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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Zur Kritik des deutschen Strafsystems.

Forscht man den Ursachen dieser Mißstände nach, so ist es jedenfalls nahe¬
liegend, sie in Mängeln des Strafsystems und der Strafvollziehung zu suchen;
nur darf man aus der Verallgemeinerung einzelner Erscheinungen nicht zu weit¬
gehende Schlüsse ziehen wollen, denn sonst gerät man in die Gefahr, der, wie
uns scheint, Schmölder nicht entgangen ist, in dem löblichsten Bestreben des
Guten zu viel zu thun und das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Das deutsche Strafgesetzbuch ist -- dies läßt sich nicht in Abrede stellen --
vom Geiste der Menschlichkeit und von der Rücksicht auf den Bessernngszwcck
durchdrungen. Die Fälle der Todesstrafe sind auf zwei beschränkt; die Herrschaft
der Freiheitsstrafe ist fast unbeschränkt geworden. Beseitigt erscheinen nicht nur
die andern Strafmittel (außer der Geldstrafe), sondern auch Verschärfungen der
Freiheitsstrafe, welche noch die meisten deutschen Partiknlarslrafgesetzbücher kannten,
wie die körperliche Züchtigung, die Anlegung von Ketten, die Einsperrung in
Dunkelarrest u. f. f. Beseitigt ist ferner der wichtigste Unterschied zwischen
Zuchthaus und Gefängnis, indem sowohl ehrlose, als im Besitz der Ehrenrechte
sich befindende Personen in beiden Anstalten untergebracht werden können. Durch
Aufnahme des Instituts der vorläufige" Entlassung ist die Abhängigkeit der
Strafdauer von der Strafthat in Frage gestellt. Endlich ist die Zulässigkeit
der Einzelhaft ausgesprochen, ja in den Motiven als der "richtige Vollstrcckungs-
modus" bezeichnet.

Dieser Vollstrcckungsmodns wurde nun in Deutschland zunächst bei den
langen Strafen in Anwendung gebracht, was Schmölder als verkehrte Maßregel
ansieht. Denn ihm zufolge hätte, solange noch die allgemeine Durchführung
der Einzelhaft sowohl wegen der mit der völligen Umwandlung der Strafan¬
stalten in Zellengefängnisse verbundnen ungeheuern Kosten (die Kosten einer
einzigen Jsolirzelle in deu neuen Zellengefängnissen stellen sich auf vier- bis
fünftausend Mark) als mit Rücksicht ans die vielen dabei in Betracht kommenden
und noch ganz ungelösten theoretischen Fragen sich als unthunlich erweist, die
Einzelhaft in erster Linie, sowie in Frankreich, auf die kurzen Strafen angewendet
werden sollen. Schon von Arnim*) hat die Gefängnisse, in welchen diese Strafen
bei uns vollstreckt werden "Verführungsvepiniercn" genannt, und auch jetzt noch
werden sie von urteilsfähigster Seite als "Pflanzschulen für die Zuchthäuser"^)
und als "Elementarschulen des Lasters""^) bezeichnet, ja der Strnfaustaltsdirektvr
Sichartf) hat das Ergebnis seiner langjährigen Erfahrungen dahin zusammen¬
gefaßt, "daß die Vollstreckung kurzer Strafen, insbesondre gegen die Anfänger
im Diebeshandwerk, gegenwärtig nachteiliger wirke als gänzliche Straflosigkeit."






v. Arnim, Bruchstücke über Verbrechen und Strafe", Berlin 1801.
**) Blätter für Gefängniskunde, Jahrg. 1883, S. 216.
"**) Sichart, RückMigkeit der Verbrecher, Heidelberg 1881, S. 63.
-f) Sichart, a. a. O. S. 42.
Zur Kritik des deutschen Strafsystems.

Forscht man den Ursachen dieser Mißstände nach, so ist es jedenfalls nahe¬
liegend, sie in Mängeln des Strafsystems und der Strafvollziehung zu suchen;
nur darf man aus der Verallgemeinerung einzelner Erscheinungen nicht zu weit¬
gehende Schlüsse ziehen wollen, denn sonst gerät man in die Gefahr, der, wie
uns scheint, Schmölder nicht entgangen ist, in dem löblichsten Bestreben des
Guten zu viel zu thun und das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Das deutsche Strafgesetzbuch ist — dies läßt sich nicht in Abrede stellen —
vom Geiste der Menschlichkeit und von der Rücksicht auf den Bessernngszwcck
durchdrungen. Die Fälle der Todesstrafe sind auf zwei beschränkt; die Herrschaft
der Freiheitsstrafe ist fast unbeschränkt geworden. Beseitigt erscheinen nicht nur
die andern Strafmittel (außer der Geldstrafe), sondern auch Verschärfungen der
Freiheitsstrafe, welche noch die meisten deutschen Partiknlarslrafgesetzbücher kannten,
wie die körperliche Züchtigung, die Anlegung von Ketten, die Einsperrung in
Dunkelarrest u. f. f. Beseitigt ist ferner der wichtigste Unterschied zwischen
Zuchthaus und Gefängnis, indem sowohl ehrlose, als im Besitz der Ehrenrechte
sich befindende Personen in beiden Anstalten untergebracht werden können. Durch
Aufnahme des Instituts der vorläufige» Entlassung ist die Abhängigkeit der
Strafdauer von der Strafthat in Frage gestellt. Endlich ist die Zulässigkeit
der Einzelhaft ausgesprochen, ja in den Motiven als der „richtige Vollstrcckungs-
modus" bezeichnet.

Dieser Vollstrcckungsmodns wurde nun in Deutschland zunächst bei den
langen Strafen in Anwendung gebracht, was Schmölder als verkehrte Maßregel
ansieht. Denn ihm zufolge hätte, solange noch die allgemeine Durchführung
der Einzelhaft sowohl wegen der mit der völligen Umwandlung der Strafan¬
stalten in Zellengefängnisse verbundnen ungeheuern Kosten (die Kosten einer
einzigen Jsolirzelle in deu neuen Zellengefängnissen stellen sich auf vier- bis
fünftausend Mark) als mit Rücksicht ans die vielen dabei in Betracht kommenden
und noch ganz ungelösten theoretischen Fragen sich als unthunlich erweist, die
Einzelhaft in erster Linie, sowie in Frankreich, auf die kurzen Strafen angewendet
werden sollen. Schon von Arnim*) hat die Gefängnisse, in welchen diese Strafen
bei uns vollstreckt werden „Verführungsvepiniercn" genannt, und auch jetzt noch
werden sie von urteilsfähigster Seite als „Pflanzschulen für die Zuchthäuser"^)
und als „Elementarschulen des Lasters""^) bezeichnet, ja der Strnfaustaltsdirektvr
Sichartf) hat das Ergebnis seiner langjährigen Erfahrungen dahin zusammen¬
gefaßt, „daß die Vollstreckung kurzer Strafen, insbesondre gegen die Anfänger
im Diebeshandwerk, gegenwärtig nachteiliger wirke als gänzliche Straflosigkeit."






v. Arnim, Bruchstücke über Verbrechen und Strafe», Berlin 1801.
**) Blätter für Gefängniskunde, Jahrg. 1883, S. 216.
»**) Sichart, RückMigkeit der Verbrecher, Heidelberg 1881, S. 63.
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[0332] Zur Kritik des deutschen Strafsystems. Forscht man den Ursachen dieser Mißstände nach, so ist es jedenfalls nahe¬ liegend, sie in Mängeln des Strafsystems und der Strafvollziehung zu suchen; nur darf man aus der Verallgemeinerung einzelner Erscheinungen nicht zu weit¬ gehende Schlüsse ziehen wollen, denn sonst gerät man in die Gefahr, der, wie uns scheint, Schmölder nicht entgangen ist, in dem löblichsten Bestreben des Guten zu viel zu thun und das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das deutsche Strafgesetzbuch ist — dies läßt sich nicht in Abrede stellen — vom Geiste der Menschlichkeit und von der Rücksicht auf den Bessernngszwcck durchdrungen. Die Fälle der Todesstrafe sind auf zwei beschränkt; die Herrschaft der Freiheitsstrafe ist fast unbeschränkt geworden. Beseitigt erscheinen nicht nur die andern Strafmittel (außer der Geldstrafe), sondern auch Verschärfungen der Freiheitsstrafe, welche noch die meisten deutschen Partiknlarslrafgesetzbücher kannten, wie die körperliche Züchtigung, die Anlegung von Ketten, die Einsperrung in Dunkelarrest u. f. f. Beseitigt ist ferner der wichtigste Unterschied zwischen Zuchthaus und Gefängnis, indem sowohl ehrlose, als im Besitz der Ehrenrechte sich befindende Personen in beiden Anstalten untergebracht werden können. Durch Aufnahme des Instituts der vorläufige» Entlassung ist die Abhängigkeit der Strafdauer von der Strafthat in Frage gestellt. Endlich ist die Zulässigkeit der Einzelhaft ausgesprochen, ja in den Motiven als der „richtige Vollstrcckungs- modus" bezeichnet. Dieser Vollstrcckungsmodns wurde nun in Deutschland zunächst bei den langen Strafen in Anwendung gebracht, was Schmölder als verkehrte Maßregel ansieht. Denn ihm zufolge hätte, solange noch die allgemeine Durchführung der Einzelhaft sowohl wegen der mit der völligen Umwandlung der Strafan¬ stalten in Zellengefängnisse verbundnen ungeheuern Kosten (die Kosten einer einzigen Jsolirzelle in deu neuen Zellengefängnissen stellen sich auf vier- bis fünftausend Mark) als mit Rücksicht ans die vielen dabei in Betracht kommenden und noch ganz ungelösten theoretischen Fragen sich als unthunlich erweist, die Einzelhaft in erster Linie, sowie in Frankreich, auf die kurzen Strafen angewendet werden sollen. Schon von Arnim*) hat die Gefängnisse, in welchen diese Strafen bei uns vollstreckt werden „Verführungsvepiniercn" genannt, und auch jetzt noch werden sie von urteilsfähigster Seite als „Pflanzschulen für die Zuchthäuser"^) und als „Elementarschulen des Lasters""^) bezeichnet, ja der Strnfaustaltsdirektvr Sichartf) hat das Ergebnis seiner langjährigen Erfahrungen dahin zusammen¬ gefaßt, „daß die Vollstreckung kurzer Strafen, insbesondre gegen die Anfänger im Diebeshandwerk, gegenwärtig nachteiliger wirke als gänzliche Straflosigkeit." v. Arnim, Bruchstücke über Verbrechen und Strafe», Berlin 1801. **) Blätter für Gefängniskunde, Jahrg. 1883, S. 216. »**) Sichart, RückMigkeit der Verbrecher, Heidelberg 1881, S. 63. -f) Sichart, a. a. O. S. 42.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/332>, abgerufen am 28.08.2024.