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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Zur Kritik des deutschen Strafsysteins.

Nachdem nun die Verbrecher zum größten Teile diese Verschlechterungs¬
anstalten durchlaufen haben, kommen sie in die zur Vollstreckung längerer
Strafen bestimmten, unter Aufwendung maßloser Kosten errichteten Anstalten,
um daselbst gebessert zu werden! "Was, so fragt Schmölder, wird mit diesen
Vesserungsbestrebnngen bei der Mehrzahl der Gefangnen erreicht? Wir ant¬
worten: Nichts andres als eine Umwandlung der Strafe in eine Wohlthat, sowie
eine Beförderung der Heuchelei und Selbstüberhebung, also eine weitere moralische
Verschlechterung der Gefangne"."

Der Sträflingsarbeit, die als einziges positives Übel der Freiheitsstrafe
verblieben ist, wurde durch die Strafvollziehung der Charakter eines solchen
geraubt und der Charakter der freien Arbeit verliehen. Die Lage des Gefangnen
stellt sich erheblich günstiger als die des freien Arbeiters, sodaß Gefängnisdirektvr
Strosser in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 30. November
1.882 erklären konnte: "Die Arbeit des Gefangnen erreicht selten an Anstrengung das,
was der freie Arbeiter leisten muß, er verdient auch nicht einmal soviel, als seine
Verpflegnngskosten betragen, welche die ehrlichen Leute im Lande ihrerseits be¬
zahlen müssen. Und doch giebt man ihm von diesem seinen Unterhalt nicht
deckenden Verdienst eine Prämie. Er soll die Anstalt verlassen mit einem
Überverdienst von sechzig, achtzig, hundert Thalern, d. h. mit einem Kapital,
welches der ehrliche Arbeiter fast nie sein eigen nennen kann."

Aber nicht genug damit, sollen in der Strafanstalt auch die Fähigkeiten
des Gefangnen erweitert werden. Hat er als Handwerker die Zeit der Freiheit
nutzlos verbracht, so sollen hier die Lücken seiner Bildung ausgefüllt werden;
fehlt es ihm an Elementarkenntnissen, hier, in den Gefängnisschnlen, werden sie
ihm geboten.

Kann man da jener armen französischen Mutter so Unrecht geben, wenn
sie in den Stoßseufzer ausbrach: ^.it, eins hö präsM Meor nroir eilf ü,
NeUra,^, in-iis v'oft inrvoL8it)I<z, it u'g. ni volo, ni insruliv, ni msnrtrL.
Und nicht minder begreiflich erscheint die Äußerung eines oft bestraften Ver¬
brechers, welcher bei der Entlassung dem Oberinspektor Wolfs in cynischer
Weise zurief: "Die Eltern sind recht einfältig, welche ihre Kinder in die Lehre
geben und sich große Kosten machen; sie sollen dieselben stehlen und ins Zucht¬
haus sperren lassen, dort lernt man alles mögliche; ich bin Glaser, Tischler,
Schlosser, Klempner, Schmied, Schuhmacher und Korbmacher und habe jede
Arbeit zur Zufriedenheit geliefert.*)

Aber in den Zuchthäusern wird auch Selbstüberhebung und Heuchelei ge¬
nährt; erstere besonders bei längerer Anwendung der Jsolirhaft. "Dort
schlummern die Leidenschaften und schlechten Gewohnheiten des Gefangnen.
Wie der Gefangne der Verwaltung unbekannt bleibt, so bleibt er sich selbst un-



Blätter für Gchingniskuudo, Jahrg. 1374, S. 491.
Zur Kritik des deutschen Strafsysteins.

Nachdem nun die Verbrecher zum größten Teile diese Verschlechterungs¬
anstalten durchlaufen haben, kommen sie in die zur Vollstreckung längerer
Strafen bestimmten, unter Aufwendung maßloser Kosten errichteten Anstalten,
um daselbst gebessert zu werden! „Was, so fragt Schmölder, wird mit diesen
Vesserungsbestrebnngen bei der Mehrzahl der Gefangnen erreicht? Wir ant¬
worten: Nichts andres als eine Umwandlung der Strafe in eine Wohlthat, sowie
eine Beförderung der Heuchelei und Selbstüberhebung, also eine weitere moralische
Verschlechterung der Gefangne»."

Der Sträflingsarbeit, die als einziges positives Übel der Freiheitsstrafe
verblieben ist, wurde durch die Strafvollziehung der Charakter eines solchen
geraubt und der Charakter der freien Arbeit verliehen. Die Lage des Gefangnen
stellt sich erheblich günstiger als die des freien Arbeiters, sodaß Gefängnisdirektvr
Strosser in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 30. November
1.882 erklären konnte: „Die Arbeit des Gefangnen erreicht selten an Anstrengung das,
was der freie Arbeiter leisten muß, er verdient auch nicht einmal soviel, als seine
Verpflegnngskosten betragen, welche die ehrlichen Leute im Lande ihrerseits be¬
zahlen müssen. Und doch giebt man ihm von diesem seinen Unterhalt nicht
deckenden Verdienst eine Prämie. Er soll die Anstalt verlassen mit einem
Überverdienst von sechzig, achtzig, hundert Thalern, d. h. mit einem Kapital,
welches der ehrliche Arbeiter fast nie sein eigen nennen kann."

Aber nicht genug damit, sollen in der Strafanstalt auch die Fähigkeiten
des Gefangnen erweitert werden. Hat er als Handwerker die Zeit der Freiheit
nutzlos verbracht, so sollen hier die Lücken seiner Bildung ausgefüllt werden;
fehlt es ihm an Elementarkenntnissen, hier, in den Gefängnisschnlen, werden sie
ihm geboten.

Kann man da jener armen französischen Mutter so Unrecht geben, wenn
sie in den Stoßseufzer ausbrach: ^.it, eins hö präsM Meor nroir eilf ü,
NeUra,^, in-iis v'oft inrvoL8it)I<z, it u'g. ni volo, ni insruliv, ni msnrtrL.
Und nicht minder begreiflich erscheint die Äußerung eines oft bestraften Ver¬
brechers, welcher bei der Entlassung dem Oberinspektor Wolfs in cynischer
Weise zurief: „Die Eltern sind recht einfältig, welche ihre Kinder in die Lehre
geben und sich große Kosten machen; sie sollen dieselben stehlen und ins Zucht¬
haus sperren lassen, dort lernt man alles mögliche; ich bin Glaser, Tischler,
Schlosser, Klempner, Schmied, Schuhmacher und Korbmacher und habe jede
Arbeit zur Zufriedenheit geliefert.*)

Aber in den Zuchthäusern wird auch Selbstüberhebung und Heuchelei ge¬
nährt; erstere besonders bei längerer Anwendung der Jsolirhaft. „Dort
schlummern die Leidenschaften und schlechten Gewohnheiten des Gefangnen.
Wie der Gefangne der Verwaltung unbekannt bleibt, so bleibt er sich selbst un-



Blätter für Gchingniskuudo, Jahrg. 1374, S. 491.
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[0333] Zur Kritik des deutschen Strafsysteins. Nachdem nun die Verbrecher zum größten Teile diese Verschlechterungs¬ anstalten durchlaufen haben, kommen sie in die zur Vollstreckung längerer Strafen bestimmten, unter Aufwendung maßloser Kosten errichteten Anstalten, um daselbst gebessert zu werden! „Was, so fragt Schmölder, wird mit diesen Vesserungsbestrebnngen bei der Mehrzahl der Gefangnen erreicht? Wir ant¬ worten: Nichts andres als eine Umwandlung der Strafe in eine Wohlthat, sowie eine Beförderung der Heuchelei und Selbstüberhebung, also eine weitere moralische Verschlechterung der Gefangne»." Der Sträflingsarbeit, die als einziges positives Übel der Freiheitsstrafe verblieben ist, wurde durch die Strafvollziehung der Charakter eines solchen geraubt und der Charakter der freien Arbeit verliehen. Die Lage des Gefangnen stellt sich erheblich günstiger als die des freien Arbeiters, sodaß Gefängnisdirektvr Strosser in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 30. November 1.882 erklären konnte: „Die Arbeit des Gefangnen erreicht selten an Anstrengung das, was der freie Arbeiter leisten muß, er verdient auch nicht einmal soviel, als seine Verpflegnngskosten betragen, welche die ehrlichen Leute im Lande ihrerseits be¬ zahlen müssen. Und doch giebt man ihm von diesem seinen Unterhalt nicht deckenden Verdienst eine Prämie. Er soll die Anstalt verlassen mit einem Überverdienst von sechzig, achtzig, hundert Thalern, d. h. mit einem Kapital, welches der ehrliche Arbeiter fast nie sein eigen nennen kann." Aber nicht genug damit, sollen in der Strafanstalt auch die Fähigkeiten des Gefangnen erweitert werden. Hat er als Handwerker die Zeit der Freiheit nutzlos verbracht, so sollen hier die Lücken seiner Bildung ausgefüllt werden; fehlt es ihm an Elementarkenntnissen, hier, in den Gefängnisschnlen, werden sie ihm geboten. Kann man da jener armen französischen Mutter so Unrecht geben, wenn sie in den Stoßseufzer ausbrach: ^.it, eins hö präsM Meor nroir eilf ü, NeUra,^, in-iis v'oft inrvoL8it)I<z, it u'g. ni volo, ni insruliv, ni msnrtrL. Und nicht minder begreiflich erscheint die Äußerung eines oft bestraften Ver¬ brechers, welcher bei der Entlassung dem Oberinspektor Wolfs in cynischer Weise zurief: „Die Eltern sind recht einfältig, welche ihre Kinder in die Lehre geben und sich große Kosten machen; sie sollen dieselben stehlen und ins Zucht¬ haus sperren lassen, dort lernt man alles mögliche; ich bin Glaser, Tischler, Schlosser, Klempner, Schmied, Schuhmacher und Korbmacher und habe jede Arbeit zur Zufriedenheit geliefert.*) Aber in den Zuchthäusern wird auch Selbstüberhebung und Heuchelei ge¬ nährt; erstere besonders bei längerer Anwendung der Jsolirhaft. „Dort schlummern die Leidenschaften und schlechten Gewohnheiten des Gefangnen. Wie der Gefangne der Verwaltung unbekannt bleibt, so bleibt er sich selbst un- Blätter für Gchingniskuudo, Jahrg. 1374, S. 491.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/333>, abgerufen am 28.08.2024.