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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

und der nachschaffenden Phantasie, eine Unfähigkeit, die tüchtigen und reinen
Naturen zu erkennen und von der Durchschnittsmasse zu unterscheiden -- oder
es ist einfach ein literarisches Raffinement, eine der Gier nach dem vermeintlich
"Neuen" entstammte Einseitigkeit, welche diese widerwärtigen Darstellungen hervor¬
bringen. Was soll die Berufung auf Natur und Leben, wenn sich überall die
Unempfänglichkeit für die Fülle der Erscheinungen, der Stumpfsinn gegen die
unendliche Mannichfaltigkeit der Mischung des Physischen und Psychischen, die
Vlasirtheit gegen die vornehmere und feinere Individualität (wir bedürfen wohl
keiner Versicherung, daß wir damit etwas völlig andres im Auge haben als das,
was man im gesellschaftlichen Alltagsjargon vornehm und fein nennt) die Lust am
Lärm geltend machen und die Wiedergabe der Natur anf einen kleinen und zwar
den unerfreulichen Teil dessen beschränken, was dein Dichter anch in der Gegenwart
und trotz der Gegenwart zu Gebote steht! Weder Bleibtreu noch einer seiner
jungen Genossen von der naturalistischen Schule haben bisher ein besondres
Recht, sich auf die Größe, Treue oder Tiefe ihrer Naturbeobachtung zu berufen,
die Wirklichkeit ist überall reicher, vielseitiger und bei aller Brutalität doch
minder brutal als sie.

Bleibtreus Schlachtbilder werden von ihm selbst als moderne Epen be¬
zeichnet. Ganz gewiß sind sie erfreulicher als seine Novellen ans dem neu-
deutschen Leben, aber ebenso gewiß keine Leistungen, auf welche sich der An¬
spruch gründen läßt, die deutsche Literatur um eine neue und ergiebige Gattung
bereichert zu haben. Denn auch das mäßigste Darstellungstalent würde im¬
stande sein, mit Hilfe einiger Studien, Schilderungen der Art wie Bleib¬
treus "Leipzig" und "Waterloo" zu entwerfen. Der Dichter hat vor dem
Maler den Vorteil voraus, die verschiednen wichtigen Augenblicke einer
Schlacht in ihrer Folge schildern zu können. Er kämpft mit dem Nachteil,
daß die erdrückende Masse der Äußerlichkeiten, welche in einer realistischen
und naturgetreuen Schlachtschilderung kaum fehlen darf, seiner eigentlichen
Aufgabe fortwährend im Wege ist und sich schwerlastend an die vorwärts
drängende Handlung anhängt. Unverkennbar empfindet Bleibtreu in seinen
Schlachterzählungen alle diese Hemmnisse, zu welchen sich bei ihm noch
zwei andre gesellen, die der Erreichung seines Zieles nicht minder hinderlich
sind. Die Verwandlung seiner Studien in lebendige Anschauung gelingt ihm
keineswegs vollständig, an die Stelle der zwingenden, fortreißenden Darstellung
tritt nur allzuoft die Lescfrucht. Auch die unbesiegbare Neigung Bleibtreus,
in dröhnenden Worten seine subjektive Meinung über Menschen und Dinge, über
Napoleons Strategie, das europäische Gleichgewicht und die Politik der Zukunft
kundzugeben, ist der Unmittelbarkeit der Wirkung nicht förderlich. Ein paar
Beispiele mögen zum Beleg des Gesagten genügen. Wenn in der Schilderung
der Schlacht von Leipzig wörtlich zu lesen steht: "Diese Verschiedenheit prägte
sich nur in der bunt gemischten wechselnden Farbe aus, durch welche die sonst


Die naturalistische Schule in Deutschland.

und der nachschaffenden Phantasie, eine Unfähigkeit, die tüchtigen und reinen
Naturen zu erkennen und von der Durchschnittsmasse zu unterscheiden — oder
es ist einfach ein literarisches Raffinement, eine der Gier nach dem vermeintlich
„Neuen" entstammte Einseitigkeit, welche diese widerwärtigen Darstellungen hervor¬
bringen. Was soll die Berufung auf Natur und Leben, wenn sich überall die
Unempfänglichkeit für die Fülle der Erscheinungen, der Stumpfsinn gegen die
unendliche Mannichfaltigkeit der Mischung des Physischen und Psychischen, die
Vlasirtheit gegen die vornehmere und feinere Individualität (wir bedürfen wohl
keiner Versicherung, daß wir damit etwas völlig andres im Auge haben als das,
was man im gesellschaftlichen Alltagsjargon vornehm und fein nennt) die Lust am
Lärm geltend machen und die Wiedergabe der Natur anf einen kleinen und zwar
den unerfreulichen Teil dessen beschränken, was dein Dichter anch in der Gegenwart
und trotz der Gegenwart zu Gebote steht! Weder Bleibtreu noch einer seiner
jungen Genossen von der naturalistischen Schule haben bisher ein besondres
Recht, sich auf die Größe, Treue oder Tiefe ihrer Naturbeobachtung zu berufen,
die Wirklichkeit ist überall reicher, vielseitiger und bei aller Brutalität doch
minder brutal als sie.

Bleibtreus Schlachtbilder werden von ihm selbst als moderne Epen be¬
zeichnet. Ganz gewiß sind sie erfreulicher als seine Novellen ans dem neu-
deutschen Leben, aber ebenso gewiß keine Leistungen, auf welche sich der An¬
spruch gründen läßt, die deutsche Literatur um eine neue und ergiebige Gattung
bereichert zu haben. Denn auch das mäßigste Darstellungstalent würde im¬
stande sein, mit Hilfe einiger Studien, Schilderungen der Art wie Bleib¬
treus „Leipzig" und „Waterloo" zu entwerfen. Der Dichter hat vor dem
Maler den Vorteil voraus, die verschiednen wichtigen Augenblicke einer
Schlacht in ihrer Folge schildern zu können. Er kämpft mit dem Nachteil,
daß die erdrückende Masse der Äußerlichkeiten, welche in einer realistischen
und naturgetreuen Schlachtschilderung kaum fehlen darf, seiner eigentlichen
Aufgabe fortwährend im Wege ist und sich schwerlastend an die vorwärts
drängende Handlung anhängt. Unverkennbar empfindet Bleibtreu in seinen
Schlachterzählungen alle diese Hemmnisse, zu welchen sich bei ihm noch
zwei andre gesellen, die der Erreichung seines Zieles nicht minder hinderlich
sind. Die Verwandlung seiner Studien in lebendige Anschauung gelingt ihm
keineswegs vollständig, an die Stelle der zwingenden, fortreißenden Darstellung
tritt nur allzuoft die Lescfrucht. Auch die unbesiegbare Neigung Bleibtreus,
in dröhnenden Worten seine subjektive Meinung über Menschen und Dinge, über
Napoleons Strategie, das europäische Gleichgewicht und die Politik der Zukunft
kundzugeben, ist der Unmittelbarkeit der Wirkung nicht förderlich. Ein paar
Beispiele mögen zum Beleg des Gesagten genügen. Wenn in der Schilderung
der Schlacht von Leipzig wörtlich zu lesen steht: „Diese Verschiedenheit prägte
sich nur in der bunt gemischten wechselnden Farbe aus, durch welche die sonst


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[0327] Die naturalistische Schule in Deutschland. und der nachschaffenden Phantasie, eine Unfähigkeit, die tüchtigen und reinen Naturen zu erkennen und von der Durchschnittsmasse zu unterscheiden — oder es ist einfach ein literarisches Raffinement, eine der Gier nach dem vermeintlich „Neuen" entstammte Einseitigkeit, welche diese widerwärtigen Darstellungen hervor¬ bringen. Was soll die Berufung auf Natur und Leben, wenn sich überall die Unempfänglichkeit für die Fülle der Erscheinungen, der Stumpfsinn gegen die unendliche Mannichfaltigkeit der Mischung des Physischen und Psychischen, die Vlasirtheit gegen die vornehmere und feinere Individualität (wir bedürfen wohl keiner Versicherung, daß wir damit etwas völlig andres im Auge haben als das, was man im gesellschaftlichen Alltagsjargon vornehm und fein nennt) die Lust am Lärm geltend machen und die Wiedergabe der Natur anf einen kleinen und zwar den unerfreulichen Teil dessen beschränken, was dein Dichter anch in der Gegenwart und trotz der Gegenwart zu Gebote steht! Weder Bleibtreu noch einer seiner jungen Genossen von der naturalistischen Schule haben bisher ein besondres Recht, sich auf die Größe, Treue oder Tiefe ihrer Naturbeobachtung zu berufen, die Wirklichkeit ist überall reicher, vielseitiger und bei aller Brutalität doch minder brutal als sie. Bleibtreus Schlachtbilder werden von ihm selbst als moderne Epen be¬ zeichnet. Ganz gewiß sind sie erfreulicher als seine Novellen ans dem neu- deutschen Leben, aber ebenso gewiß keine Leistungen, auf welche sich der An¬ spruch gründen läßt, die deutsche Literatur um eine neue und ergiebige Gattung bereichert zu haben. Denn auch das mäßigste Darstellungstalent würde im¬ stande sein, mit Hilfe einiger Studien, Schilderungen der Art wie Bleib¬ treus „Leipzig" und „Waterloo" zu entwerfen. Der Dichter hat vor dem Maler den Vorteil voraus, die verschiednen wichtigen Augenblicke einer Schlacht in ihrer Folge schildern zu können. Er kämpft mit dem Nachteil, daß die erdrückende Masse der Äußerlichkeiten, welche in einer realistischen und naturgetreuen Schlachtschilderung kaum fehlen darf, seiner eigentlichen Aufgabe fortwährend im Wege ist und sich schwerlastend an die vorwärts drängende Handlung anhängt. Unverkennbar empfindet Bleibtreu in seinen Schlachterzählungen alle diese Hemmnisse, zu welchen sich bei ihm noch zwei andre gesellen, die der Erreichung seines Zieles nicht minder hinderlich sind. Die Verwandlung seiner Studien in lebendige Anschauung gelingt ihm keineswegs vollständig, an die Stelle der zwingenden, fortreißenden Darstellung tritt nur allzuoft die Lescfrucht. Auch die unbesiegbare Neigung Bleibtreus, in dröhnenden Worten seine subjektive Meinung über Menschen und Dinge, über Napoleons Strategie, das europäische Gleichgewicht und die Politik der Zukunft kundzugeben, ist der Unmittelbarkeit der Wirkung nicht förderlich. Ein paar Beispiele mögen zum Beleg des Gesagten genügen. Wenn in der Schilderung der Schlacht von Leipzig wörtlich zu lesen steht: „Diese Verschiedenheit prägte sich nur in der bunt gemischten wechselnden Farbe aus, durch welche die sonst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/327>, abgerufen am 29.08.2024.