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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Wenn es irgendein Gebiet menschlicher Forschung giebt, wo Theorie und
Praxis Hand in Hand gehen müssen und wo die Einseitigkeit des Stand-
Punktes von den übelsten Folgen begleitet sein kann, so ist es sicherlich das
Gebiet der Strafrechtspflege, Es ist eben ein andres um eine Wissenschaft, die,
den Tagesströmungen entrückt, in der Studirstube des Gelehrten auf dem Wege
der Spekulation entsteht und weiter ausgebildet wird, und ein andres um eine
Wissenschaft, die, wie die Rechtswissenschaft und ganz besonders die Strafrechts¬
wissenschaft, ans dem Leben hervorgegangen und für die Bedürfnisse des Lebens
bestimmt, nur in inniger Anlehnung an dasselbe und in genauer Beobachtung
der Erscheinungen desselben Inhalt und Richtschnur finden soll. Namentlich
dann, wenn eS sich darum handelt, die Brauchbarkeit eines längere Zeit be¬
stehenden Gesetzes zu beurteilen, verdient die Stimme des Praktikers, der die
Wirkungen desselben wahrzunehmen Gelegenheit hatte, das aufmerksamste Gehör.

Was nun die Wirksamkeit der modernen Strafgesetzgebung und insbesondre
des deutschen Strafgesetzbuches anlangt, so läßt sich nicht leugnen, daß manche
Thatsachen vorliege", welche in dem um den Bestand und die ruhige Fortent¬
wicklung der Gesellschaft besorgten Beobachter menschlicher Zustände Zweifel
darüber zu erwecken geeignet sind, ob der eingeschlagne Weg auch der richtige
sei und ob er zum Wohle der Menschheit und des Staatswesens weiter verfolgt
werden dürfe.

Unter diesen Thatsachen sind es vornehmlich zlvei, auf die sich die Gegner
des jetzigen Strafsystems stützen und denen eine schwerwiegende Bedeutung
sicherlich nicht abzusprechen ist, nämlich das unausgesetzte Anwachsen der Zahl
der Sträflinge überhaupt und der erschreckend große Prozentsatz von Rückfälligen
unter ihnen.

Bezüglich des ersten Punktes sei beispielsweise hervorgehoben, daß in
Preußen die durchschnittliche Tagesbelegschaft der Gcfaugenanstalten auf rund
6200V Köpfe angewachsen ist, ohne die große, nicht festgestellte Zahl der Polizei¬
gefangnen. Hiernach kommt ein Gefangner auf 440 Einwohner, während sich
dies Verhältnis noch im Jahre 1826 wie 1 zu 2396 und im Jahre 1798 wie
1 zu 3671 stellte.

Was die Anzahl der Rückfälligen betrifft, so befanden sich von den im
Etatsjahr 1882/83 gewesenen 31616 Zuchthanssträflingen 23 950 oder 75,97
Prozent im Rückfall, und zwar waren schon vorher bestraft:

einmal......... 4273 Personen,
zweimal........ 3909 "
dreimal........ 3S70
viermal ........ 2893
fünfmal........ 2391
sechsmal und öfter..... 6909 " *)


Statistik des preußischen Ministeriums des Innern 1882/83, S, 51.

Wenn es irgendein Gebiet menschlicher Forschung giebt, wo Theorie und
Praxis Hand in Hand gehen müssen und wo die Einseitigkeit des Stand-
Punktes von den übelsten Folgen begleitet sein kann, so ist es sicherlich das
Gebiet der Strafrechtspflege, Es ist eben ein andres um eine Wissenschaft, die,
den Tagesströmungen entrückt, in der Studirstube des Gelehrten auf dem Wege
der Spekulation entsteht und weiter ausgebildet wird, und ein andres um eine
Wissenschaft, die, wie die Rechtswissenschaft und ganz besonders die Strafrechts¬
wissenschaft, ans dem Leben hervorgegangen und für die Bedürfnisse des Lebens
bestimmt, nur in inniger Anlehnung an dasselbe und in genauer Beobachtung
der Erscheinungen desselben Inhalt und Richtschnur finden soll. Namentlich
dann, wenn eS sich darum handelt, die Brauchbarkeit eines längere Zeit be¬
stehenden Gesetzes zu beurteilen, verdient die Stimme des Praktikers, der die
Wirkungen desselben wahrzunehmen Gelegenheit hatte, das aufmerksamste Gehör.

Was nun die Wirksamkeit der modernen Strafgesetzgebung und insbesondre
des deutschen Strafgesetzbuches anlangt, so läßt sich nicht leugnen, daß manche
Thatsachen vorliege», welche in dem um den Bestand und die ruhige Fortent¬
wicklung der Gesellschaft besorgten Beobachter menschlicher Zustände Zweifel
darüber zu erwecken geeignet sind, ob der eingeschlagne Weg auch der richtige
sei und ob er zum Wohle der Menschheit und des Staatswesens weiter verfolgt
werden dürfe.

Unter diesen Thatsachen sind es vornehmlich zlvei, auf die sich die Gegner
des jetzigen Strafsystems stützen und denen eine schwerwiegende Bedeutung
sicherlich nicht abzusprechen ist, nämlich das unausgesetzte Anwachsen der Zahl
der Sträflinge überhaupt und der erschreckend große Prozentsatz von Rückfälligen
unter ihnen.

Bezüglich des ersten Punktes sei beispielsweise hervorgehoben, daß in
Preußen die durchschnittliche Tagesbelegschaft der Gcfaugenanstalten auf rund
6200V Köpfe angewachsen ist, ohne die große, nicht festgestellte Zahl der Polizei¬
gefangnen. Hiernach kommt ein Gefangner auf 440 Einwohner, während sich
dies Verhältnis noch im Jahre 1826 wie 1 zu 2396 und im Jahre 1798 wie
1 zu 3671 stellte.

Was die Anzahl der Rückfälligen betrifft, so befanden sich von den im
Etatsjahr 1882/83 gewesenen 31616 Zuchthanssträflingen 23 950 oder 75,97
Prozent im Rückfall, und zwar waren schon vorher bestraft:

einmal......... 4273 Personen,
zweimal........ 3909 „
dreimal........ 3S70
viermal ........ 2893
fünfmal........ 2391
sechsmal und öfter..... 6909 „ *)


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[0331] Wenn es irgendein Gebiet menschlicher Forschung giebt, wo Theorie und Praxis Hand in Hand gehen müssen und wo die Einseitigkeit des Stand- Punktes von den übelsten Folgen begleitet sein kann, so ist es sicherlich das Gebiet der Strafrechtspflege, Es ist eben ein andres um eine Wissenschaft, die, den Tagesströmungen entrückt, in der Studirstube des Gelehrten auf dem Wege der Spekulation entsteht und weiter ausgebildet wird, und ein andres um eine Wissenschaft, die, wie die Rechtswissenschaft und ganz besonders die Strafrechts¬ wissenschaft, ans dem Leben hervorgegangen und für die Bedürfnisse des Lebens bestimmt, nur in inniger Anlehnung an dasselbe und in genauer Beobachtung der Erscheinungen desselben Inhalt und Richtschnur finden soll. Namentlich dann, wenn eS sich darum handelt, die Brauchbarkeit eines längere Zeit be¬ stehenden Gesetzes zu beurteilen, verdient die Stimme des Praktikers, der die Wirkungen desselben wahrzunehmen Gelegenheit hatte, das aufmerksamste Gehör. Was nun die Wirksamkeit der modernen Strafgesetzgebung und insbesondre des deutschen Strafgesetzbuches anlangt, so läßt sich nicht leugnen, daß manche Thatsachen vorliege», welche in dem um den Bestand und die ruhige Fortent¬ wicklung der Gesellschaft besorgten Beobachter menschlicher Zustände Zweifel darüber zu erwecken geeignet sind, ob der eingeschlagne Weg auch der richtige sei und ob er zum Wohle der Menschheit und des Staatswesens weiter verfolgt werden dürfe. Unter diesen Thatsachen sind es vornehmlich zlvei, auf die sich die Gegner des jetzigen Strafsystems stützen und denen eine schwerwiegende Bedeutung sicherlich nicht abzusprechen ist, nämlich das unausgesetzte Anwachsen der Zahl der Sträflinge überhaupt und der erschreckend große Prozentsatz von Rückfälligen unter ihnen. Bezüglich des ersten Punktes sei beispielsweise hervorgehoben, daß in Preußen die durchschnittliche Tagesbelegschaft der Gcfaugenanstalten auf rund 6200V Köpfe angewachsen ist, ohne die große, nicht festgestellte Zahl der Polizei¬ gefangnen. Hiernach kommt ein Gefangner auf 440 Einwohner, während sich dies Verhältnis noch im Jahre 1826 wie 1 zu 2396 und im Jahre 1798 wie 1 zu 3671 stellte. Was die Anzahl der Rückfälligen betrifft, so befanden sich von den im Etatsjahr 1882/83 gewesenen 31616 Zuchthanssträflingen 23 950 oder 75,97 Prozent im Rückfall, und zwar waren schon vorher bestraft: einmal......... 4273 Personen, zweimal........ 3909 „ dreimal........ 3S70 viermal ........ 2893 fünfmal........ 2391 sechsmal und öfter..... 6909 „ *) Statistik des preußischen Ministeriums des Innern 1882/83, S, 51.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/331>, abgerufen am 28.08.2024.