mancherlei Wichtiges
im Gebiete des höhern Schulwesens bezeichnet, namentlich fällt die Regelung
des Realschulwesens (6. Oktober I.8S9) in Preußen in diese Zeit; diese Ver¬
ordnung ist berühmt dnrch ihre schöne Form und die umsichtige pädagogische
Betrachtungsweise. Zugleich ist sie ein Beweis, wie das Nealschulwescn durch
den Drang der Zeit über die ursprünglichen Schranken hinausgewachsen ist.
Wiese selbst ist bei aller Liebe zum Gymnasium, gegen seine frühere Auffassung
der Realschule, dafür eingetreten, daß den Realschulen auch die Universitätsstudien
und die entsprechenden Staatsämter offenstehen müßten, auch die Medizin
werde ihnen mit der Zeit nicht verschlossen bleiben können. Er ist eben ein
durchweg dem Bedürfnis der Gesellschaft entgegenkommender, gewissermaßen
moderner Geist. Es liegt uns fern, hier auf die schwierige Frage selbst ein¬
zugehen, zumal da das Stnatsschulwcsen jetzt nicht von Theorien, sondern von
den Parlamenten abhängt, die zwar nicht willkürlich entscheiden, aber doch un¬
berechenbar sind.

In diese liberale Periode fällt auch eine interessante Verhandlung, an der
sich der Kronprinz beteiligte (1860). Ein angesehener Gymnasialprofessor hatte
beantragt, daß die Gymnasien aufhören sollten, die humanistischen Studien als
Hauptsache zu betrachten; Mathematik und Physik sollten vielmehr jetzt die
zentrale Bedeutung in ihnen bekommen. Stundenlang wurde darüber lebhaft
verhandelt. Der Kronprinz erklärte schließlich, auch er könne sich nicht dafür
aussprechen, daß eine so radikale Änderung mit dem Gymnasiallehrplan vor¬
genommen werde. So half er, die absurde Sache zu beseitigen.

Ausführlich erörtert Wiese die Stellung Bethmann-Holllvegs zu Christentum
lind Kirche. Das Verhältnis zum Christentum war bei dem Chef sehr innig.
Wiese führt den Ausruf des Ministers an: „Juden als Lehrer in christlichen
Schulen! nimmermehr! sie würden garnicht anders können, als auch aus dem


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[0384] Ludwig tviese und seine Amtserfahrungen. wissenschaftliche Befähigung sah. Natürlich konnte sein Verfahren doch zuweilen als eine Begünstigung frommer Unwissenheit erscheinen, aber es ist notorisch, daß es Leuten wie Hengstenberg noch viel zu liberal erschien. In dem Gebiete der Kunst fehlte es dem Minister, wie auch Wiese andeutet, an Interesse und Ver¬ ständnis. Beteiligte Künstler, welche Herrn von Ladenberg, den frühern Minister, mit Herrn von Raumer vergleichen konnten, wußten von dem Unterschiede viel zu erzählen, aber bei alledem war doch Raumer ein viel höherstehender Cha¬ rakter. Sein Nachfolger, Minister von Bethmann-Hollweg (I, S. 202), wird von Wiese mit derselben objektiven Ruhe gezeichnet, keineswegs mit besondrer Sym¬ pathie. Die Zeit wurde schon mehr politisch erregt, die „neue Ära" fand infolge der durchschimmernden Militärrevrgnnisation bald statt des anfänglichen Will¬ kommens eine starke Antipathie und wurde noch zur rechten Zeit durch eine energische „Ära Bismarck" abgelöst. Bethmann-Hollweg hielt es nur drei¬ undeinhalb Jahre aus. Diese kurze Zeit ist aber doch durch mancherlei Wichtiges im Gebiete des höhern Schulwesens bezeichnet, namentlich fällt die Regelung des Realschulwesens (6. Oktober I.8S9) in Preußen in diese Zeit; diese Ver¬ ordnung ist berühmt dnrch ihre schöne Form und die umsichtige pädagogische Betrachtungsweise. Zugleich ist sie ein Beweis, wie das Nealschulwescn durch den Drang der Zeit über die ursprünglichen Schranken hinausgewachsen ist. Wiese selbst ist bei aller Liebe zum Gymnasium, gegen seine frühere Auffassung der Realschule, dafür eingetreten, daß den Realschulen auch die Universitätsstudien und die entsprechenden Staatsämter offenstehen müßten, auch die Medizin werde ihnen mit der Zeit nicht verschlossen bleiben können. Er ist eben ein durchweg dem Bedürfnis der Gesellschaft entgegenkommender, gewissermaßen moderner Geist. Es liegt uns fern, hier auf die schwierige Frage selbst ein¬ zugehen, zumal da das Stnatsschulwcsen jetzt nicht von Theorien, sondern von den Parlamenten abhängt, die zwar nicht willkürlich entscheiden, aber doch un¬ berechenbar sind. In diese liberale Periode fällt auch eine interessante Verhandlung, an der sich der Kronprinz beteiligte (1860). Ein angesehener Gymnasialprofessor hatte beantragt, daß die Gymnasien aufhören sollten, die humanistischen Studien als Hauptsache zu betrachten; Mathematik und Physik sollten vielmehr jetzt die zentrale Bedeutung in ihnen bekommen. Stundenlang wurde darüber lebhaft verhandelt. Der Kronprinz erklärte schließlich, auch er könne sich nicht dafür aussprechen, daß eine so radikale Änderung mit dem Gymnasiallehrplan vor¬ genommen werde. So half er, die absurde Sache zu beseitigen. Ausführlich erörtert Wiese die Stellung Bethmann-Holllvegs zu Christentum lind Kirche. Das Verhältnis zum Christentum war bei dem Chef sehr innig. Wiese führt den Ausruf des Ministers an: „Juden als Lehrer in christlichen Schulen! nimmermehr! sie würden garnicht anders können, als auch aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/384>, abgerufen am 29.12.2024.