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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Dnitschland.

Ihr suchtet die Poesie, sie, die allein über die Misere des materiellen Lebens
erheben kann, in der erotischen Leidenschaft. Ist dies eine Zeit zum Tändeln?
Freilich suchtet ihr nicht die Rosen, sondern nur die Dornen -- ihr suchtet im
Schmerz der Liebe das Geheimnis der wahren Liebe. Und der edle Mann,
der eine Gefallene liebt, der hat wahr geliebt." Folgen einige Kraftphrasen
vom Weltgeist, dem droben die unsichtbare Glocke erklingt, vor dem Äonen wie
ein flüchtig Jahr hinflattern im Sturme der Zeit, ,,o Weltgeist, thu dich mächtig
kund mit deiner donnernden allewigen Wahrheit und als Wiederhall deiner
Glocke entsiegle die Lippen wahrer Seher, die einsam und stolz über die klein¬
lichen Leidenschaften der Menschheit dahinschreiten. Das ewig Männliche zieht
uns hinan!" Ob Fritz Erdmann (alias Karl Vleibtreu) unter dem "ewig
Männlichen" die fröhliche Brutalität des neudeutsch hauptstädtischen Lebens
oder den Schlachtenmut versteht, dessen Verherrlichung sich Bleibtreu neben der
Charakteristik der schlechten Gesellschaft angelegen sein läßt, jedenfalls paßt der
pathetisch-prophetische Schluß zu "Raubvögelchen" und den vorangegangnen Ge¬
schichten wie ein Kirchenlied ins Bordell! Und wenn wir das so anspruchsvoll
als unerfreulich auftretende Buch im ganzen noch einmal mustern, so müssen
wir sagen, daß der Eindruck vor allem derjenige einer knabenhaften Unreife ist.
Da der Verfasser versichert, hochmvrcilische Tendenzen zu hegen, und die Bru¬
talität der Darstellung die Wirkungen der sinnlichen Szenen völlig aufhebt, so
bedarf es keiner Warnung vor dieser "Schlechten Gesellschaft" - sie verbreitet
einen Duft um sich, der ohnehin jeden Menschen zurückschreckt, welcher die
"heuchlerische" Neigung hat, etwas reinere Luft zu atmen.

Doch ist das alles unwesentlich der einen Hauptfrage gegenüber, die zwischen
uns und den Naturalisten zu schlichten bleibt. Ist das, was sie geben, was
sie mit Vorliebe und Ausschließlichkeit darstellen, in der That die Wahrheit,
die volle Wahrheit, ist es die Quintessenz und der Hauptinhalt des modernen
Lebens, bietet das ganze Deutschland dieses Jahrzehnts dem Dichter keine
andern Menschen, keine andern Bestrebungen und Empfindungen mehr, als die
im Eingangsartikel charakterisirten? Muß der Darsteller, der nicht lügen, nicht
akademisch das längst Dargestellte wiederholen, aus den Tiefen des echten
Lebens schöpfen will, gerade diese und nur diese Szenen und Gestalten wieder¬
geben, die ganze Mannichfaltigkeit unsers Kulturdaseins nur Schein nennen und
die schmutzige Eintönigkeit der naturalistischen Charakteristik und Schilderung
allein Wirklichkeit? Uns dünkt, anch wer mit dem schärfsten und zugleich mit
dem sorgenvollsten Blicke in die moderne Welt hineinsieht, wer jeder optimistischen
Täuschung und selbst dem holde" Leichtsinne fremd, der ein rechtmäßiges Erbteil
des Dichters wie des poetisch Genießenden ist, sein Gesamtbild des Lebens mit
dem Bilde in diesen und verwandten "realistischen" Novellen vergleicht, kann
über die Antwort nicht einen Augenblick im Zweifel sein. Es ist entweder eine
völlige Nichtkenntnis des Lebens, eine Armseligkeit des Auffassungsvermögens


Die naturalistische Schule in Dnitschland.

Ihr suchtet die Poesie, sie, die allein über die Misere des materiellen Lebens
erheben kann, in der erotischen Leidenschaft. Ist dies eine Zeit zum Tändeln?
Freilich suchtet ihr nicht die Rosen, sondern nur die Dornen — ihr suchtet im
Schmerz der Liebe das Geheimnis der wahren Liebe. Und der edle Mann,
der eine Gefallene liebt, der hat wahr geliebt." Folgen einige Kraftphrasen
vom Weltgeist, dem droben die unsichtbare Glocke erklingt, vor dem Äonen wie
ein flüchtig Jahr hinflattern im Sturme der Zeit, ,,o Weltgeist, thu dich mächtig
kund mit deiner donnernden allewigen Wahrheit und als Wiederhall deiner
Glocke entsiegle die Lippen wahrer Seher, die einsam und stolz über die klein¬
lichen Leidenschaften der Menschheit dahinschreiten. Das ewig Männliche zieht
uns hinan!" Ob Fritz Erdmann (alias Karl Vleibtreu) unter dem „ewig
Männlichen" die fröhliche Brutalität des neudeutsch hauptstädtischen Lebens
oder den Schlachtenmut versteht, dessen Verherrlichung sich Bleibtreu neben der
Charakteristik der schlechten Gesellschaft angelegen sein läßt, jedenfalls paßt der
pathetisch-prophetische Schluß zu „Raubvögelchen" und den vorangegangnen Ge¬
schichten wie ein Kirchenlied ins Bordell! Und wenn wir das so anspruchsvoll
als unerfreulich auftretende Buch im ganzen noch einmal mustern, so müssen
wir sagen, daß der Eindruck vor allem derjenige einer knabenhaften Unreife ist.
Da der Verfasser versichert, hochmvrcilische Tendenzen zu hegen, und die Bru¬
talität der Darstellung die Wirkungen der sinnlichen Szenen völlig aufhebt, so
bedarf es keiner Warnung vor dieser „Schlechten Gesellschaft" - sie verbreitet
einen Duft um sich, der ohnehin jeden Menschen zurückschreckt, welcher die
„heuchlerische" Neigung hat, etwas reinere Luft zu atmen.

Doch ist das alles unwesentlich der einen Hauptfrage gegenüber, die zwischen
uns und den Naturalisten zu schlichten bleibt. Ist das, was sie geben, was
sie mit Vorliebe und Ausschließlichkeit darstellen, in der That die Wahrheit,
die volle Wahrheit, ist es die Quintessenz und der Hauptinhalt des modernen
Lebens, bietet das ganze Deutschland dieses Jahrzehnts dem Dichter keine
andern Menschen, keine andern Bestrebungen und Empfindungen mehr, als die
im Eingangsartikel charakterisirten? Muß der Darsteller, der nicht lügen, nicht
akademisch das längst Dargestellte wiederholen, aus den Tiefen des echten
Lebens schöpfen will, gerade diese und nur diese Szenen und Gestalten wieder¬
geben, die ganze Mannichfaltigkeit unsers Kulturdaseins nur Schein nennen und
die schmutzige Eintönigkeit der naturalistischen Charakteristik und Schilderung
allein Wirklichkeit? Uns dünkt, anch wer mit dem schärfsten und zugleich mit
dem sorgenvollsten Blicke in die moderne Welt hineinsieht, wer jeder optimistischen
Täuschung und selbst dem holde» Leichtsinne fremd, der ein rechtmäßiges Erbteil
des Dichters wie des poetisch Genießenden ist, sein Gesamtbild des Lebens mit
dem Bilde in diesen und verwandten „realistischen" Novellen vergleicht, kann
über die Antwort nicht einen Augenblick im Zweifel sein. Es ist entweder eine
völlige Nichtkenntnis des Lebens, eine Armseligkeit des Auffassungsvermögens


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[0326] Die naturalistische Schule in Dnitschland. Ihr suchtet die Poesie, sie, die allein über die Misere des materiellen Lebens erheben kann, in der erotischen Leidenschaft. Ist dies eine Zeit zum Tändeln? Freilich suchtet ihr nicht die Rosen, sondern nur die Dornen — ihr suchtet im Schmerz der Liebe das Geheimnis der wahren Liebe. Und der edle Mann, der eine Gefallene liebt, der hat wahr geliebt." Folgen einige Kraftphrasen vom Weltgeist, dem droben die unsichtbare Glocke erklingt, vor dem Äonen wie ein flüchtig Jahr hinflattern im Sturme der Zeit, ,,o Weltgeist, thu dich mächtig kund mit deiner donnernden allewigen Wahrheit und als Wiederhall deiner Glocke entsiegle die Lippen wahrer Seher, die einsam und stolz über die klein¬ lichen Leidenschaften der Menschheit dahinschreiten. Das ewig Männliche zieht uns hinan!" Ob Fritz Erdmann (alias Karl Vleibtreu) unter dem „ewig Männlichen" die fröhliche Brutalität des neudeutsch hauptstädtischen Lebens oder den Schlachtenmut versteht, dessen Verherrlichung sich Bleibtreu neben der Charakteristik der schlechten Gesellschaft angelegen sein läßt, jedenfalls paßt der pathetisch-prophetische Schluß zu „Raubvögelchen" und den vorangegangnen Ge¬ schichten wie ein Kirchenlied ins Bordell! Und wenn wir das so anspruchsvoll als unerfreulich auftretende Buch im ganzen noch einmal mustern, so müssen wir sagen, daß der Eindruck vor allem derjenige einer knabenhaften Unreife ist. Da der Verfasser versichert, hochmvrcilische Tendenzen zu hegen, und die Bru¬ talität der Darstellung die Wirkungen der sinnlichen Szenen völlig aufhebt, so bedarf es keiner Warnung vor dieser „Schlechten Gesellschaft" - sie verbreitet einen Duft um sich, der ohnehin jeden Menschen zurückschreckt, welcher die „heuchlerische" Neigung hat, etwas reinere Luft zu atmen. Doch ist das alles unwesentlich der einen Hauptfrage gegenüber, die zwischen uns und den Naturalisten zu schlichten bleibt. Ist das, was sie geben, was sie mit Vorliebe und Ausschließlichkeit darstellen, in der That die Wahrheit, die volle Wahrheit, ist es die Quintessenz und der Hauptinhalt des modernen Lebens, bietet das ganze Deutschland dieses Jahrzehnts dem Dichter keine andern Menschen, keine andern Bestrebungen und Empfindungen mehr, als die im Eingangsartikel charakterisirten? Muß der Darsteller, der nicht lügen, nicht akademisch das längst Dargestellte wiederholen, aus den Tiefen des echten Lebens schöpfen will, gerade diese und nur diese Szenen und Gestalten wieder¬ geben, die ganze Mannichfaltigkeit unsers Kulturdaseins nur Schein nennen und die schmutzige Eintönigkeit der naturalistischen Charakteristik und Schilderung allein Wirklichkeit? Uns dünkt, anch wer mit dem schärfsten und zugleich mit dem sorgenvollsten Blicke in die moderne Welt hineinsieht, wer jeder optimistischen Täuschung und selbst dem holde» Leichtsinne fremd, der ein rechtmäßiges Erbteil des Dichters wie des poetisch Genießenden ist, sein Gesamtbild des Lebens mit dem Bilde in diesen und verwandten „realistischen" Novellen vergleicht, kann über die Antwort nicht einen Augenblick im Zweifel sein. Es ist entweder eine völlige Nichtkenntnis des Lebens, eine Armseligkeit des Auffassungsvermögens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/326>, abgerufen am 29.08.2024.